Meine Mutter - demenzjournal.com
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Der Sohn erzählt

Meine Mutter

Meine Mutter: Ihre offene, lustige und unkomplizierte Art, manchmal etwas vorlaut, aber immer zu einem Spässchen aufgelegt, wirkt durchaus belebend. Bild R. Frey

Demenz – davon hatte ich gehört, damit zog man gelegentlich den einen oder andern Kollegen spielerisch auf. Es war nur ein Wort, nichts weiter, es berührte mich nicht. Genauso wenig wusste ich damals, was es einmal für mich bedeuten würde.

Nach einer Infektion veränderte sich meine Mutter zusehends: Uns fiel auf, dass sie sehr unkonzentriert war, sie vergass fortlaufend, worüber man eben noch gesprochen hatte. Zu Beginn schrieben wir diese Vergesslichkeit ihrer Zerstreutheit zu und hielten sie an, bei der Sache zu bleiben.

Speziell meinem Vater gelang es nicht, diese Vergesslichkeit zu akzeptieren, immer wieder fragte er sie nach Daten, Geburtstagen, Ortsnamen, Hochzeiten, Namen. Er empfand es als Belustigung und zugleich als persönliche Beleidigung, dass sie sich an all diese Dinge nicht mehr erinnern konnte. Mein Vater war weit davon entfernt, sich mit dieser Krankheit auseinanderzusetzen, ich glaube, er konnte ihr Verhalten auch später nie als Teil der Krankheit verstehen.

Meine Mutter wurde zusehends böse und aggressiv. Es brauchte manchmal nur eine kleine Bemerkung, die ihr eine Gedächtnislücke aufzeigte, und schon brachte der Funken die aufgestaute Ladung zur Explosion. In wüsten Beschimpfungen tadelte sie meinen Vater, was sich in der Folge zu lautstarken, manchmal gar handgreiflichen Streitereien hochschaukelte.

Für mich war das eine sehr schwierige Zeit. Zu spüren, dass meine Mutter sich rasant veränderte, immer weniger sie selbst war, all dies erfüllte mich mit Trauer, Ohnmacht und Wut. Bei den gelegentlichen Treffen kannte sie mich zwar, und sie wusste noch, dass meine Frau etwas mit mir zu tun hatte, aber dass wir verheiratet waren, war gelöscht.

Schon beim nächsten Besuch konnte es sein, dass sie mich nicht mehr erkannte. Was dann? Offenbar eher mein Problem als ihres. Ich ertappte mich beim Gedanken, dass es mir lieber wäre, meine Mutter so in Erinnerung zu behalten, wie sie zu «Lebzeiten» war, und nicht als Hülle ihrer selbst.

Unweigerlich kommt man zu Fragen wie:

Was macht eigentlich das Menschsein aus? Wann hört der Mensch auf, Mensch zu sein (nicht auf die Menschlichkeit, sondern auf die Biologie bezogen)?

Was ist das Leben wert, und wie lange soll/darf/muss eine Gesellschaft im Namen der Menschlichkeit Körper pflegen, die nicht viel mehr sind als leere Hüllen? Welchen Wert haben Erinnerungen, Freundschaft und Zweisamkeit? Wann ist von all dem genug? Und dann natürlich die Frage des Loslassens als Kernproblem des Menschseins.

Loslassen: Es scheint, da wurde mir einmal mehr eine Übung vorgelegt. Ich selbst hatte dazuzulernen, nicht die Umgebung! Diese Erkenntnis machte mich lockerer im Umgang mit meiner Mutter.

Meine Eltern, das waren bis zu jenem Zeitpunkt sehr fleissige, einfache Bauersleute, die viel Mühsal und Arbeit auf sich nahmen, um ihr eigenes Gemüse, die eigenen Kartoffeln, die eigenen Früchte und Beeren heimzubringen. Allem Gekauften trauten sie nicht, und tatsächlich, wenn man gekaufte und eigene Waren verglich, so schwangen ihre Produkte qualitativ weit obenaus. Ihren Garten zu pflegen und sich an den Produkten zu freuen, das war ihr gemeinsames Hobby und ihr Stolz, seit sie beide pensioniert waren,Daneben züchteten sie Kaninchen und lange Zeit auch Hühner.

Mit der geistigen Veränderung, die stattfand, wurde meine Mutter zusehends träger und mochte nicht mehr so viel schaffen. Dies hatte natürlich Konsequenzen für die Partnerschaft, es entfiel eine verbindende Basis.

Nach einigen Diskussionen, etwa zwei Jahre später, war sie endlich bereit, ihre Vergesslichkeit abklären zu lassen. Die Diagnose lautete Alzheimer. Ich glaube nicht, dass sie verstand, was die Ärzte damit meinten, oder was das überhaupt mit ihr zu tun haben sollte. Ihr ging es ja gut, sie war, wenn sie jemand fragte, kerngesund und rundum zufrieden.

Rückblickend werde ich den Eindruck nicht los, dass meine Mutter zu Beginn ihrer Demenz einen Schalter auf «Ich will nicht mehr» kippte,

vermutlich noch zusätzlich verstärkt durch die Nichtakzeptanz ihrer Krankheit und das dauernde Bewusstmachen ihres Versagens durch Familienmitglieder.

Inzwischen ist meine Mutter in der Demenzabteilung eines Pflegeheims, in einer Umgebung, in der sie so akzeptiert wird, wie sie ist. Dort leben Menschen in fortgeschrittenem Alzheimerstadium zusammen, die kaum miteinander sprechen, in Teilnahmslosigkeit versunken, man lebt am selben Ort, aber jeder in seiner eigenen Welt.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Am Rande bemerkt: Letzthin nahm mich eine Bewohnerin beiseite und sagte (es war so unerwartet eindrücklich, deshalb kann ich sie wörtlich zitieren): «Nun seien Sie doch vernünftig und lassen Sie mich hier raus! Ich halte es hier drin nicht mehr aus.» Das gab mir ordentlich zu denken, vor allem, ob in einem solchen Heim die Bewohnerinnen auch wirklich ausreichend beschäftigt werden.

Meine neu zugezogene Mutter ist eine Ausnahmeerscheinung: Ihre offene, lustige und unkomplizierte Art, manchmal etwas vorlaut, aber immer zu einem Späßchen aufgelegt, wirkt durchaus belebend. Und sie kann noch sehr gut beim Kochen und Aufräumen helfen.

Wenn wir zu Besuch kommen, entdecke ich eine menschliche Stärke in ihr, die mir vorher nicht bewusst war, die früher vielleicht nicht sichtbar war.

Ihre Fröhlichkeit und kindliche Unbeschwertheit haben etwas Ansteckendes. Hätte ich mir vor der Heimzeit einfach nur noch das Aus für meine Mutter gewünscht, sehe ich jetzt, dass sie – endlich unbelastet von all den Problemen mit ihrem Ehepartner – in einem anderen Leben aufblüht. Einem Leben, dem vielleicht die angestrebte Leere des Zen-Buddhismus als höchster Stufe menschlicher Entwicklung nahekommt?

Ich jedenfalls bin positiv gespannt, wie sich diese Geschichte weiterentwickelt, und behalte diese guten Erinnerungen in meinem Schatzkästchen. Nicht dass ich jetzt zu einem Befürworter von Demenz und Vergessen geworden wäre, aber irgendwie bin ich mit dem Schmerz des Verlustes versöhnt und zuversichtlich, dass auch diese Geschichte ein würdiges Ende finden kann.


Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen bei rüffer & rub. Wir danken dem Verlag für die Gelegenheit zur Veröffentlichung auf unserer Plattform.
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