Lange habe ich als Dozentin in Altenpflegeschulen und Pflegeheimen gelehrt, dass Demenz ein ungeklärtes körperliches Geschehen sei, das Auswirkungen auf Erleben und Verhalten hat. Zugleich habe ich aber immer nach anderen Perspektiven auf dieses Geschehen geforscht. Inzwischen gehe ich davon aus, dass wir Demenz besser verstehen können, wenn wir sie jenseits der körperlichen Erfahrung bzw. des Geschehens im Gehirn betrachten. Ich nenne das »Demenz-Transzendenz«, denn Transzendenz bedeutet: die bisherigen Perspektiven übersteigen. Und so geht es mir darum, die Grenzen unseres bisherigen Denkens zu Demenz zu transzendieren, um Demenz zu verstehen.
Ich schlage eine Perspektive vor, die Demenz als Folge eines im Grunde normalen Aspektes des Alterungsprozesses zu verstehen: Je älter wir werden, umso häufiger können wir kurze Momente von Vergesslichkeit oder auch längere Zustände von Desorientierung sowie Phasen von einer Leere der Gedanken erleben. Kennen Sie das vielleicht sogar selbst, diese kurzen Momente, wo »nichts« ist, die einen Moment lang erschrecken, und die dann schnell überspielt werden?
Die Ursache dieser Desorientierung wäre dann nicht körperlicher Natur, sondern Folge einer zunehmenden »natürlichen Desorientierung« im eigenen Sein: Je älter wir werden, umso mehr löst sich unsere festgefügte Vorstellung von einem Ich, von unserem eigenen Selbst auf. Das ist insofern natürlich, weil es spätestens im letzten Moment unseres Lebens sowieso geschehen wird: Am Ende muss das Ich seiner eigenen Auflösung, seinem eigenen Tod zustimmen.
In meiner Praxis als Fallsupervisorin in der gerontopsychiatrischen Pflege habe ich immer wieder etwas im Bewusstsein von Menschen mit fortgeschrittener Demenz wahrgenommen, was ich die »unbewusste Leere« nenne: Menschen, die still in sich versunken sitzen und in denen ich „nichts“ wahrnehmen konnte, was sich aber nicht negativ anfühlte – nur eben »leer«.
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Es waren Momente leer von Gedanken, leer von Erinnerungen, leer von Wünschen und Antrieben. Wenn nun zunehmende Verlangsamung und Rückzug mit Momenten der Leere zusammenfallen, dann kann sich das unangenehm oder auch erschreckend anfühlen. Für einen kurzen Moment wissen wir nicht, wer wir sind, wo wir sind und in was für einer Situation wir uns gerade befinden. Eine zunehmende Ratlosigkeit über den Sinn des Lebens im Alter kann dieses Gefühl der Leere noch verstärken.