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Porträt einer Gerontopsychologin

Leben im Hier und Jetzt

Demenz stellt Betroffene und Angehörige auf eine harte Probe. Die Psychologin Regula Bockstaller unterstützt sie bei der Bewältigung des Alltags. Bild Conradin Frei

In der Praxis 60plus im zürcherischen Wald wird mehr gekichert als in manchem Jugendtreff. Sechs Frauen und Männer im Alter zwischen 60 und 80 Jahren sind an einem Montagnachmittag um einen Tisch versammelt. Ein Blick in den Alltag einer Gerontopsychologin.

Obwohl sie sich schon länger kennen, wissen die meisten die Namen der andern nicht mehr. Wie so vieles sind Gesichter und Namen dem Vergessen anheim gefallen.

Dennoch ist die Stimmung gesellig und vertrauensvoll. Ein Wort gibt das andere, schon einfache Bemerkungen bringen die Runde zum Lachen. Diesmal geht es ums Thema Vögel. Die Teilnehmer sollen Begriffe finden, die das Wort «Spatz» enthalten. «Spätzli!», entfährt es prompt einem Mann. Ja, warum nicht? Wenn es hier etwas nicht gibt, dann ist es Erwartungsdruck.

Demenz hin oder her, jeder Spass drückt Lebensfreude aus – und für  Praxisinhaberin Regula Bockstaller eine Anerkennung für ihre Arbeit. Umsichtig lenkt die Psychologin die Teilnehmer, streut Scherze ein, achtet darauf, dass alle ins Gespräch eingebunden werden, niemand zu lange schweigt oder gar zu jammern beginnt.

«Ich biete Menschen mit einer Demenz einen Rahmen, um ihr Selbstvertrauen und Wohlbefinden zu fördern. Bei mir können sie sagen: Wow, jetzt habe ich wieder etwas geschafft!»

In einem nicht selten von Depressionen geprägten Alltag sind Regula Bockstallers Gesprächsrunden für Menschen mit einer Demenz wie lichte Inseln.

M.S. ist noch nicht im Rentenalter, aber längst aus dem Berufsleben ausgeschieden. Die gelernte Krankenschwester wirkt jugendlich und attraktiv, äusserlich weist nichts auf ihre Krankheit hin.

Regula Bockstaller: «Erst nach dem Studium habe ich gemerkt, was mich an meiner Arbeit wirklich fasziniert. Es ist die Arbeit mit Menschen, die im Hier und Jetzt leben.»Bild Conradin Frei

Früher leitete sie eine Tagesklinik, nun erlebt sie das gleiche Schicksal wie ihre ehemaligen Patienten. «Die Treffen sind das Beste, was mir passieren konnte», sagt sie und strahlt. 

Doch wer ist die Frau, die Betroffenen regelmässig solche «Gipfeltreffen» ermöglicht?  

Der Erfahrungsaustausch unter Direktbetroffenen ist ein relativ junges Angebot, das Regula Bockstaller im Kanton Zürich aufgebaut hat. Sie hat dafür im vergangenen Herbst den Fokuspreis der Alzheimervereinigung des Kantons Zürich erhalten. 

Die Fähigkeit, eine Gruppe anzuleiten und dabei den Überblick zu bewahren, entwickelte die 53-Jährige schon während ihrer ersten beruflichen Laufbahn als Kindergärtnerin. 

Das Studium der Psychologie, ein von Kindsbeinen an gehegter Wunsch, nahm sie erst auf dem zweiten Bildungsweg im Alter von 42 Jahren in Angriff.

«Eigentlich wollte ich meinen angestammten Beruf erweitern und Kinderpsychologin werden», sagt sie. Dass die Wahl auf die ZHAW (Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften) fiel, habe mit deren ausgeprägtem Praxisbezug zu tun. «Ich wollte nicht in der Berufsmitte Theorie büffeln, mich interessierte die Arbeit mit Menschen».

Leidenschaft für die Gerontopsychologie

Schon im zweiten Semester kam im Rahmen einer Vorlesung zum Thema Alzheimer bei Barbara Schmugge das Interesse für Gerontopsychologie auf und entwickelte sich zu einer veritablen Leidenschaft.

Lehrbeauftragte an der ZHAW

Regula Bockstaller betreut in ihrer Praxis 60plus in Wald (ZH) Angehörige und Menschen mit einer Demenz in Einzeltherapie und Gruppen. Ihr Wissen gibt sie auch an der ZHAW weiter. Sie unterrichtet im konsekutiven Masterstudiengang Angewandte Psychologie zum Thema beginnende Demenz und Angehörige und am CAS Psychosoziale Gerontologie und Soziale Gerontologie die Fächer Beratung von älteren Menschen, Demenz und therapeutische Ansätze.  Den Schritt in die Selbstständigkeit wählte sie wegen der Unabhängigkeit, die ihr dies im Gegensatz zu einer Tätigkeit in einer Klinik bietet. «In meiner Praxis muss ich nur meine eigene Administration erledigen», sagt sie.

Regula Bockstaller begann in Heimen und psychiatrischen Kliniken zu schnuppern und nahm an einem Projekt der Universität Zürich teil, an der sie Interviews mit Menschen führte, die an einer Demenz leiden.

Je mehr sie über die junge Wissenschaft erfuhr, desto mehr wuchs ihre Begeisterung. Sowohl ihre Bachelor- als auch ihre Masterarbeit handelten von der Lebensqualität von Menschen mit einer Demenz und deren Angehörigen.

Ihr wegweisendes Erlebnis hatte sie  bei einer Vortragsveranstaltung  der deutschen Alzheimer-Spezialistin Barbara Romero (hier ein Artikel über sie), die das Konzept der Selbsterhaltungstherapie für Demenzkranke entwickelte.

Sie stellt eine Stabilisierung der Person und damit der jeweils noch erhaltenen kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen in den Vordergrund der unterstützenden Massnahmen. 

Dazu gehören bestätigende Kommunikationsformen, ein Bezug auf die persönlichen Erinnerungen in alltäglichen Erfahrungen sowie die Teilnahme an Aktivitäten, welche die Betroffenen weder über- noch unterfordern. 

Auf diesem Konzept bauen die Treffen auf, die Regula Bockstaller ins Leben gerufen hat. Sie heissen «Gipfeltreffen», weil die Anlässe so gemütlich wie mit Kaffee und Gipfel sein sollen und selbstredend aus lauter bedeutenden Persönlichkeiten bestehen. Sechs solcher «Gipfeltreffen» gibt es bereits, einige haben eine Warteliste. 

Der Bedarf an Betreuungsangeboten ist enorm, zumal sich Demenz allmählich zu einer Volkskrankheit entwickelt. Gemäss der Schweizerischen Alzheimervereinigung gibt es in der Schweiz rund 130’000 Demenzkranke. Bis ins Jahr 2030 wird die Zahl auf schätzungsweise 200’000 Menschen ansteigen. 

Von Kindergartenkindern zu Menschen mit einer Demenz – für Regula Bockstaller ist das kein Widerspruch; vielmehr schliesst sich ein Kreis. «Ich habe erst nach dem Studium gemerkt, was mich an meiner Arbeit wirklich fasziniert», sagt sie, «es ist die Arbeit mit Menschen, die im Hier und Jetzt leben.»

Wie bei Kindern zählt auch bei Menschen mit einer Demenz der Augenblick; Vergangenheit und Zukunft haben keine Relevanz.

Dennoch unterscheidet sich die Arbeit zwischen Jung und Alt. So sollten Menschen mit einer Demenz nie mit Kinderspielen oder Kinderspielzeug beschäftigt werden. Zu merken, dass sie wie Kinder behandelt werden, kann laut Regula Bockstaller die Betroffenen traurig machen. Ausserdem sei es dem gelebten Leben gegenüber respektlos.

Gespräch mit einer Betroffenen

Gipfeltreffen

… mitten im Satz ist plötzlich alles weg

Gipfeltreffen sind Aktivierungs- und Gesprächsgruppen für Menschen mit Demenz. Ingrid ist Teil einer dieser Schicksalsgemeinschaften, die sich wöchentlich bei einer Therapeutin trifft. Im Interview spricht … weiterlesen

Die Defizite austarieren

Zudem zeigen Menschen mit Demenz im Gegensatz zu Kindern keine Entwicklungsfortschritte. Bei ihnen geht es primär darum, sich ständig ändernde Defizite zu beobachten und auszutarieren und die Beschäftigung entsprechend anzupassen. Eine Aufgabe, die Regula Bockstaller bis aufs Äusserste fordert, zumal manche «Gipfeltreffen» bis zu zwölf Teilnehmende haben. 

«Gedächtnisaktivierung ist Arbeit, das ist kein Spiel», sagt sie. Hier kommt ihr nicht nur ihre psychologische Ausbildung, sondern auch ihre Berufserfahrung mit Menschen jeden Alters zupass. 

Regula Bockstaller scheut sich nicht, die Teilnehmer direkt auf ihre Krankheit anzusprechen. Dabei erklärt sie immer und immer wieder, dass im Hirn Veränderungen passieren, die sie zwar krank machen, aber noch lange nicht gaga.

Eine, die einen ebenso offenen Umgang mit ihrer Krankheit pflegt, ist M. S. Sie erzählt der Tischrunde einen Vorfall, der ihr kürzlich beim Busfahren passiert ist. Weil sie das Billett zu Hause vergessen hatte, wollte ihr der Chauffeur eine Busse aufbrummen. Nach einigem Hin und Her wies sie ihn darauf hin, dass sie Alzheimer habe. Worauf der Fahrer sie verständnisvoll durchwinkte.


Dieser Beitrag erschien im Juni 2016 in Impact, dem Hochschulmagazin der Zürcher Hochschulen für angewandte Wissenschaften ZHAW. Herzlichen Dank für die Möglichkeit der Zweitverwertung.

Hier der Originalbeitrag als PDF-Download

Regula Bockstaller betreut in ihrer Praxis 60plus in Wald (ZH) unter anderem Angehörige und Menschen mit einer Demenz.