Ist Demenz Bewusstsein oder Krankheit?
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Was ist Demenz?

Ist Demenz ein Bewusstseinszustand?

Sonnenuntergang

Ist eine Demenz am Ende ein »Einschlafen der Seele«? Bild Strikers Pexels

In der öffentlichen Diskussion über Demenz fällt gelegentlich der Satz, dass wir alle »dement werden«, wenn wir nur alt genug sind. Aus meiner Perspektive ist Demenz keine Frage des Alters, sondern eine Frage des Bewusstseins. Sie ist die Folge eines Prozesses, in dem das Ich sich immer weiter auflöst. Doch ist diese Auflösung des Ich ein pathologischer Zustand? Oder ist die Auflösung des Ich und die damit verbundene Erfahrung von »Leere« ein normaler, aber oft nicht verstandener natürlicher Bestandteil des Alterns?

Von Bettina Wichers*

Lange habe ich als Dozentin in Altenpflegeschulen und Pflegeheimen gelehrt, dass Demenz ein ungeklärtes körperliches Geschehen sei, das Auswirkungen auf Erleben und Verhalten hat. Zugleich habe ich aber immer nach anderen Perspektiven auf dieses Geschehen geforscht. Inzwischen gehe ich davon aus, dass wir Demenz besser verstehen können, wenn wir sie jenseits der körperlichen Erfahrung bzw. des Geschehens im Gehirn betrachten. Ich nenne das »Demenz-Transzendenz«, denn Transzendenz bedeutet: die bisherigen Perspektiven übersteigen. Und so geht es mir darum, die Grenzen unseres bisherigen Denkens zu Demenz zu transzendieren, um Demenz zu verstehen.

Ich schlage eine Perspektive vor, die Demenz als Folge eines im Grunde normalen Aspektes des Alterungsprozesses zu verstehen: Je älter wir werden, umso häufiger können wir kurze Momente von Vergesslichkeit oder auch längere Zustände von Desorientierung sowie Phasen von einer Leere der Gedanken erleben. Kennen Sie das vielleicht sogar selbst, diese kurzen Momente, wo »nichts« ist, die einen Moment lang erschrecken, und die dann schnell überspielt werden?

Bettina Wichers
Bettina Wichers.Bild zvg

Die Ursache dieser Desorientierung wäre dann nicht körperlicher Natur, sondern Folge  einer zunehmenden »natürlichen Desorientierung« im eigenen Sein: Je älter wir werden, umso mehr löst sich unsere festgefügte Vorstellung von einem Ich, von unserem eigenen Selbst auf. Das ist insofern natürlich, weil es spätestens im letzten Moment unseres Lebens sowieso geschehen wird: Am Ende muss das Ich seiner eigenen Auflösung, seinem eigenen Tod zustimmen.

In meiner Praxis als Fallsupervisorin in der gerontopsychiatrischen Pflege habe ich immer wieder etwas im Bewusstsein von Menschen mit fortgeschrittener Demenz wahrgenommen, was ich die »unbewusste Leere« nenne: Menschen, die still in sich versunken sitzen und in denen ich „nichts“ wahrnehmen konnte, was sich aber nicht negativ anfühlte – nur eben »leer«.

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Es waren Momente leer von Gedanken, leer von Erinnerungen, leer von Wünschen und Antrieben. Wenn nun zunehmende Verlangsamung und Rückzug mit Momenten der Leere zusammenfallen, dann kann sich das unangenehm oder auch erschreckend anfühlen. Für einen kurzen Moment wissen wir nicht, wer wir sind, wo wir sind und in was für einer Situation wir uns gerade befinden. Eine zunehmende Ratlosigkeit über den Sinn des Lebens im Alter kann dieses Gefühl der Leere noch verstärken.

Der Bewusstseinszustand der »Leere« ist jedoch z.B. im Buddhismus ein erstrebenswerter Zustand. Mönche versuchen, diesen durch intensives Sitzen in der Stille und Loslassen von Gedanken zu erreichen. Das höchste Ziel ist hier die Auflösung des Ich bzw. das Erreichen des Einheitsbewusstseinseins. In diesem erfährt man sich als eins mit Allem und kann auch noch darüberhinausgehende Erfahrungen machen.

Jedoch können auch derartige spirituelle Prozesse Symptome hervorrufen, die Demenz-Symptomen sehr ähnlich sind. So beschreibt der spirituelle Lehrer Adyashanti in seinem Buch »The End of Your World« (»Das Ende Deiner Welt«)[1] lange Phasen von Verwirrung, Desorientierung, Angst und Verzweiflung bei Menschen in spirituellen Prozessen. Seine Schilderungen lesen sich an manchen Stellen wie Demenz-Erfahrungen.

Was ist, wenn der Zustand der Leere, den Menschen mit Demenz erfahren, Ähnlichkeiten mit diesem erstrebenswerten Zustand des Buddhismus hat? Ist es möglich, dass das Unwissen über diesen Zustand in die Verdrängung und Überspielung führt, was sich dann später als Demenz ausdrückt? Es ist dann eine langsame, allmähliche Entwicklung des Vergessens des »Ich« in zuerst vorübergehende, später längerfristige oder gar dauerhafte Bewusstseinszustände. In diesen ist kein klares Bewusstsein eines Ich, einer personalen Identität mehr vorhanden. Das bisherige Leben scheint nur noch wie in einzelnen Blitzlichtern und kurzen Filmsequenzen immer wieder auf. Diese können aber nicht mehr zu einer sinnvollen Geschichte verbunden werden. Die personale Identität löst sich zunehmend auf, derweil die körperliche Existenz, je nach Rahmenbedingungen, noch lange erhalten bleiben kann.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Natürlich ist dies hier nur eine vereinfachende Skizze dieser Perspektive auf Demenz.[2] Sie entstand aufgrund meiner eigenen Erfahrungen sowohl in der Begleitung von Menschen mit Demenz, wo ich diese »Leere« oft wahrnehmen konnte, als auch aufgrund einer eigenen außergewöhnlichen Bewusstseinserfahrung, einer Erfahrung des »Nichts«. Diese Erfahrung löste bei mir in der Folge immer wieder demenz-ähnliche Symptome aus – doch konnte ich dies zugleich wahrnehmen, verstehen und erforschen. So konnte ich diese beiden scheinbar weit voneinander entfernten Felder, die Demenz und die spirituellen Zustandserfahrungen, zusammenbringen.

Ich betrachte eine fortgeschrittene Demenz inzwischen als eine zunehmende Verkörperung der unbewussten Leere und sehe als Ursache dafür eine immer weiter fortschreitende Ich-Auflösung. Dieses an und für sich »ungefährliche« Phänomen, das nach meinem Verständnis normal für das (hohe) Alter ist, wird dadurch zum Problem, dass die meisten Menschen davon nichts wissen und daher damit auch nicht umgehen können.

Wenn das Ich sich auflöst, kann das verwirrend und beängstigend sein und ist oftmals auch mit Scham verbunden, weil man nicht versteht, was geschieht und glaubt, man würde verrückt. Die »unbewusste Leere« kann dagegen ein tröstlicher Ort sein, weil dort diese unangenehmen Gefühle nicht vorhanden sind. Erst wenn man dort wieder herauskommt oder herausgerissen wird, fühlt sich das verwirrende Leben wieder unangenehm an. Und so ist es auf eine Art »verführerisch«, sich immer wieder in diese unbewusste Leere fallen zu lassen. Doch es wird dann mit der Zeit immer schwerer, dort wieder herauszukommen und sich in der realen Welt zu orientieren. Genau das nehmen wir als Außenstehende bei Menschen mit Demenz wahr.

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Ist Demenz am Ende eine »Dunkle Nacht der Seele«, wie derartige spirituelle Prozesse auch genannt werden? Mir erscheint das inzwischen eine naheliegende Erklärung zu sein. Doch ich warne zugleich vor einem »spiritual bypassing«, vor der Tendenz, etwas durch eine spirituelle Erklärung verharmlosen oder überhöhen zu wollen.

Und doch scheint ein gelingendes Altern ein spiritueller Prozess zu sein, ein Prozess der Bewusstseinsentwicklung, der Gero-Transzendenz[3], wie Lars Tornstam, ein schwedischer Gerontologe, diesen Prozess genannt hat. Dieser aber erfordert Bewusstseinsarbeit – die Erforschung der Frage »Wer bin ich?« und das Bearbeiten der alten Schattenthemen, die man z.T. seit vielen Jahren mit sich trägt. Ob dies den Prozess der Demenz aufhalten oder gar wenden kann? Ich weiß es nicht, aber ich werde sicher nicht aufhören, diese Frage weiter zu erforschen.


[1] Adyashanti (2010). The End of Your World. Uncensored straight talk on the nature of enlightenment. Sounds True.

[2] Mehr dazu u.a. auf meiner Website: https://www.bettinawichers.de/deutsch/demenz-transzendenz/

[3] Tornstam, L. (2005). Gerotranscendence: A Developmental Theory of Positive Aging. Springer Publishing Company.

*Bettina Wichers ist Gerontologin und Pädagogin mit über 25 Jahren Erfahrung als Lehrende, Beraterin und Coach im Bildungs- und Gesundheitswesen. Ihr Schwerpunkt liegt auf transformativen Bewusstseinserfahrungen und Demenzforschung. Nach einem Bewusstseinsshift zog sie sich drei Jahre zurück, um ihre Perspektiven zu integrieren. Sie bietet Beratung und Wegbegleitung für Angehörige von Menschen mit Demenz an, aber auch für Menschen mit Demenz selbst an, die sich eine andere Perspektive auf Demenz wünschen als nur die biomedizinische, insbesondere auch für Menschen mit Interesse an Spiritualität oder Bewusstseinsforschung. Diese Begleitung ist online per Videokonferenz oder auch per Telefon möglich.

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