Wann ist es Zeit zu gehen? - demenzjournal.com
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Demenz und Sterbehilfe

Wann ist es Zeit zu gehen?

«Wenn ich meinen Namen nicht mehr kenne, dann bin ich nicht mehr ich. Das will ich nicht erleben.» Bild Esther Michel

Viele Demenzkranke wollen Sterbehilfe beanspruchen. Doch dafür müssen sie urteilsfähig sein. Eine Betroffene erzählt vom Ringen um Lebensqualität und Selbstbestimmung.

Noch zwei bis drei Jahre gebe sie sich, sagt Rita Schwager im März 2017. Draussen scheint die Sonne, die ersten Blätter spriessen. Vorboten eines langen Sommers.

Rita Schwager leidet an Frühdemenz. 2013 erhält sie in der Memory Clinic in Basel die Diagnose. Da ist sie erst 53, Mutter zweier Teenager, geschieden, alleinerziehend, Krankenpflegerin. Ihr Körper ist in Hochform. Mit den Inlineskates dreht sie Runde um Runde um den Zugersee.

Nur der Kopf macht nicht mehr mit. Und bevor Rita nicht mehr weiss, dass sie Rita ist, dass sie zwei Kinder hat, dass sie das Reisen und vor allem Kuba liebt, will sie mit der Sterbehilfeorganisation Exit aus dem Leben gehen.

«Seit Anfang zwanzig war ich in einer Töff-Gang. Ich liebte es, schnell die Pässe hochzufahren. Wir sind immer früh am Morgen los, so hatten wir die Strassen für uns. Erst als ich erfuhr, dass ich schwanger bin, habe ich aufgehört. Kurz darauf verunglückte ein Freund tödlich.»

Der Sommer 2017 ist heiss. Auf dem Hof Obergrüt nahe Luzern, wo Menschen mit Demenz in einem geschützten Umfeld arbeiten können, sitzt Rita Schwager im Schatten eines Sonnenschirms. Sie erzählt in einer Gesprächsrunde, wie schmerzhaft es war, den Beruf aufgeben zu müssen.

Gut 40 Leute hören ihr zu. Dann macht die Frau mit den kurzen dunklen Haaren, was sie oft macht, wenn sie über ihre Krankheit spricht: Sie erzählt von ihrem Plan, mit der Sterbehilfeorganisation Exit zu gehen. Viele Zuhörer schütteln den Kopf. Es ist das Gegenteil von Applaus.

«Eigentlich wollte ich Architektin werden. Schon als Mädchen hatte ich ein Faible für Design. Ich machte aber eine Ausbildung zur Pflegefachfrau. Später lernte ich auch noch Innenausstatterin. Als die Kinder kamen, wechselte ich zurück in den Pflegebereich. Mir fehlt die Arbeit sehr.»

Für Rita Schwager stand immer fest, dass sie mit der Krankheit nicht bis ans Ende gehen wird: «Wenn ich meinen Namen nicht mehr kenne, dann bin ich nicht mehr ich. Das will ich nicht erleben.» 

Wie schmal ist dieser Grat zwischen Tod und Weiterleben? Wie lange hält sich der Zustand zwischen Nicht-mehr-immer-alles-Wissen und dem Moment, in dem man nicht mehr urteilsfähig ist? Auch nicht für einen begleiteten Suizid?

«Ich gehe lieber zu früh als zu spät. Wenn ich zu spät bin, bleibt nur der unbegleitete Suizid», sagt Rita Schwager.Esther Michel

Den Entscheid, wann sie sterben wird, hat Rita Schwager ausgelagert. Einmal pro Monat trifft sie ihre Hausärztin, damit die den Verlauf einschätzen kann. Zudem geht sie alle paar Wochen zu einer Psychologin und telefoniert regelmässig mit der Sterbebegleiterin.

Sie alle achten darauf, dass es für Rita Schwager nicht irgendwann zu spät zum Sterben ist. «Ich gehe lieber zu früh als zu spät. Wenn ich zu spät bin, bleibt nur der unbegleitete Suizid. Und das will ich nicht.»

Es ist Herbst 2017. Die Demenz schreitet fort. Immer öfter sucht Rita Schwager die Jacke, die sie bereits trägt. Manchmal weiss sie mitten im Gespräch nicht mehr, worum es geht. Wenn sie eine gute Phase hat, vergisst sie, dass sie krank ist. Deswegen braucht sie auch die schlechten Tage: Damit sie merkt, wie die Krankheit voranschreitet.

«Nach der Diagnose war klar: Jetzt muss ich noch nach Kuba. Ich zehre bis heute von dieser Reise. Auch mit meinen Kindern bin ich nochmals ins Ausland. Mit Camille nach Costa Rica, mit Chloé nach Zypern.»

Es ist das Absurde an der Krankheit: Wie ein Wurm, der sich durch den Apfel frisst, zerstört sie mehr und mehr Gehirnzellen. Aber das verursacht keine Schmerzen, die einen an den nahenden Tod erinnern. «Jetzt, wo ich merke, dass er näherkommt, macht er mir Angst. Offenbar ist das eine Phase, die ich durchmachen muss, damit ich am Ende bereit bin. Ich lasse ja meine Kinder zurück. Mein Leben.»

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Rita Schwager ist dankbar, dass sie die Option hat, selbstbestimmt zu sterben. «Das ist mein Rückenpanzer. Ich kann geniessen, was noch da ist. Im Wissen, dass ich nicht ins Bodenlose falle.»

«Als Krankenpflegerin war ich zwei-, dreimal bei einem assistierten Suizid dabei. Es waren friedliche Momente. Ein Freund von mir, den ich in der Frühdemenz-Selbsthilfegruppe kennengelernt hatte, hat immer geweint, wenn ich mit ihm über Exit gesprochen habe. Er hatte grosse Angst vor dem Tod. Ich glaube, das liegt daran, dass er sich während seines gesunden Lebens nie mit dem Ableben auseinandergesetzt hat.»

An Weihnachten macht Rita Schwager mit ihrem Sohn Camille einen Roadtrip nach Genua, Nizza und Grenoble. Sie sitzen oft im Auto, führen intensive Gespräche. «Das Auto war unser Kokon, schirmte unsere Gespräche ab.» Der Tod sei für beide kein «Brüeli-Thema», sondern eine logische Konsequenz des Lebens. 

«Camille wird traurig sein, wenn ich nicht mehr da bin. Er mag es mir aber gönnen, dass ich mit Exit gehen kann. Ihm während dieser Reise nochmals so nahe zu sein, war wunderschön.» Durch die Krankheit und den nahenden Abschied sei auch viel Positives entstanden. «Ich bin verleitet, zu sagen, dass ich mit solchen Momenten etwas vom Schönsten erlebt habe, was man erleben kann.»

«Ein Nachbar, der an Parkinson litt, ist mit Exit gegangen. Als ich eines Tages nach Hause kam, wartete er auf mich und sagte: übermorgen. Am nächsten Tag wartete er wieder und meinte, er habe Angst. Was jetzt? Ich sagte, er solle Bescheid geben, es gehe ihm zu schnell. Am nächsten Tag meinte er: danke. Heute wäre kein guter Tag zum Sterben gewesen. Kurz darauf ist er in Frieden gegangen. Es ist wohl normal, dass man kalte Füsse bekommt. Es geht ja um alles.»

Es ist ein regnerischer Januartag 2018, als Camille Schwager in der Cafeteria der Technischen Hochschule Horw sitzt und für die Semesterprüfungen lernt. Als seine Mutter die Diagnose erhielt, war er 19. Der Tod war bei ihnen nie ein Tabu.

Seine jüngere Schwester hat mehr Mühe, aber Camille kann mit der Mutter offen reden. Er steht hinter ihrem Plan, zu sterben. «Es wäre auch egoistisch, wenn ich versuchen würde, sie davon abzuhalten. Ich bin irgendwie froh, dass ich sie so in Erinnerung behalten kann, wie sie jetzt ist. Nicht so, wie sie wäre, wenn sie mit der Krankheit bis ans Ende ginge.»

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Für Camille ist es eine Erleichterung, dass Leute ausserhalb der Familie miteinbezogen sind. «Es ist schwierig, jemandem zu sagen, dass es nun Zeit wird, zu sterben. Ich weiss nicht, ob ich das könnte und ob ich das wollte.»

Er merkt, dass seine Mutter, je näher der Augenblick rückt, ebenfalls Mühe damit hat. Er glaubt aber nicht, dass sie es doch nicht machen wird. «Dieser Typ Mensch ist sie nicht. In ihrer ganzen Art ist sie stets sehr konsequent. Sie bereitet sich ja auch darauf vor.»

«Ich durchlebe die Vorbereitung auf das Sterben sehr bewusst. Ich trauere bewusster, geniesse bewusster. Dadurch habe ich trotz Krankheit an Lebensqualität gewonnen. Meine Kinder erleben selten eine traurige Mutter. Manchmal frage ich mich, ob sich viele so akribisch auf den Tod vorbereiten.»

Ein neuer Sommer bricht an. Rita Schwager hat ihren Vorsorgeauftrag gemacht. «Ich habe zwei Tage geweint. Etwas, das ich nur selten gemacht habe. Ich merke, dass es nun von der Theorie in die Praxis übergeht.»

Je konkreter die Planung wird, desto schwieriger wird der Umgang mit dem Thema Tod.Esther Michel

Sie schaut sich in der Stube um, ihr Blick bleibt an einem Schrank hängen. Camille habe Interesse an diesem Gänterli, er wolle eine Minibar daraus machen. «Ich hätte gedacht, dass ich das alles lockerer nehme. Aber es geht schon ans Emotionale.»

Ihr Reihenhaus will sie vermieten. Damit die Kinder später entscheiden können, ob sie es behalten wollen. «Ich habe so für dieses Haus gekrüppelt und kann es im Ruhestand nicht mal mehr geniessen.»

«Meine Mutter ist mit 60 an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Ich habe sie gepflegt. Sie, die sonst in ihrem Leben nie ein schweres Thema angesprochen hat, hat da den Tod immer und immer wieder thematisiert. Sie war dankbar, dass sie mit mir so offen darüber reden konnte.»

Der Winter ist da. Rita Schwager mag die Jahreszeit nicht, sie hat die Wärme immer der Kälte vorgezogen. Es geht ihr heute nicht gut. Sie sei mitten im Prozess, lasse den Schmerz zu. «Wenn ich nicht betrauere, was ich wegen meines Todes nicht mehr erleben kann, bin ich am Ende nicht bereit. Wenn das erst im letzten Moment hochkommt, dann klemmt man, dann traut man sich nicht.»

Derzeit steht das Testament auf ihrer Pendenzenliste. «Ich musste das zwei Wochen auf die Seite legen und etwas machen, woraus ich Kraft schöpfe, damit ich das noch fertigkriege.»

Sie kann sich vorstellen, dass sie es beim ersten Termin nicht schafft, zu sterben. «Vielleicht erschrecke ich und sage: O nein, jetzt noch nicht! Dann werde ich den Termin um drei, vier Tage verschieben, und das wird dann auch okay sein.»

«Ich habe am 24. Juni Geburtstag. Ich sage immer, ich sei ein halbes Christkind.»

Rita Schwager weiss nicht, wie lange sie noch urteilsfähig ist. Sie weiss nicht, ob sie noch einmal ihre Weihnachtskrippe hervorholen kann. Ob sie Monate oder Jahre hat. Was nach dem Tod kommt?

Das ist ihr im Moment egal. «Wenn es etwas gibt, freue mich darauf, es zu entdecken. Wenn es nichts gibt, ist das auch gut.» Sie werde ihre Spuren hinterlassen. Durch ihre Freunde und ihre Kinder.


Interview mit Paul-David Borter, stellvertretender Leiter von Exit

«Demente verpassen den Zeitpunkt oft»


Herr Borter, was tun Sie, wenn jemand mit der Diagnose «beginnende Demenz» sterben will?
Paul-David Borter: Die Art der Begleitung ist anders, meist dauert sie länger und ist komplexer. Dabei kommt es darauf an, in welchem Stadium der Erkrankung sich die Person befindet. Alles steht und fällt mit ihrer Urteilsfähigkeit. Wenn die nicht mehr gegeben ist, ist ein assistierter Suizid nicht mehr möglich.

Was wir immer wieder feststellen: Nur schon das Wissen um die Möglichkeit eines assistierten Suizids kann helfen, einem Menschen Lebensqualität zurückzugeben und ihn aus einer möglichen latenten Suizidalität herauszuholen.

Erhalten Freitodbegleiter eine spezielle Ausbildung für die Begleitung Demenzkranker?
Ja, im Rahmen der Ausbildung zum Freitodbegleiter wird Wissen zur Krankheit Demenz gesondert vermittelt. Wir arbeiten während der Freitodbegleitung wenn immer möglich auch mit den behandelnden Ärzten zusammen.

Helfen die Begleiter mit, den richtigen Zeitpunkt zum Sterben zu finden?
Das ist schwierig. Viele an Demenz erkrankte Menschen, die Exit in Erwägung ziehen, leben mit der Angst, den Zeitpunkt zu verpassen, und delegieren die Entscheidung. Wenn jemand mit einer beginnenden leichten Demenz den Wunsch nach Unterstützung beim Entscheid äussert, darf die Begleitperson helfen und sagen, wenn sie das Gefühl hat, dass es so weit ist. Das geschieht aber nur in Absprache mit dem Betroffenen und deren Angehörigen.

Nur zwei Prozent der Exit-Sterbebegleitungen betreffen Demenzkranke. Die Zahl ist seit Jahren konstant. Weshalb ist das so?
Die Anzahl der Anfragen steigt, weil es mehr Demenzerkrankungen gibt. Aber relativ gesehen bleibt die Zahl der Begleitungen konstant. Meine Erfahrung zeigt, dass Demenzpatienten häufig eines natürlichen Todes sterben oder dass der aktive Sterbewunsch mit dem Verlauf der Krankheit verschwindet und die demente Person den Zeitpunkt verstreichen lässt.

Dann ist es wichtig, dass wir die Angehörigen gut unterstützen. Sie haben ja in der Annahme gelebt, dass die erkrankte Person genau diesen Zustand der fortschreitenden Krankheit nicht erleben will. Die tiefe Fallzahl zeigt aber auch, wie anspruchsvoll es ist, sich selber auf diesem Weg einen Termin anzusetzen und ihn dann zu finalisieren.




Herzlichen Dank an die Redaktion des Beobachters für die Gelegenheit zur Zweitverwertung dieses Beitrags.