Menschen mit beginnender Demenzerkrankung müssen langsam vom Arbeitsprozess loslassen dürfen.
Marten Bjork, Unsplash
Demenz bedeutet permanentes Loslassen: Loslassen von Fähigkeiten, Beziehungsmustern, Aufgaben. Besonders schmerzhaft ist für berufstätige Betroffene, dem Arbeitsleben gezwungenermassen den Rücken zu kehren.
Dass eine Demenz einen Menschen treffen kann, der noch im Arbeitsprozess steht, ist in der Bevölkerung wie in Arbeitgeberkreisen kaum bekannt. Diese Menschen spüren, dass sie weniger effizient sind, für alles viel länger brauchen, und sie nehmen Fehlleistungen wahr. Die leichten kognitiven Defizite zu Beginn der Erkrankung können bereits ganz wesentliche Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit hervorrufen.
Menschen mit beginnender Demenz zeigen oft Symptome eines Burnouts – ein Erschöpfungssyndrom, das sich über längere Zeit schleichend durch Überforderung entwickeln kann und häufig gerade sehr engagierte Personen trifft.
Es ist immer noch nicht klar, ob es sich beim Burnout um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, oder ob es eher als ein Prozess aufgefasst werden sollte, der schliesslich zur Entstehung von klinisch relevanten Krankheitsbildern wie Angst und Depression führen kann. Auch eine beginnende Demenzerkrankung führt zu Stress und Überforderung, was einen Erschöpfungszustand auslöst und nicht selten Depression und Angst zur Folge hat.
Wie ein guter Ausstieg aus dem Beruf gelingen kann
demenzwiki
Beruf
Arbeiten ist auch mit Demenz möglich, wenn die Betroffenen mit ihren Vorgesetzten und Kollegen neue Aufgaben finden können. weiterlesen
Die Vorgesetzten machen die Mitarbeitenden auf ihre Fehler und ihre verminderte Belastbarkeit aufmerksam: Der Weg danach bedeutet meist psychiatrische Betreuung, Krankschreibung, den Versuch, wieder in den Arbeitsprozess einzusteigen, Misserfolg, Case Management wegen zu vieler Krankheitstage.
Oft endet das Arbeitsverhältnis mit einem Konflikt, unklarer Versicherungssituation und Unverständnis.
Das Wissen, das sich hinter einer Leistungsabnahme und einem Burn-out auch eine Demenz verstecken kann, hätte diese Situationen vielleicht entschärfen können. Die Wut über die unschöne Beendigung des Arbeitsverhältnisses begleitet die Patient:innen noch jahrelang. Diese einschneidende Erfahrung wird selten vergessen, trotz Fortschreiten der Krankheit.
szene aus der Musiktherapie
Alzheimerferien mit Musiktherapie. Jemand wählt «Bridge over troubled water»; wir sind wie eine Brücke, ich bin in deiner Nähe und heile deinen Kummer – wie eine Brücke über aufgewühlten Wassern: «Like a bridge over troubled water, I will ease your mind.»
Die Teilnehmer:innen, alle demenzkrank, sind ganz ruhig, hören zu. Erinnerungen an früher werden wach, einige verdrücken Tränen. Plötzlich durchbricht ein Mann die Stille: «Wenn ich an die Teufelsbrücke denke, an unsere Fahrten in meiner Kindheit nach Italien; immer machten wir dort einen Halt, der Vater erzählte die Sage vom Teufel, der die Brücke erbaut hatte. Ich erinnere mich an das Zischen des Wassers, die Wassermengen, die durch die Schöllenenschlucht rauschen. Doch jetzt, jetzt stehe ich mit meinem Chef auf der Brücke, und wenn ich könnte, dann würde ich … Ihr wisst schon, was ich meine …»
Menschen mit beginnender Demenzerkrankung müssen langsam vom Arbeitsprozess loslassen dürfen. Ist eine sofortige Aufgabe der Arbeit notwendig (in Berufen, in denen es um Menschenleben geht, wie bei Ärtz:innen, Pflegefachkräften, Pilot:innen etc.), sollte eine Verabschiedung in Würde und Achtung geschehen.
Ein Beispiel einer gelungenen Verabschiedung
Frühdemenz
«Es tat gut, noch gebraucht zu werden»
Beat Vogel war Leiter Infrastruktur bei der Pädagogischen Hochschule Luzern, als er an Demenz erkrankte. Mit einfachen Aufgaben und kleinem Pensum konnte er … weiterlesen
Ein 60-jähriger Mann – mehrfacher Verwaltungsrat und -präsident, erfolgreicher Manager, Vorgesetzter von 200 Mitarbeitenden, politisch engagiert und Gemeindepräsident – kommt in die Sprechstunde. Ihm war nahegelegt worden, vorzeitig in Pension zu gehen, die Verwaltungsratsmandate abzugeben und sich auch politisch zurückzuziehen. Innerhalb von zwei Jahren musste er alle Positionen aufgeben.
Im Diagnosegespräch meinte die Ehefrau, dass er mit einer Alzheimerdemenz aufhören müsste, Auto zu fahren. Für den Mann nochmal ein Schlag ins Gesicht. «Es muss unendlich schwer sein, alles loslassen zu müssen. Ich habe Hochachtung vor Ihnen, wie Sie mit all diesen Kränkungen umgegangen sind, und ich weiß nicht, ob ich die Kraft dazu hätte. Und jetzt kommt Ihre Frau und meint, dass Sie auch nicht mehr Auto fahren dürfen.»
Der Mann begann zu weinen, und wir sprachen in der Folge nur noch über den Schmerz des ständigen Abschieds. Bei der Verabschiedung meinte er nur: «Danke für alles, ich weiss schon, dass ich den Fahrausweis abgeben muss.»
Lesen Sie Teil 1 dieses Beitrags
Loslassen (1)
Autofahren mit Demenz
Demenz bedeutet permanentes Loslassen: Loslassen von Fähigkeiten, Beziehungsmustern, Aufgaben. Auch der Verlust des Führerscheins ist für Betroffene oft schmerzhaft. Ab wann ist jemand … weiterlesen
Loslassen hat viele Gesichter
Jeder Mensch mit Demenz erlebt den Schmerz des Loslassens anders: Für die einen ist es die Tatsache, dass sie am Vereinsleben nicht mehr teilnehmen können oder dass sie nicht mehr Karten spielen können. Für andere ist es der Sport, das Fahrradfahren, das Skifahren, Tennis oder Golf. Stets gehen wertvolle soziale Kontakte verloren oder die Möglichkeit, die Natur und den eigenen Körper wahrzunehmen.
Demenz bedeutet ohne Unterbruch loszulassen. Das gilt für die Betroffenen, aber auch für die Angehörigen: Wenn bei einem Professor das Lesen nicht mehr geht, sich bei einer Lehrerin die Sprache verabschiedet, sich bei einem Paar die Beziehung ändert oder sich ein Mensch zunehmend zurückziehen muss, der immer in der Öffentlichkeit stand.
Loslassen bedeutet, mehr auf sich selber zurückgeworfen zu werden, doch auch dieses Selbst verändert sich: Loslassen von der Erinnerung, Loslassen vom Denken an die Zukunft.
Ich musste zuerst meine mir so wichtige Beziehung zu meiner Mutter loslassen, das war sehr traurig. Danach konnte ich eine neue Form der Beziehung aufbauen, und diese ist gut, so wie sie ist. Sie bringt mir jeden Tag neue Einsichten. Trotz Distanz ist eine neue Form von Nähe entstanden. Diese ist viel gefühlsmässiger und weniger intellektuell. Unsere Rollen haben sich geändert: Ich bin jetzt in der Mutterrolle und sie in der Kinderrolle.
Für mich gibt es nur eines: Ich bleibe immer in meiner Wohnung, dieser Wunsch steht über allem!
Der Gedanke, das eigene Heim, das eigene Zuhause verlassen zu müssen, scheint unerträglich. Doch ich frage mich, ob sich Menschen mit Demenz ab einem gewissen Stadium in ihren eigenen vier Wänden wirklich noch zu Hause fühlen. Besonders Alleinstehende, aber nicht nur, fühlen sich zunehmend verloren und nicht mehr geborgen im eigenen Heim, auch wenn sie das nicht formulieren können.
Es kommt zu einer Entfremdung, zu einer Desorientierung: Die eigene Küche kann als fremd empfunden werden, Erinnerungsstücke können nicht mehr richtig eingeordnet werden, Menschen können verwahrlosen. Sie sind zudem desorientiert im übergeordneten Sinn, weil sie eine innere Verlorenheit zeigen und seelisch vereinsamen, auch wenn sie das nicht wahrhaben wollen.
Auch Menschen, die nicht alleine leben, können sich zunehmend nicht mehr zu Hause fühlen in der eigenen Wohnung, weil sie emotional sehr wohl wahrnehmen, dass es den Angehörigen nicht gut geht, dass sie selbst ein Teil der Misere sind. Das Loslassen der gewohnten Umgebung kann der Aufbruch zu einem neuen Zuhause sein.
Zu Hause im Heim, das ist möglich.
Mein Mann ist im Heim angekommen. Er hat sein neues Zuhause gefunden. Ich bin froh, dass er sich im Heim wohlfühlt. Es ist für ihn, wie wenn er schon immer dort gewesen wäre. Doch ich muss mich erst wieder in der eigenen Wohnung zurechtfinden. Ohne meinen Mann ist es nicht mehr das Zuhause von zuvor. Doch es tröstet mich, dass es für meinen Mann der richtige Ort ist. Dort soll er bis zum Tod zu Hause sein.
Oft ist es für die Angehörigen viel schwieriger loszulassen, obwohl sie erschöpft sind und am Ende ihrer Kräfte. Das Loslassen vom Partner, der nun nicht mehr in der eigenen Wohnung präsent ist, verlangt nach einer neuen Orientierung. Die Angehörigen müssen sich zuerst wieder zurechtfinden. In dieser Phase des Loslassens bedürfen sie der besonderen Fürsorge.
Der letzte Abschnitt des Loslassens ist das Sterben. Diesem Prozess des definitiven Loslassens sind viele Prozesse von Loslassen vorausgegangen.
Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt. – Ronald Reagan
Ronald Reagan hat dieses Loslassen ganz bewusst wahrgenommen. Loslassen und Aufbrechen zum Sonnenuntergang des Lebens, eine Metapher, die die ganze Welt berührte.
Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen bei rüffer & rub. Wir danken dem Verlag für die Gelegenheit zur Veröffentlichung auf unserer Plattform. > Hier können Sie das Buch bestellen.
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