Interview von Michael Gleich, Mut – Magazin für Lösungen
Das Ziel von Palliativmedizinern wie Ihnen ist nicht Heilung von Krankheiten, sondern die Linderung von Leiden. Können Sie wirklich garantieren, dass heutzutage jeder Mensch ohne Qualen sterben kann?
Dr. Andreas Weber: Ja, das können wir, jedenfalls in der Endphase einer Krankheit. Die Schmerztherapien haben in den vergangenen Jahren grosse Fortschritte gemacht. Auch Begleiterscheinungen wie Atemnot und Erbrechen kann man unterdrücken. Aber Schmerzfreiheit hat seinen Preis: Das Bewusstsein wird getrübt, in Extremfällen ist sogar eine Narkose nötig.
Diesen Preis wird doch sicher jeder gerne zahlen, oder?
Manche Patienten beruhigt der Gedanke, dahinzudämmern und irgendwann endgültig einzuschlafen.
Es gibt aber auch spirituell motivierte Menschen, denen es wichtig ist, bei klarem Verstand zu sterben. Sie wollen Schmerzen in Kauf nehmen.
Obwohl die überwiegende Mehrheit der Patienten gern zuhause sterben würde, ist das nur einem Fünftel möglich. Woran liegt das?
Oft wird der Moment nicht erkannt, wo man im Spital das Leben nicht mehr retten kann oder wo es für die Betroffenen kein Ziel mehr ist, ihr Leben noch zu verlängern.
Wenn das Behandlungsziel sorgfältig geklärt wird, können wir mit ihnen besprechen, wie wir in Krisensituationen vorgehen können. Und bei Bedarf kann unser Team rund um die Uhr vorbeikommen.
Wir stellen selbst komplizierte Apparaturen wie Schmerzpumpen bereit, die von den Patienten selbstständig bedient werden. Wir bringen das Spital ins Wohnzimmer. So können über 60 Prozent unserer Patienten zuhause sterben.
Sind es vor allem die technischen Möglichkeiten, die Sicherheit geben?
Nein, der wichtigste Faktor ist die menschliche Beziehung. Die Schwerkranken lernen mich und meine Kolleginnen schon im Spital kennen. Sie vertrauen uns.
Wenn sie morgens entlassen werden, treffen wir sie manchmal nachmittags schon wieder bei ihnen zuhause. Sie entspannen sich, weil sie wissen, dass sie in guten Händen bleiben.
Ist Ihr System teurer als die normale Pflege?
24-Stunden-Bereitschaft ist natürlich ein erhöhter Aufwand. Aber die finanziellen Vorteile sind weit grösser:
Durch die gute häusliche Betreuung senken wir die Zahl der teuren Notfalleinweisungen.
Wenn Ihr Modell so viele Vorteile hat, warum gibt es nicht mehr Palliativ-Teams, die genau so arbeiten?
Die grösste Hürde sind unterschiedliche Abrechnungstöpfe für Behandlungen im Spital und zuhause. Wir mussten verschiedenste Zulassungen beantragen und mit allen Gemeinden in unserem Tätigkeitsgebiet Verträge aushandeln.
Was ist Ihre eigene Rolle bei Palliative Care?
Manchmal fühle ich mich eher als Netzwerker denn als Arzt. Ich verbinde Patient, Hausarzt, ambulante Pflege und Angehörige, gemeinsam knüpfen wir ein Betreuungsnetz. Medikamente, einkaufen, waschen, sitzwachen – gut koordiniert.
Aber immer mehr Menschen leben in Single-Haushalten, in vielen Grossstädten bereits die Hälfte.
Umso wichtiger sind diese Sicherheitsnetze. Sie können auch aus Nachbarn oder Freunden bestehen. Deren Bereitschaft zu helfen ist hoch.
Bei einer repräsentativen Umfrage gaben 75 Prozent der Schweizer an, einen halben Tag pro Woche einen Menschen, der nahesteht, im letzten Lebensmonat zu betreuen.
Gibt es Hürden, diese Unterstützung auch wirklich zu erbitten?
Ja, das erleben wir häufig. Wenn ein Patient sich davor scheut, braucht es einen Initiator, der andere anspricht. Oft bin ich das selbst. Eine schwerkranke 93-Jährige, die in einem Mietshaus lebte, hatte zwar Sohn und Tochter, doch die waren voll berufstätig.
Sie fühlten sich überfordert. Ich ging von Wohnung zu Wohnung und fragte Nachbarn, ob sie bereit wären zu helfen. Drei von fünf erklärten sich sofort bereit, einzukaufen oder mal am Bett der Kranken zu wachen. Menschen sind grundsätzlich hilfsbereiter als man denkt.
Das Wetziker System
In Deutschland gibt es mehr als 300 Teams, die sich auf ambulante Palliativversorgung spezialisiert haben, Tendenz steigend. Das System von Palliative Care in Wetzikon bei Zürich, das die lückenlose Betreuung zwischen Krankenhaus und Zuhause gewährleistet, ist nach Kenntnis von Dr. Andreas Weber noch nirgends übernommen worden. Weber hat eine Stiftung gegründet, um Palliative Care zu fördern. Mehr Informationen über die Andreas Weber-Stiftung finden Sie hier.
Müssen auch Ihre Kollegen umdenken?
Ärzte sind darauf eingeschworen, das Leben zu verlängern. Sie glauben zu wissen, dass jeder Patient darauf aus ist, so lange wie möglich zu leben.
Doch bei vielen Schwerkranken ist das anders. Wenn man sie fragt, überraschen sie oft damit: Ich möchte lieber bald gehen. Doch viele Ärzte stellen die Frage nicht, sie sind für solche Gespräche nicht geschult.
Sind Sterben und Tod immer noch gesellschaftliche Tabus?
Nein. Das Interesse wächst. Doch meist beschäftigen sich Menschen erst dann damit, wenn sie persönlich oder als Angehörige betroffen sind.
Anders als bei chronischen Krankheiten erlischt das Interesse schnell wieder. Deshalb gibt es auch keine starke Lobby für die neuen Formen der Sterbebegleitung, wie wir sie anbieten.
Sollten sich junge Menschen schon mit ihrer Vergänglichkeit auseinandersetzen?
Unbedingt. Einmal weil keiner von uns weiss, wann ihm die Stunde schlägt. Aber auch deshalb, weil wir das Leben verpassen, wenn wir den Tod verdrängen.
Viele glauben, sie könnten das Leben nur dann unbeschwert geniessen, wenn sie nicht ans Ende denken. Meine eigene Erfahrung spricht dagegen.
Stimmt, todtraurig wirken Sie nicht gerade. Dabei sehen Sie doch täglich viel Leid. Wie gehen Sie damit um?
Ich lasse mich berühren, aber ich steige nicht ein ins Elend anderer. Das ist für mich die Gratwanderung zwischen Mitfühlen und Mitleiden. Ausserdem habe ich in meiner ärztlichen Laufbahn niemals zuvor soviel Dankbarkeit von Patienten bekommen wie jetzt. Diese Wertschätzung freut und bestärkt mich immer wieder.