Bernhard war ein Mann, der was hermachte: fast eins neunzig gross, schlank, mit markant geschnittenem Gesicht und Augen, um die er beim Reden feine Lachfältchen zwinkerte. Sein Humor war es, in den Regina sich sofort verguckte, dieser jungenhaft spöttische, aber nie verletzende Charme, der die Geschäftsbesprechung zu einem amüsanten Geplänkel machte.
Auch ihn hatte es auf Anhieb erwischt. Schon nach einer Stunde wusste er: Diese warmherzige Person, mit der es sich so gut lachen liess, war die Frau seines Lebens. Wenn sie doch bloss nicht beide bereits verheiratet gewesen wären!
Reginas Ehe war kinderlos geblieben, aber er hatte zwei kleine Söhne, an denen er sehr hing. Undenkbar, sie zu verlassen. Fünfzehn Jahre lang konnten Regina und Bernard nicht zueinander kommen. Dennoch brachen sie den Kontakt nie ab, telefonierten immer wieder miteinander und trafen sich auch manchmal.
Aber eine Affäre anzubandeln, das kam weder für ihn noch für sie in Frage. Als Bernards Söhne aus dem Haus waren, holten sie alles nach. Noch heute leuchten Reginas Augen, wenn sie von den ersten Jahren an seiner Seite spricht. Von Liebe, Leidenschaft und immer wieder von den lustigen Momenten, in denen die Pferde mit ihm durchgingen.
Er verzauberte sie mit Charme, Klugheit und Humor
Es heisst, dass wir Männer das Herz einer Frau vor allem dann gewinnen, wenn wir sie zum Lachen bringen. Darin war Bernhard ein Meister. Als Sohn einer französischen Mutter verstand er sich auf das Savoir-vivre, die Kunst, das Leben hin und wieder auf die leichte Schulter zu nehmen.
Regina teilte es mit ihm, nachdem sie im Jahr 2000 geheiratet hatten. Immer wieder verzauberte er sie mit seinem Charme, seiner Klugheit und seinem Humor. Beide verdienten gut und konnten sich Weltreisen leisten. Sie waren unzertrennlich.
Regina wich Tag und Nacht nicht von seiner Seite, kletterte mit ihm sogar ins offene Cockpit eines Sportflugzeugs, das zu einem Akrobatikflug mit doppeltem Looping startete. Was konnte ihr schon passieren! Bernard besass die Lizenz eines Fallschirmlehrers, und er war ihr Liebster.
Mehr Sicherheit brauchte sie nicht. Waren sie wieder daheim, genoss sie die stillen Stunden mit ihm. Zu seinen vielen liebenswerten Seiten gehörte das Talent, raffinierte Gerichte zuzubereiten. Er war ein exzellenter Koch, der einen Nachmittag lang am Herd stehen konnte, um Regina am Abend mit einem köstlichen Menü, erlesenen Weinen und einem festlich gedeckten Tisch zu beglücken. Es war eine Ehe, die im Himmel geschlossen wurde – umso tiefer war der Absturz, der folgte.
In seinem Kopf war nichts mehr in Ordnung
Ein Jahr nach der Hochzeit verlor er seinen Job. Kurz darauf begannen ihn heftige Kopfschmerzen zu plagen. Tabletten halfen nichts, die Schmerzen wurden schlimmer. Der Hausarzt vermutete als Ursache eine schwere Depression, doch als die Medikamente wieder nicht halfen, schickte er Bernard mit Verdacht auf einen Gehirntumor zur Computertomo in die Klinik. Dort beruhigte der Chefarzt das Paar. In Bernhards Kopf sei alles in Ordnung.
Nichts darin war in Ordnung. Zunächst kaum spürbar, schlichen sich Irritationen ein. Es begann mit der Orientierung. Manches Mal, wenn er seine Mutter in der französischen Schweiz besuchte, erreichte Regina ein besorgter Anruf, weil Bernard nach vier, manchmal fünf Stunden immer noch nicht angekommen war. Warum er für die Autofahrt, die er früher in zwei Stunden geschafft hatte, so viel länger gebraucht hatte, konnte er nicht erklären. Überhaupt fiel dem ehemals so wortgewandten Mann das Reden schwer.
Er sprach zunehmend langsamer und machte lange Pausen, in denen er nach Worten suchte. Regina schob es auf die Kopfschmerzen, die ihn offenbar so durcheinanderbrachten, dass er nicht richtig denken und folglich auch nicht flüssig reden konnte.
Waren die Schmerzen womöglich auch der Grund dafür, dass in letzter Zeit ein Strafzettel nach dem anderen ins Haus flatterte, die meisten für falsches Parken? Noch ahnte sie nicht, dass er nicht mehr in der Lage war, eine Parkscheibe richtig einzustellen, wollte es wohl auch nicht so genau wissen.
Erst als er vergass, seine Überweisungen zu tätigen, beschlich sie die Angst. Sie merkte es zu spät, denn in Gelddingen war auf Bernard seit je Verlass gewesen. Aber plötzlich häuften sich die Mahnungen, seine Krankenkasse hatte ihm sogar gekündigt, weil er seit Monaten keine Beiträge eingezahlt hatte.
Angst vor der kalten Kachelwelt
Jetzt fiel ihr auf, dass er sich in letzter Zeit davor gedrückt hatte, einkaufen zu gehen. Sie merkte, dass er beim Bezahlen Geldscheine und Münzen nicht mehr zusammenrechnen konnte. Er liess den Sportwagen in der Garage, hörte auf zu kochen, wusste nicht mal mehr, wie man den Tisch deckt.
Von bösen Ahnungen befallen, suchte Regina mit ihm eine Neurologin auf, die auf diese Krankheit spezialisiert war. Mehrere Wochen wurde er in der Universitätsklinik untersucht, wurde befragt, getestet, sein Gehirn wurde gescannt, das Blut untersucht.
Regina spürte an seinen schweissnassen Händen, dass er sich mehr und mehr vor dem Gang in diese kachelkalte Klinikwelt fürchtete, wo man ihm Fragen stellte, die er nicht beantworten konnte, wo er kläglich scheiterte, als er das Zifferblatt einer Uhr zeichnen sollte und nicht mehr wusste, wo die Stundenzahlen hingehören. Doch die aufwendigen Untersuchungen in der Neurologie mussten sein, denn nur eine genaue Diagnose bietet die Chance auf eine angemessene Behandlung.
Demenz ist ein Oberbegriff für mehr als hundert Krankheiten mit ähnlichen Symptomen. Allen gemeinsam ist, dass unter ihrem Einfluss die kognitiven Leistungen des Patienten schwinden. An dem sogenannten Alzheimersyndrom leidet mehr als die Hälfte aller Menschen mit Demenz, darunter auch Bernhard Berger. Als Berhnard erfuhr, dass er an Alzheimer litt, brach er weinend zusammen: Alzheimer im mittleren Stadium!
Regina Berger dagegen fühlte sich fast wie erlöst. Endlich herrschte Klarheit, endlich konnte sie etwas unternehmen, sich über das Krankheitsbild informieren und ins Auge fassen, was auf sie beide zukommen würde.
Sie besorgte sich Fachbücher über Demenz und recherchierte im Internet, welche Hilfsdienste in Frage kämen. Als sich herausstellte, dass Bernard nicht einmal mehr den Computer bedienen konnte, setzte sie sich Stunde um Stunde mit ihm vor das Notebook und versuchte, dem ehemaligen Chefinformatiker wenigstens ein paar elementare Techniken zu vermitteln. Vergeblich.
Diese bittere Erfahrung hatte ihm offensichtlich den Rest Lebensmut genommen, denn kurz darauf gestand er, dass er mit dem Gedanken gespielt habe, sich umzubringen. Sie flehte ihn an, ihr und sich selbst dieses Ende zu ersparen, und er versprach es. Bernhard machte sich über seinen Zustand keine Illusionen.
Er wusste, dass die Zeit nahte, in der er endgültig verstummen würde. Schlimmer noch: Es war absehbar, dass er in einem späteren Stadium der Krankheit seine Freunde, die Mutter und Geschwister, ja selbst sie, seine Ehefrau, nicht mehr erkennen würde. Ehe es so weit war, wollte er alle irdischen Dinge regeln.
So geschah es: Sie legten ihre Konten zusammen, er verfasste sein Testament, dazu Vollmachten, die ihr erlaubten, über alle weiteren Stationen seines letzten Lebenswegs zu verfügen, bis hin zu seiner Beerdigung. Noch arbeitete Regina von Montag bis Freitag in ihrer Informatikabteilung.
An zwei Tagen der Woche brachte sie Bernhard morgens in eine Tagesstation und holte ihn nach Feierabend Punkt 17 Uhr wieder ab. Doch die übrigen Werktage, in denen er allein im Haus war, wurden zur Angstpartie. Auch weil er sich nicht meldete, wenn sie anrief – den Zusammenhang zwischen Telefonklingeln und Abnehmen des Hörers erkannte er nicht mehr.
Eine Zeitlang versuchte sie, ihre Arbeit nach Hause zu verlegen, wo er sie auf Schritt und Tritt verfolgte und sie kaum eine Minute in ihrem Homeoffice ungestört arbeiten liess. Nachdem sie schweren Herzens gekündigt hatte und in Frührente ging, waren sie wieder Tag und Nacht ein unzertrennliches Paar.
Doch statt eines charmanten und weltläufigen Gentlemans begleitete sie von jetzt an ein ungebärdiges, ruheloses Kind, das unterwegs durch sehr lautes Sprechen auffiel.
Bei Einkäufen und Ausflügen durfte sie ihren Mann keine Sekunde aus den Augen lassen, weil ihn ein ungestümer Bewegungsdrang dazu trieb, plötzlich und ziellos davonzulaufen.
Auch zu Hause machten ihr rätselhafte und fast gespenstisch wirkende Vorgänge zu schaffen. Sie fuhr zusammen, als sie ihn zum ersten Mal im Badezimmer laut reden hörte. Besorgt spähte sie durch den Türspalt und sah ihn vorm Spiegel stehen. Mit schallender Stimme und hektischen Gebärden sprach er auf sein Spiegelbild ein, in dem er offensichtlich nicht sich, sondern irgendeinen Bekannten zu erkennen glaubte.
In den folgenden Wochen eskalierte die Situation. Von neuen Phantomen im Spiegel schien er sich bedroht zu fühlen. Angst schüttelte ihn, seine Stimme schnappte über, Schweiss lief ihm übers Gesicht. Er knotete sich aus Handtüchern eine Art Knüppel, den er Tag und Nacht bei sich trug, um sich gegen die Spiegelphantome zu wehren.
Regina wusste sich und ihm nicht anders zu helfen, als die Spiegel in Badezimmer und Flur abzuschrauben, sie verhüllte die Fenster mit doppelten Vorhängen, um zu verhindern, dass ihn nach Einbruch der Dunkelheit wieder sein Spiegelbild erschreckte.
Aber ausserhalb des Hauses drohten ja noch Schaufenster und Autoscheiben, die bei ihm Angst und Aggressionen auslösen konnten. Deshalb führte sie ihn nur noch tagsüber aus der Wohnung, und selbst dann musste sie unentwegt wachsam sein, um Zwischenfälle zu verhindern.
Einmal marschierte er auf einem Parkplatz ohne erkennbaren Grund wütend auf eine Frau los, die neben ihrem Wagen einparkte. Mit Mühe konnte Regina die erschreckte Frau beruhigen, die schliesslich sogar Verständnis zeigte, als sie erfuhr, dass der Mann an Alzheimer litt.
Doch solche Vorfälle wiederholten sich, und schliesslich ging sie mit ihrem Mann nur noch im Wald spazieren. Überhaupt verringerte sich nach und nach die Zahl der Ausflugsziele, weil Bernhard sich bei Restaurantbesuchen jedes Mal die Stoffservietten in die Hosentasche stopfte. Also besuchte sie mit ihm nur noch Biergärten, in denen es nichts dergleichen zu klauen gab.
Irgendwann war er kaum mehr gesellschaftsfähig
Regina hatte gewusst, was auf sie zukam. Fachbücher und Ratgeber hatten sie auf die Alltagsprobleme im Umgang mit ihrem dementen Mann vorbereitet. Geduld war gefragt, Toleranz und Einfühlungsvermögen, auch Diplomatie, wenn es darum ging, Verständnis für sein verstörendes Verhalten zu wecken. Trotzdem, irgendwann war er kaum noch gesellschaftsfähig.
Zum Beispiel als er begann, seinen Speichel im Mund zu sammeln und dann wahllos in die Gegend zu spucken. Sobald sie merkte, dass sich wieder einmal einiges angesammelt hatte, führte sie ihn zum Spucken an einen Grünstreifen oder Gartenzaun, einmal auch an ein Fenster, was den Protest einer Nachbarin hervorrief, die ihr Büro ein Stockwerk unter ihnen hatte und am geöffneten Fenster gearbeitet hatte.
Die Spuckphase wurde nach einer Weile durch eine neue Manie abgelöst: das Anfassen. Er wollte jedem die Hand schütteln, wildfremden Menschen, gern auch kleinen Kindern, deren Mütter sich über die verdächtige Annäherung des Mannes alles andere als amüsiert zeigten.
Ähnlich reagierte eine Dame, die bei einem Konzert neben ihnen sass und vor Schreck erstarrte, als er plötzlich ihren Fuss streichelte. Für diese Fälle hielt Regina ein Kärtchen parat, auf dem stand: »Bitte entschuldigen Sie, mein Mann leidet an Demenz.»
Nicht viel leichter zu ertragen war, dass er unterwegs jedes Fitzelchen von der Strasse aufhob. Und richtig schwer wog, dass er sich nicht mehr selbst waschen und anziehen konnte.
Oft dauerte es zwei Stunden, ehe sie ihn aus dem Pyjama geholt und unter die Dusche geschoben hatte. Drängelte sie, ging gar nichts mehr. Als sie ihn am Weihnachtsabend ins Bett bringen wollte, eskalierte die Situation: Er riss die Kerzen vom Weihnachtsbaum und stopfte sich Christbaumkugeln in den Mund. Sie ging dazwischen, und da umklammerte er sie so heftig und schmerzhaft, dass sie schrie.
Als er endlich losliess, rief sie ihren Bruder an, der wusste, wie es um sie und ihren Mann stand und als Arzt sofort erkannte, was zu tun war. Noch am selben Abend liess er Bernhard in die Psychiatrie einweisen.
Erinnern ein Segen, Vergessen ein Fluch
Sechs Wochen blieb Reginas Mann dort und wurde mit starken Medikamenten ruhiggestellt. So ruhig, dass er nicht einmal mehr den Kopf heben konnte, als er zu uns in die Sonnweid kam. Inzwischen kann er es wieder.
Jedes Mal freue ich mich, wenn ich durch mein Bürofenster sehe, wie er an der Hand seiner Regina durch den Garten spaziert. Oft hält er in der freien Hand eine Blume, die er aus einer Rabatte gezupft hat. Vielleicht ein Reflex aus seiner Zeit als emsiger Hobbygärtner, vielleicht auch eine ferne Erinnerung an die galante Begrüssungsgeste, die er ihr gegenüber sicher oft zelebriert hat.
Ich frage nicht. Ich glaube, er tut es einfach, auch wenn er den Grund dafür vergessen hat, denn Erinnerung und Vergessen sind ein ungleiches Geschwisterpaar, das zusammengehört, weil keines ohne das andere sein kann.
Warum also über die Gründe spekulieren, die Bernard bewegt haben, seiner Liebsten eine Blume zu schenken? Reicht es nicht, dass er es einfach getan hat? Während unseres gesamten Lebens erinnern und vergessen wir. Manchmal ist Erinnern ein Segen und Vergessen ein Fluch.
Von Jean Paul stammt der Satz, dass die Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Doch ob unser Leben tatsächlich ein Paradies war, hängt davon ab, wie wir das Erlebte bewerten.
Die zeitliche Distanz beeinflusst unsere Erinnerung sehr. Liegt ein Ereignis weit zurück, ist plötzlich alles gut oder schlecht. Die Undifferenziertheit nimmt zu, einzelne Erlebnisse werden unverhältnismässig stark gewichtet. Eine intensiv erlebte Kriegskameradschaft kann zum Beispiel dazu führen, die Militärzeit zu verklären.
Erinnerungen zu beschönigen, kann auch eine unbewusste Strategie sein, um mit schmerzvollen Erfahrungen der Kindheit umzugehen. Die Meinung, eine Ohrfeige habe noch niemandem geschadet, könnte Ausdruck dieser Haltung sein.
Umgekehrt werden Erlebnisse manchmal pauschal negativ bewertet, obwohl sie nicht nur negativ erlebt wurden. Oft anzutreffen ist dieses Phänomen, wenn es um das Verhältnis des Einzelnen zu Kirche und Religion geht. Da wird aus der aktuellen Haltung heraus das früher positiv Erlebte nur noch schlecht bewertet.
Und kann eine rigorose Ablehnung nicht gerade die Gefahr ausdrücken, die das Abgelehnte für mich darstellt? Signalisiert zum Beispiel Wut auf Homosexuelle möglicherweise die Angst, selbst homosexuell zu sein? Auch die Aussage »Das werde ich nie vergessen« ist Ausdruck eines starken Gefühls. Aber steht nicht auch die Angst dahinter, dass ich es dennoch vergesse und dass letztlich alles vergänglich ist?
Wir alle wissen, dass wir vergessen können. Wir fürchten, dass wir prägende Erinnerungen vergessen. Und wir alle wünschen uns manchmal, dass wir vergessen könnten.