»Der offene Umgang hat mir Freiheit verschafft«
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Mutmachgeschichte

»Der offene Umgang hat mir Freiheit verschafft«

Stefanie Wagner-Fuhs

»Ich habe gelernt, mit meinen Anforderungen umzugehen und mir bewusst Zeit für meine Mutter zu nehmen«, sagt Stefanie Wagner-Fuhs. Bild Marc Schneider, New Media Design

Stefanie Wagner Fuhs (57) hat versucht, eine Kaderstelle mit der Betreuung ihrer Mutter zu vereinbaren. Anfangs ist ihr dies nicht gelungen, weil eine Demenz nicht planbar ist. Mehr Offenheit und ein Jobwechsel sorgten für Besserung.

Ein straff getakteter Berufsalltag in einer Führungsposition und eine an Demenz erkrankte Mutter – das miteinander zu vereinbaren war über viele Jahre die Herausforderung für Stefanie Wagner-Fuhs. »Ich habe mich zerrissen gefühlt, wollte im Job perfekt liefern und für meine Mutter da sein«, erzählt die Münchnerin. Anfangs versuchte sie, das Thema Demenz aus dem Job herauszuhalten, doch es kam immer häufiger zu Situationen, in denen ihre Mutter sie sofort brauchte. In dieser Mutmachgeschichte erzählt Stefanie, welchen Weg sie gefunden hat.


Lange kam meine Mutter in ihrem Zuhause gut alleine klar, und es gab hilfreiche Nachbarn. Einige Monate nach einem Fahrradunfall entwickelte meine Mutter ein Delir, gefolgt von einer längeren psychischen und körperlichen Krankheitsphase. Sie konnte nicht mehr allein leben – und ich ihr aus der Entfernung nicht helfen.

Also habe ich sie nach München geholt und dort, nachdem die Diagnose Demenz feststand, ein betreutes Wohnen gefunden. Als Einzelkind und ohne Verwandte in die Nähe war ich für meine Mutter alleine zuständig und habe alles für sie organisiert und koordiniert: Arzttermine, Tagesklinik, Pflegeleistungen, Fahrdienst. 

Meine große Herausforderung bestand in der Unkalkulierbarkeit der Demenz. Zum Beispiel, wenn meine Mutter mich in einem verwirrten Moment hilflos anrief, und später dann, wenn sie etwa gestürzt war und ich plötzlich das Krankenhaus am Apparat hatte. Es gibt dann keine Wahl, ich musste ad hoc reagieren. Verschieben geht da nicht. Selbst Anrufe bei Ärzten oder der Pflegeversicherung ließen sich nur schwer mit meinem Arbeitstag vereinbaren. Und so habe ich mich immer zerrissen gefühlt, wollte im Job perfekt abliefern und zeitgleich für meine Mutter da sein. Sich um einen Angehörigen mit Demenz zu kümmern – das passt nicht in unser Konzept vom Berufsleben, auch wegen dieser Unplanbarkeit.

Das haben wir gemacht

Anfangs habe ich versucht, das alles irgendwie planbar zu machen. Wenn ich beispielsweise im Meeting saß und meine Mutter anrief, weil sie dachte, es sei Samstag und ich käme zum Einkaufen, bin ich kurz raus und habe sie mit »Ich melde mich gleich, Mami« vertröstet. Für Telefonate mit Pflegekasse oder Sanitätshaus habe ich Pausen genutzt. Doch das hat nicht lange funktioniert.

Die Bedürfnisse eines Menschen mit Demenz sind nicht planbar.

Einmal war ich in einer wichtigen Sitzung, da rief der Fahrdienst der Tagesklinik an. Meine Mutter stand nicht am bekannten Ort für die Abholung. Der Fahrer musste dringend weiter, um die anderen Patienten abzuholen. Ich brauchte 20 Minuten, um die Situation in mehreren Telefonaten zu klären. 20 Minuten, in denen ich der Sitzung ohne Erklärung fern blieb … Da habe ich gemerkt, so geht es nicht.

Solche plötzlichen Ereignisse werde ich nie kontrollieren können. Ich muss im Beruf anders mit dem Thema umgehen. Ich habe meinen Chef und meine direkten Mitarbeitenden informiert und ihnen die Schwierigkeiten einer solchen Pflegesituation erklärt. Künftig war klar, wenn ein dringender Anruf kommt und ich mich von jetzt auf gleich kümmern muss, braucht es nur ein Zeichen und meine Kolleginnen übernehmen. Durch das Ad-hoc-Delegieren konnte ich als Leiterin dafür sorgen, dass die Abläufe weiter funktionieren.

Stefanie Wagner-Fuhs im Interview mit demenzworld

Quelle demenzworld/YouTube

Was ich gelernt habe

Lange habe ich vermieden, die Erkrankung meiner Mutter im Job zum Thema zu machen. Sicher auch deshalb, weil das Umfeld im ersten Unternehmen nicht auf die Herausforderungen einer »Führungskraft mit Pflegeanforderung« vorbereitet war. Man ging davon aus, ich suche einen Pflegeplatz und meine Mutter ist wegorganisiert.

Doch die betreuungsintensive Phase meiner Mutter dauerte letztendlich acht Jahre. Das konnte – oder wollte – dort niemand mittragen. Ich habe dann den Job, das Unternehmen und sogar die Branche gewechselt, in eine Unternehmenskultur, in der ein größeres Verständnis für Gesundheit und Pflegen vorherrscht. Dort fiel es mir leichter, offen mit der Demenz umzugehen. Und ich wurde nicht als »Minderleister« angesehen, weil ich mich um meine Mutter kümmere.

Ich habe gelernt, selbstbewusster mit meinen Anforderungen als pflegende Angehörige umzugehen und mir bewusst Zeit für meine Mutter zu nehmen.

Ein grundlegender Schritt dafür ist, Klarheit für sich selbst zu bekommen. Ich habe immer deutlich gemacht, dass ich im Unternehmen meine volle Verantwortung trage. Doch erst der offene Umgang mit dem Thema Demenz hat mir im Job Freiheit verschafft.

Das sollte sich ändern

Pflegende Angehörige benötigen mehr Flexibilität bei den Pflegezeiten und mehr Möglichkeiten, kurzfristig auch stundenweise abwesend zu sein. Es wäre eine riesige Entlastung, wenn Überstunden auf ein Pflegezeitkonto einzahlbar wären. Im Bedarfsfall kann sich der Arbeitnehmer daraus bedienen.

Pflegebedarf lässt sich schlecht planen. Spontane Unterstützung ist oft von Nöten, genauso wie eine langfristige Begleitung. Viele gehen zwar in Teilzeit, doch das ist mit finanziellen Einbußen verbunden und oft steht am Ende die Altersarmut. Das darf nicht sein. Für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf brauchen wir mehr staatliche Unterstützung!

Stefanie Wagner-Fuhs im Podcast »Leben Lieben Pflegen«


Unsere Partner von Desideria Care in München haben diese Mutmachgeschichte aufgezeichnet und auf der Website www.desideria.org veröffentlicht. Wir bedanken uns herzlich bei Desideria Care und beim Fotografen Marc Schneider für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.