«Ein freudvolles Ja zum Leben» - demenzjournal.com
chatbot

Palliative Care

«Ein freudvolles Ja zum Leben»

Der Arzt Andreas Weber begleitet unheilbar Kranke in ihren letzten Monaten. Sie sollen würdevoll und schmerzfrei sterben. Möglichst zuhause. Ein Gespräch mit dem Palliativmediziner über sein Modell, das als einzigartig gilt.

Interview von Michael Gleich, Mut – Magazin für Lösungen

Das Ziel von Palliativmedizinern wie Ihnen ist nicht Heilung von Krankheiten, sondern die Linderung  von Leiden. Können Sie wirklich garantieren, dass heutzutage jeder Mensch ohne Qualen sterben kann?

Dr. Andreas Weber: Ja, das können wir, jedenfalls in der Endphase einer Krankheit. Die Schmerztherapien haben in den vergangenen Jahren grosse Fortschritte gemacht. Auch Begleiterscheinungen wie Atemnot und Erbrechen kann man unterdrücken. Aber Schmerzfreiheit hat seinen Preis: Das Bewusstsein wird getrübt, in Extremfällen ist sogar eine Narkose nötig.

Diesen Preis wird doch sicher jeder gerne zahlen, oder?

Manche Patienten beruhigt der Gedanke, dahinzudämmern und irgendwann endgültig einzuschlafen.

«Ich habe als Arzt niemals so viel Dankbarkeit bekommen wie jetzt.» Eine Bilanz, die dem Palliativmediziner Andreas Weber (58) seinen Dienst leichter macht.Bild Maurice Haas

Es gibt aber auch spirituell motivierte Menschen, denen es wichtig ist, bei klarem Verstand zu sterben. Sie wollen Schmerzen in Kauf nehmen.

Obwohl die überwiegende Mehrheit der Patienten gern zuhause sterben würde, ist das nur einem Fünftel möglich. Woran liegt das?

Oft wird der Moment nicht erkannt, wo man im Spital das Leben nicht mehr retten kann oder wo es für die Betroffenen kein Ziel mehr ist, ihr Leben noch zu verlängern.

Wenn das Behandlungsziel sorgfältig geklärt wird, können wir mit ihnen besprechen, wie wir in Krisensituationen vorgehen können. Und bei Bedarf kann unser Team rund um die Uhr vorbeikommen.

Wir stellen selbst komplizierte Apparaturen wie Schmerzpumpen bereit, die von den Patienten selbstständig bedient werden. Wir bringen das  Spital ins Wohnzimmer. So können über 60 Prozent unserer Patienten zuhause sterben.

Sind es vor allem die technischen Möglichkeiten, die Sicherheit geben?

Nein, der wichtigste Faktor ist die menschliche Beziehung. Die Schwerkranken lernen mich und meine Kolleginnen schon im Spital kennen. Sie vertrauen uns.

Wenn sie morgens entlassen werden, treffen wir sie manchmal nachmittags schon wieder bei ihnen zuhause. Sie entspannen sich, weil sie wissen, dass sie in guten Händen bleiben.

Ist Ihr System teurer als die normale Pflege?

24-Stunden-Bereitschaft ist natürlich ein erhöhter Aufwand. Aber die finanziellen Vorteile sind weit grösser:

Durch die gute häusliche Betreuung senken wir die Zahl der teuren Notfalleinweisungen.

Und auch medizinisch können wir punkten: Wertvolles Wissen bleibt auf dem Weg zwischen Krankenhaus und Zuhause erhalten, etwa Informationen, welches Medikament gut wirkt, welches nicht, welche negativen Nebenwirkungen aufgetreten sind.

Wenn Ihr Modell so viele Vorteile hat, warum gibt es nicht mehr Palliativ-Teams, die genau so arbeiten?

Die grösste Hürde sind unterschiedliche Abrechnungstöpfe für Behandlungen im Spital und zuhause. Wir mussten verschiedenste Zulassungen beantragen und mit allen Gemeinden in unserem Tätigkeitsgebiet Verträge aushandeln.

Was ist Ihre eigene Rolle bei Palliative Care?

Manchmal fühle ich mich eher als Netzwerker denn als Arzt. Ich verbinde Patient, Hausarzt, ambulante Pflege und Angehörige, gemeinsam knüpfen wir ein Betreuungsnetz. Medikamente, einkaufen, waschen, sitzwachen – gut koordiniert.

Aber immer mehr Menschen leben in Single-Haushalten, in vielen Grossstädten bereits die Hälfte.

Umso wichtiger sind diese Sicherheitsnetze. Sie können auch aus Nachbarn oder Freunden bestehen. Deren Bereitschaft zu helfen ist hoch.

Bei einer repräsentativen Umfrage gaben 75 Prozent der Schweizer an, einen halben Tag pro Woche einen Menschen, der nahesteht, im letzten Lebensmonat zu betreuen.

Gibt es Hürden, diese Unterstützung auch wirklich zu erbitten?

Ja, das erleben wir häufig. Wenn ein Patient sich davor scheut, braucht es einen Initiator, der andere anspricht. Oft bin ich das selbst. Eine schwerkranke 93-Jährige, die in einem Mietshaus lebte, hatte zwar Sohn und Tochter, doch die waren voll berufstätig.

Sie fühlten sich überfordert. Ich ging von Wohnung zu Wohnung und fragte Nachbarn, ob sie bereit wären zu helfen. Drei von fünf erklärten sich sofort bereit, einzukaufen oder mal am Bett der Kranken zu wachen. Menschen sind grundsätzlich hilfsbereiter als man denkt.

Das Wetziker System

In Deutschland gibt es mehr als 300 Teams, die sich auf ambulante Palliativversorgung spezialisiert  haben, Tendenz steigend. Das System von Palliative Care in Wetzikon bei Zürich, das die lückenlose Betreuung zwischen Krankenhaus und Zuhause gewährleistet, ist nach Kenntnis von Dr. Andreas Weber noch nirgends übernommen worden. Weber hat eine Stiftung gegründet, um Palliative Care zu fördern. Mehr Informationen über die Andreas Weber-Stiftung finden Sie hier.

Müssen auch Ihre Kollegen umdenken?

Ärzte sind darauf eingeschworen, das Leben zu verlängern. Sie glauben zu wissen, dass jeder Patient darauf aus ist, so lange wie möglich zu leben.

Doch bei vielen Schwerkranken ist das anders. Wenn man sie fragt, überraschen sie oft damit: Ich möchte lieber bald gehen. Doch viele Ärzte stellen die Frage nicht, sie sind für solche Gespräche nicht geschult.

Sind Sterben und Tod immer noch gesellschaftliche Tabus?

Nein. Das Interesse wächst. Doch meist beschäftigen sich Menschen erst dann damit, wenn sie persönlich oder als Angehörige betroffen sind.

Anders als bei chronischen Krankheiten erlischt das Interesse schnell wieder. Deshalb gibt es auch keine starke Lobby für die neuen Formen der Sterbebegleitung, wie wir sie anbieten.

Sollten sich junge Menschen schon mit ihrer Vergänglichkeit auseinandersetzen?

Unbedingt. Einmal weil keiner von uns weiss, wann ihm die Stunde schlägt. Aber auch deshalb, weil wir das Leben verpassen, wenn wir den Tod verdrängen.

Viele glauben, sie könnten das Leben nur dann unbeschwert geniessen, wenn sie nicht ans Ende denken. Meine eigene Erfahrung spricht  dagegen.

In der Begegnung mit dem Tod kann ich mich fragen: Verbringe ich meine Zeit mit Dingen, die mir wirklich wichtig sind? Trägt meine Existenz dazu bei, das Leben anderer ein bisschen besser zu machen? Wenn ich das bejahen kann, ist das ein freudvolles Ja zum Leben.

Stimmt, todtraurig wirken Sie nicht gerade. Dabei sehen Sie doch täglich viel Leid. Wie gehen Sie damit um?

Ich lasse mich berühren, aber ich steige nicht ein ins Elend anderer. Das ist für mich die Gratwanderung zwischen Mitfühlen und Mitleiden. Ausserdem habe ich in meiner ärztlichen Laufbahn niemals zuvor soviel Dankbarkeit von Patienten bekommen wie jetzt. Diese Wertschätzung freut und bestärkt mich immer wieder.

Man sagt, vor dem Tod sind alle gleich. Sterben auch alle auf gleiche Weise?

Nein, die Unterschiede sind enorm. Und für mich oft überraschend. Jemand, den ich bei Gesprächen sehr reflektiert erlebt habe, fing plötzlich wider besseres Wissen an, gegen das Unvermeidliche zu kämpfen. Andere, denen ich es kaum zugetraut hätte, finden eine innere Ruhe, ordnen ihre Dinge und gehen mit grosser Gelassenheit in dieses letzte grosse Abenteuer.

Sterben Gläubige leichter?

Das ist sehr unterschiedlich. Einige freuen sich regelrecht aufs Jenseits und darauf, dort mit Jesus vereint zu sein. Andere entwickeln ungeahnte Ängste und wehren sich verzweifelt.

Die Möglichkeit, sich dem Kontrollverlust hinzugeben und demütig das eigene Ende zu akzeptieren, scheint mir auch ein Akt der Gnade zu sein.

Was raten Sie Freunden und  Angehörigen, die einen Menschen auf den letzten Metern begleiten?

Das klingt jetzt vielleicht überraschend: Ich empfehle, sich auch um sich selbst zu kümmern. Finden Sie eine gute Balance zwischen der Fürsorge für den Patienten und der Selbstfürsorge. Schaffen Sie sich Inseln im Alltag, wo Sie Freude empfinden können, denn sie wissen nicht, wie lange die Pflege gehen wird.

Wichtig ist auch, die Hilfe von anderen gut zu organisieren. Spontane Besuche belasten oft nur. Besser ist es, Sitzwachen zu organisieren, das heisst, jemand verbringt einige Stunden am Krankenbett. Diese Präsenz sollte möglichst lückenlos sein.

Ganz wichtig: Seien Sie bereit, Verantwortung an andere abzugeben. Zwar können Fehler passieren, aber die können Ihnen auch selbst unterlaufen. Seien Sie bereit, Kontrolle abzugeben!

Gibt es etwas, was uns der Tod fürs Leben lehren kann?

Aus meiner Sicht rät er den Menschen, so zu leben, dass sie möglichst wenig Grund zur Reue haben, wie es der amerikanische Psychiater Irvin Yalom ausdrückte. Damit meine ich vor allem, nichts Wichtiges zu verschieben. Denn das birgt die Gefahr, eines Tages sagen zu müssen: Hätte ich doch dieses oder jenes noch gemacht.

Mir sagte mal ein Mann, «wenn ich gewusst hätte, dass es so schnell gehen kann, dann hätte ich mehr Zeit mit meinen Kindern verbracht». Jemanden zu begleiten, der mit dieser Verzweiflung stirbt, finde ich besonders belastend.

Eines Ihrer Projekte ist der «Lebensspiegel». Unter therapeutischer Begleitung schreiben alte Menschen und unheilbar Kranke eine Art Bilanz ihres Lebens. Was soll das bringen?

Wir haben das Konzept von dem Psychiater Harvey Chochinov übernommen. In der letzten Phase sind Menschen oft bedrückt, konzentrieren sich nur auf die jetzige schwierige Situation.

Wenn sie, angeleitet von unseren erfahrenen Seelsorgern und Psychologen, den Blick weiten und auf schöne, intensive, erfüllte Stationen ihres Lebens blicken, hat das einen sehr heilsamen Effekt.

Der Text ist für Freunde und Angehörige bestimmt. Damit entsprechen wir dem Wunsch, ihren Liebsten etwas Bleibendes zu hinterlassen. Das tröstet.

Wird das Angebot angenommen?

Wir bieten den Lebensspiegel allen Patienten an. Jeder Fünfzehnte nimmt das Angebot an.

Beim Rückblick tauchen doch sicher nicht nur gute Momente auf.

Aber auf die konzentrieren wir uns. Wir fragen: Auf was sind Sie stolz in Ihrem Leben? Was waren besonders freudvolle, intensive Situationen? Es geht nicht um eine pseudo-objektive Bilanz, sondern  um die Würdigung dessen, was man alles für sich erreicht hat.

Ich erinnere mich an eine Frau, 42, unheilbarer Brustkrebs. Sie war Friseurin gewesen, hatte ein einfaches Leben geführt. Sie lud mich zu ihrem letzten Geburtstag ein. Freunde und Verwandte feierten mit. Ihr Text des «Lebensspiegels» lag auf dem Tisch, und sie ermunterte mich, ihn zu lesen. Der letzte Satz hat mich fast umgehauen. Er lautete: «Ich bin ja so ein Glückspilz.»

Lebensverlängernde Massnahmen

Das Spital Wetzikon leistet Pionierarbeit in Palliative Care alzheimer.ch/marcus May


Dieser Artikel erschien im Herbst 2019 im Mut – Magazin für Lösungen. Wir bedanken uns bei der Redaktion für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.