«Ich nehme es ihm nicht übel, wenn er unseren Hochzeitstag vergisst» - demenzjournal.com

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«Ich nehme es ihm nicht übel, wenn er unseren Hochzeitstag vergisst»

Alfred und Jutta Ahrens

Alfred und Jutta Ahrens: Sie heirateten 1977, da war er 33 und sie 22. Ihre Telefonnummer fing immer mit 66 an. Franziska Wolffheim

Alfred Ahrens hat vor einem Jahr eine Demenz-Diagnose bekommen. Seine Frau Jutta und er haben sich damit arrangiert und versuchen, dem Alltag auch Schönes abzugewinnen – so gut es geht.

«Bald fahren wir nach Berlin», sagt Alfred Ahrens zu seiner Frau Jutta.

«Nach Berlin? Wir waren doch gerade erst dort», antwortet sie.

«Ach so. Wie komme ich bloss darauf?»

«Wir fahren bald nach Bad Bevensen, das meinst du vielleicht.»

«Na gut, dann Bad Bevensen. Das ist sicher auch schön.»

Jutta und Alfred Ahrens wohnen in einer kleinen, sehr aufgeräumten Wohnung im Osten von Hamburg. Im Flur hängen mehrere St-Pauli-Käppis, Alfred Ahrens, gebürtiger Hamburger, ist Fan des Fussballvereins. Ab und zu hört man Züge, die über die nahen Bahngleise fahren. Im Sommer sitzen sie häufig auf dem Balkon, der Blick geht ins Grüne.

1977 haben sie geheiratet, mittlerweile kennen sie sich rund 50 Jahre, beide sehen jünger aus, als sie sind.

Wenn man sie miteinander erlebt, hat man das Gefühl, dass sie freundlich miteinander umgehen. Richtet man das Wort an ihn, schaut er oft fragend seine Frau an, und nicht selten antwortet sie für ihn. Überhaupt spricht der 77-Jährige nicht viel, sondern hört lieber zu. Das sei aber, sagt seine Frau, die ausgesprochen lebhaft wirkt, immer schon so gewesen, ihr Mann habe in der Beziehung eher den passiven Part gehabt.

Die Diagnose war für beide ein Schock

Vor einem Jahr hat Alfred Ahrens die Diagnose vaskuläre Demenz bekommen. Dass er vorher immer wieder Dinge vergass, hatte seine Frau auf den Ruhestand geschoben, da er – er hatte als Verkaufsfahrer gearbeitet – als Rentner nicht mehr so gefordert war. Die Diagnose, sagt Jutta Ahrens, sei dann ein Schock für beide gewesen.

Andererseits hatten sie und ihr Mann nun «etwas Greifbares», eine Erklärung an der Hand. «Meine Frau hat jetzt keinen Grund mehr, mit mir zu schimpfen, wenn ich etwas vergessen habe», hat Alfred Ahrens zu dem Neurologen gesagt, der ihm die Diagnose überbrachte. Man kann das Galgenhumor nennen.

Jutta Ahrens ahnte, dass jetzt ihre Geduld gefragt war, eine Tugend, die nicht unbedingt ihre Stärke sei. Wenn ihr Mann zum Beispiel immer wieder fragte, wo er seine Schlüssel hingelegt hatte, oder wann der Sohn oder die Tochter zu Besuch kommt.

«Manchmal bin ich dann laut geworden, habe etwa ärgerlich zu ihm gesagt: ,Du weisst doch, dass du dir die Haare mit Shampoo und nicht mit Mundwasser waschen sollst.’ Natürlich hilft so ein Satz nicht, und ich habe mich über mich selbst geärgert. Auch heute komme ich leider ab und zu in solche Situationen. Aber ich bin auch nur ein Mensch.» 

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Immerhin konnte ihr Mann nach der Diagnose noch einiges tun, was er früher auch konnte: zum Beispiel Frühstück machen, im Supermarkt einkaufen. Viele, die ihn kannten, merkten nicht einmal etwas von seiner Krankheit. Im Freundeskreis und bei den Nachbarn ist das Paar immer offen mit der Demenz umgegangen, «die Resonanz war positiv, viele zeigten Verständnis», sagt die 66-Jährige, die wie ihr Mann aus Hamburg stammt.

Anfang dieses Jahres hat es einen deutlichen Krankheitsschub gegeben. Der womöglich damit zu tun hat, dass Alfred Ahrens länger im Krankenhaus war. Er bekam eine neue Herzklappe und einen Herzschrittmacher, dazu erkrankte er in der Klinik an Corona.

Wegen der Quarantäne durfte seine Frau ihn nicht besuchen, er war isoliert und apathisch.

«Als mein Mann aus dem Krankenhaus kam, war er völlig verändert, ich habe ihn nicht wiedererkannt», sagt Jutta Ahrens. «Ob das an der Narkose oder an Corona lag, weiss ich nicht.» In jedem Fall war sein Kurzzeitgedächtnis beträchtlich schlechter geworden. Heute kann er den Tisch nicht mehr richtig decken oder legt sich die Tabletten auf sein Butterbrot.

«Weisst du welcher Tag gestern war?», fragt sie ihn.

«Sonntag, oder?»

«Genau. Und weisst du noch, was wir gestern gemacht haben?»

Er überlegt länger. «Nein, das ist total weg.»

«Wir waren kegeln, mit unserer Kegelgruppe. Du bist ja ziemlich gut darin.»

«Ach ja, stimmt. Es hat Spass gemacht.»

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Früher, meint Jutta Ahrens, die als Verwaltungsangestellte gearbeitet hat und seit 2019 in Rente ist, habe sie mehr für sich selbst machen, mit Freundinnen etwas unternehmen können. «Ich konnte egoistischer sein, aber das geht jetzt nicht mehr. Alles hat seine Zeit.»

Was ihr immer wieder hilft: dass ihr Mann nicht klagt, nicht hadert, sondern die Krankheit akzeptiert.

Dass er meist gut gelaunt ist, so wie sie es auch früher bei ihm erlebt hat. Manchmal passiert es, dass Alfred Ahrens einen sauberen Teller in den Kühlschrank und nicht in den Schrank stellt. Oder dass er die Fernbedienung des Fernsehens mit dem Telefon verwechselt.

Dann ärgert er sich über sich selbst. Trotzdem komme er noch ganz gut mit seiner Krankheit klar, wie er sagt. Was ihm immer wieder hilft, ist Dankbarkeit: «Ich bin sehr froh, dass ich meine Frau habe, bei ihr bin ich in guten Händen.»

Inseln im Alltag organisieren

Jutta Ahrens versucht, regelmässig ein paar Inseln im Alltag zu organisieren, die für beide etwas Schönes bieten: ein Konzert oder Musical besuchen, zum Hafen fahren, über den weitläufigen Ohlsdorfer Friedhof gehen. Oder am Hochzeitstag mit dem Dampfer über die Alster schippern. «Ich nehme es ihm nicht übel, wenn er unseren Hochzeitstag vergisst», sagt sie, «die Hauptsache ist, dass wir den Tag gemeinsam geniessen.»

Einmal in der Woche geht ihr Mann in die Tagesbetreuung; den Weg, eineinhalb Kilometer zu Fuss, schafft noch er allein. «Ich bin immer dort angekommen und habe mich noch nie verlaufen», sagt er, und es klingt ein bisschen stolz.

Jutta und Alfred Ahrens kennen sich seit 55 Jahren.Franziska Wolffheim

Auch im Schiessverein, in dem er Mitglied ist, hat er Erfolgserlebnisse. Mit dem Luftgewehr wird auf kleine Scheiben geschossen, «das gelingt ihm noch recht gut», sagt seine Frau. «Ausserdem mag er es, mal unter Männern zu sein.» Die anderen Männer wissen Bescheid, es gibt kein Tabu.

Freitage für Jutta Ahrens

An manchen Tagen hat Jutta Ahrens frei. Wenn der Sohn, der in der Nähe wohnt, oder die Tochter sich um den Vater kümmert, häufig springt auch ihre Schwägerin ein. Oder wenn ihr Mann in der Tageseinrichtung ist. Dann trifft sie eine Freundin, bummelt mit ihr durch die Stadt. Oder sie geht walken, eines ihrer Lieblingshobbys.

«Natürlich gibt es Tage, an denen ich bedrückt bin. Aber ich möchte nicht ständig an die Krankheit denken: Was ist in einem Jahr, muss mein Mann bald ins Heim? Ich versuche, beim heutigen Tag zu bleiben. Ich geniesse es zum Beispiel, auf dem Balkon zu stehen und die Sonne aufgehen zu sehen. Oder abends den Vollmond zu bewundern.»

«Es gibt immer irgendetwas Schönes in der Welt.»

Wichtig findet sie ausserdem, sich Rat und Hilfe zu holen, etwa in einer Angehörigengruppe, die sie regelmässig besucht. «Man darf sich mit seinen Problemen nicht verkriechen.»

Einmal, es ist schon länger her, hat ein Radiosender das Paar besucht, um einen Bericht über die beiden zu machen. Alfred und Jutta Ahrens sind nämlich ein «Schnapspaar»: Alfred wurde 1944, Jutta 1955 geboren, 1977 haben sie geheiratet, da war er 33, sie 22 Jahre alt. Und ihre Telefonnummer fing immer mit 66 an. «So viele Schnapszahlen», sagt Jutta Ahrens, «das ist doch ein Zeichen, dass es uns gut miteinander geht.»

«Es liegt an dir, dass wir zufrieden sind», sagt er.

«Auch an dir, du bist ausgeglichen, trotz der Krankheit.»

«Ich weiss nicht, warum ich schlechte Laune haben sollte.»

«Manchmal bist du allerdings traurig, das merke ich. Das machst du dann mit dir selbst aus. Und manchmal regst du dich auch auf.»

«Wann denn?»

«Überleg doch mal.»

«Ich weiss es nicht.”

«Na, beim Fussball. Wenn St. Pauli verliert.»

Zehn Tipps für Angehörige von Jutta Ahrens

  • Rituale einhalten, soweit möglich, etwa abends gemeinsam Karten spielen oder nach dem Frühstück zusammen spazieren gehen.
  • Geduldig bleiben und dem Betroffenen keine Vorwürfe machen, dass er (wieder) etwas vergessen hat.
  • Ruhe ausstrahlen: Menschen mit Demenz reagieren oft sehr empfindlich auf Hektik um sie herum und können sich schlecht abschotten. Langsam und zugewandt sprechen, den Augenkontakt halten. Auch einfühlsame Berührungen oder ein Lächeln können beruhigend wirken.
  • Gelassen und empathisch bleiben. Menschen mit einer Demenz-Diagnose reagieren mitunter aggressiv – eine grosse Herausforderung für die Angehörigen. Sie sollten dieses Verhalten in keinem Fall persönlich nehmen, sondern als Symptom der Krankheit verstehen und am besten verständnisvoll und deeskalierend agieren. Sätze wie «Ich verstehe, dass dich das aufregt» können die Situation entspannen und dem anderen zeigen, dass er ernst genommen wird.
  • Über schöne Erlebnisse in der Vergangenheit sprechen, die oft noch gut im Gedächtnis des erkrankten Familienmitglieds verankert sind, um positive Stimmungen zu erzeugen.
  • Wenn gemeinsame Reisen noch möglich sind: Angebote nutzen, die gezielt für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen angeboten werden.
  • Als Partner auf Selbstfürsorge achten: sich etwas Gutes tun, Freiräume schaffen, Freundschaften und Hobbys pflegen.
  • Andere Familienmitglieder einbinden, die sich ebenfalls kümmern können, genaue Absprachen mit ihnen treffen.
  • Sich Rat und Hilfe holen, mit anderen Betroffenen austauschen, etwa in einer Angehörigengruppe. 
  • Rechtzeitig Pflegeeinrichtungen anschauen und überlegen, welches Modell in Frage kommt. Es ist nicht ehrenrührig, wenn der oder die betreuende Angehörige einen Pflegedienst in Anspruch nimmt oder irgendwann die Pflege zu Hause gar nicht mehr.