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Mutmachgeschichte

Wie Rosinli Hermann zum Lächeln brachte

Andreas Hinterberger am Demenz Meet St. Gallen 2024

Andreas Hinterberger und sein Rosinli auf der Bühne des St. Galler Demenz Meets. Bild Nicole Loher

Von Andreas »Res« Hinterberger*

Ich war viele Jahre lang Vermögensverwalter. Hermann hieß ein Kunde, den ich viele Jahre lang begleitet habe. Er war ein erfolgreicher Architekt und Bauunternehmer und wurde mit der Zeit auch mein Freund. Wenn ich mit ihm unterwegs war, sagte er manchmal voller Stolz: »Schau, dieses Haus habe ich gebaut – und schau bei der nächsten Kurve, diese Mauer habe ich auch gemacht«.

Hermann war erfolgreich, er arbeitete viel. Und er liebte die Frauen. Er war dreimal verheiratet. Aus der ersten Ehe hatte er drei Söhne. In der zweiten Ehe gab es eine Tochter und einen Sohn und in der dritten Ehe war er so alt, dass dies nicht mehr wichtig war.

Hermann war auch ein Genießer. Er aß gerne und trank manchmal auch gerne. Er mochte traditionelle Schweizerkost wie Kutteln, Käse-Wurst-Salat oder Rehpfeffer. Wir hatten viele Gespräche miteinander bei Kutteln.

Eines Tages kam Hermann zu mir und sagte: »So, jetzt reichts, ich habe genug gearbeitet, jetzt will ich etwas anderes und verkaufe mein Unternehmen.« Ich hatte also viel Arbeit und begleitete ihn, damit ihm mit den Finanzen keine Fehler unterliefen. Wenn Hermann eine Idee hatte, setzte er sie um. Er verkaufte also sein Unternehmen und wanderte nach Spanien aus. Dort hat er sein Leben genossen mit Spaziergängen am Meer, mit Schwimmen, mit Golfen und natürlich mit Frauen.

Er hatte immer wieder eine neue Freundin oder Partnerin – manchmal dauerte die Beziehung drei Monate, manchmal sechs Jahre. Aber es hielt leider nie. Dafür brachte er mir die eine oder andere neue Kundin.

»Weißt du, jetzt komme ich in diese Phase, in der ich medizinische Beratung und Pflege brauche.«

Als Hermann gut 20 Jahre in Spanien gelebt hatte und gegen 80 Jahre alt wurde, rief er mich an und sagte: »Ich habe es gesehen – ich komme wieder nach Hause. Weißt du, jetzt komme ich in diese Phase, in der ich medizinische Beratung und Pflege brauche. Ich glaube, dass die in der Schweiz besser ist als in Spanien.«

Wieder gab es eine Menge zu organisieren für mich. Zuerst lebte er einige Wochen bei seinem ältesten Sohn. Dann ging er in das Dorf, in dem er aufgewachsen war und kaufte dort eine Wohnung. Kurze Zeit danach lernte er eine Frau kennen und zog zu ihr. Ein halbes Jahr später ging er wieder zurück in seine eigene Wohnung.

In dieser Zeit stellte ich bei Hermann eine Veränderung fest. Wenn wir uns trafen, interessierte er sich kaum mehr für sein Geld. Es war ihm schon fast egal, ob es mehr oder weniger wurde. Er redete bei Gesprächen auch nicht mehr so, wie ich ihn kannte.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Er war sehr belesen, und wenn ich früher für ihn etwas gekauft oder verkauft hatte, fragte er nach und konnte nachvollziehen, warum ich es so oder so gemacht hatte. Jetzt machte er das nicht mehr. Und wenn ich ihm sagte: »Ich habe dir die Steuerunterlagen für den Treuhänder geschickt«, antwortete er: »Was hast du geschickt? Nein, ich habe das nicht erhalten. Kannst du es nochmals schicken?«.

Eines Tages rief Hermanns Sohn an und sagte: »Mit Papa ist etwas nicht mehr gut, er hat Angstzustände in der Nacht. Was soll ich nur tun?«. Ich sagte zu ihm, er solle zum Hausarzt gehen – was sie dann auch taten. Man überwies Hermann in eine psychiatrische Klinik, wo er untersucht wurde. Dort gaben sie ihm Medikamente und schickten ihn wieder nach Hause.

Einige Wochen später brachten sie Hermann notfallmäßig wieder in die Klinik. Ich besuchte ihn und fragte, was er denn für Ängste habe. Er erzählte mir: »Weißt du, da kommen Käfer, wenn ich im Bett bin, ganz viele Käfer, die wollen zu mir ins Bett, und dann kann ich nicht mehr schlafen.«

»Wir können Papa nicht mehr allein lassen.«

Sie gaben ihm stärkere Medikamente, und gleichzeitig wurde uns auch gesagt, dass Hermann eine beginnende Demenz habe. Sein Sohn sagte: »Wir können Papa nicht mehr allein lassen, aber wir arbeiten alle und können ihn nicht zu uns nach Hause nehmen. Was sollen wir denn machen?«

Andreas Hinterberger.

Ich kannte ein gutes Heim, von dem ich wusste, dass Hermann dort einmal etwas gebaut hatte. Wir konnten es so einrichten, dass er dort eine Wohnung bekam, wo er Service beanspruchen konnte. Er kannte dieses Heim und fühlte sich dort wohl. Mit der Zeit verschlechterte sich die Demenz leider, und er musste im Heim aufgenommen werden, damit er eine bessere Betreuung bekommen konnte.

Leider verschlechterte sich sein Zustand weiter, und er musste in die geschlossene Demenz-Abteilung verlegt werden. Von da an besuchte ich ihn nicht mehr, und ich wickelte die Geschäfte über seine Söhne ab. Eines Tages rief mich einer seiner Söhne an und fragte, ob ich Hermann besuchen könne. Er rede nicht mehr und erkenne auch niemanden. »Du hast ihn jahrzehntelang begleitet, du weißt alles über ihn und kennst auch seine intimen Seiten. Vielleicht kannst du mit ihm reden.«

Also besuchte ich Hermann in diesem Heim, wo er an einem Tisch saß. Ich sagte, dass es schön sei, ihn zu sehen. Hermann sagte nichts. Ich wiederholte meine Worte und fügte an: »Ich bin der Res, kennst du mich noch?«

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Heimeintritt

Die Betreuung von Menschen mit Demenz ist anspruchsvoll. Wenn es zu Hause nicht mehr geht, lässt sich ein Heimeintritt oft nicht vermeiden. weiterlesen

Vom Hermann kam nichts – einfach nichts. Er saß regungslos da, starrte auf den Tisch. Kein Blick zu mir, keine Hand, die »Hallo« sagen wollte. Er saß einfach starr am Tisch. Es tat mir weh, ihn so sehen zu müssen. Doch ich gab nicht auf, versuchte weiter, mit ihm zu reden. Nach gut zehn Minuten wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte.

Dann kam zum Glück eine Betreuerin mit einem Müesli. Die Betreuerin gab Hermann das Müesli ein, und er hatte große Mühe, den Mund zu öffnen und das Müesli zu schlucken. Ich fragte die Betreuerin, ob mich Hermann verstehe. Sie sagte, dass es neben seinen Augen zucke, wenn er mich verstehe.

Ich dachte darüber nach, was ich ihm erzählen konnte, damit es neben seinen Augen mal zuckt. Mir kam in den Sinn, dass er die Frauen mochte. Ich erzählte ihm von Elisabeth, die neulich bei mir gewesen war: »Sie hat von dir geschwärmt!«. Jetzt zuckte es neben seinen Augen! Als ich mich von ihm verabschiedete, war ich sehr traurig. Einige Tage lang war Hermann immer wieder in meinen Gedanken.

In diesem Moment kamst mir du in den Sinn, Rosinli.

Drei Wochen später rief sein Sohn an und fragte, ob ich Hermann am Samstag zu seinem 85. Geburtstag besuchen würde. Ich sagte: »Selbstverständlich mache ich das gerne!« Das war etwas gelogen, denn ich überlegte immer wieder, was ich mit ihm machen sollte.

Am Samstagmorgen wollte ich ins Auto steigen und zerbrach mir schon wieder den Kopf darüber, worüber ich mit Hermann reden sollte. In diesem Moment kamst mir du in den Sinn, Rosinli. Ich ging zurück und trug dich in mein Auto.

Dieses Mal gingen wir zwei zuversichtlich ins Heim. »Hallo Hermann, ich gratuliere dir herzlich zum Geburtstag! Ich habe dir das Rosinli mitgebracht, und wir spielen jetzt etwas für dich!« Wir machten Musik und erlebten etwas Unvergessliches: Hermann hob seinen Kopf und schaute uns an. Sein Gesicht hellte sich auf und er lachte uns an. 

Hermanns Mitbewohner und Betreuerinnen tanzten, johlten und jauchzten. Hermann war glücklich und strahlte übers ganze Gesicht. Wir spielten mehrere Lieder, und es war wunderschön! Es war das schönste Konzert, das Rosinli und ich jemals geben durften. Hermann hat uns viel mehr gegeben, als wir ihm geben konnten.

Zum Schluss gab uns Hermann die Hand und sagte: »Danke vielmals!«

Gell, Rosinli, den Hermann werden wir zwei nie vergessen.

Hermann starb zwei Monate nach unserem Konzert.

Quelle Marcus May demenzworld / YouTube



Andreas »Res« Hinterberger ist pensionierter Vermögensverwalter und Vorstandsmitglied des Vereins «mosa!k» in St. Gallen. Als Inhaber einer Vermögensverwaltungsfirma durfte Hinterberger viele Menschen während Jahrzehnten in ihrem Lebenszyklus begleiten. Dabei standen die finanziellen Belange meistens nicht im Vordergrund. Im Gegenteil: Die Gespräche waren oftmals von persönlichen Problemen, Schicksalsschlägen, Veränderungen in der Familie oder im Beruf geprägt. Auch Demenz war bei seiner Kundschaft immer wieder ein Thema. Dabei durfte er diese betroffenen Menschen oder inzwischen ans Herz gewachsenen Kunden auf eine neue und spannende Art kennenlernen. In seiner Freizeit spielt Hinterberger Schwyzerörgeli. Er nennt sein Instrument liebevoll »Rosinli«.



Der Verein mosa!k engagiert sich für jung- und frühbetroffene Menschen mit Demenz. Er bietet in St. Gallen unter anderem eine Tagesstruktur und Halbtagesangebote wie Wanderungen, Werken, Museumsbesuche usw. an. Einige Vorstandsmitglieder und Mitarbeitende von mosa!k sind auch im Verein Demenz Meet St. Gallen aktiv, wo sie ehrenamtlich das Demenz Meet organisieren.



www.mosaik-demenz.ch



Dieser Beitrag wurde am 28. September 2024 am Demenz Meet in St. Gallen aufgezeichnet, wo Andreas Hinterberger zusammen mit seinem Rosinli Hermanns Geschichte erzählte.



www.demenzmeets.org