Obwohl sie sich schon länger kennen, wissen die meisten die Namen der andern nicht mehr. Wie so vieles sind Gesichter und Namen dem Vergessen anheim gefallen.
Dennoch ist die Stimmung gesellig und vertrauensvoll. Ein Wort gibt das andere, schon einfache Bemerkungen bringen die Runde zum Lachen. Diesmal geht es ums Thema Vögel. Die Teilnehmer sollen Begriffe finden, die das Wort «Spatz» enthalten. «Spätzli!», entfährt es prompt einem Mann. Ja, warum nicht? Wenn es hier etwas nicht gibt, dann ist es Erwartungsdruck.
Demenz hin oder her, jeder Spass drückt Lebensfreude aus – und für Praxisinhaberin Regula Bockstaller eine Anerkennung für ihre Arbeit. Umsichtig lenkt die Psychologin die Teilnehmer, streut Scherze ein, achtet darauf, dass alle ins Gespräch eingebunden werden, niemand zu lange schweigt oder gar zu jammern beginnt.
«Ich biete Menschen mit einer Demenz einen Rahmen, um ihr Selbstvertrauen und Wohlbefinden zu fördern. Bei mir können sie sagen: Wow, jetzt habe ich wieder etwas geschafft!»
In einem nicht selten von Depressionen geprägten Alltag sind Regula Bockstallers Gesprächsrunden für Menschen mit einer Demenz wie lichte Inseln.
M.S. ist noch nicht im Rentenalter, aber längst aus dem Berufsleben ausgeschieden. Die gelernte Krankenschwester wirkt jugendlich und attraktiv, äusserlich weist nichts auf ihre Krankheit hin.
Früher leitete sie eine Tagesklinik, nun erlebt sie das gleiche Schicksal wie ihre ehemaligen Patienten. «Die Treffen sind das Beste, was mir passieren konnte», sagt sie und strahlt.
Doch wer ist die Frau, die Betroffenen regelmässig solche «Gipfeltreffen» ermöglicht?
Der Erfahrungsaustausch unter Direktbetroffenen ist ein relativ junges Angebot, das Regula Bockstaller im Kanton Zürich aufgebaut hat. Sie hat dafür im vergangenen Herbst den Fokuspreis der Alzheimervereinigung des Kantons Zürich erhalten.
Die Fähigkeit, eine Gruppe anzuleiten und dabei den Überblick zu bewahren, entwickelte die 53-Jährige schon während ihrer ersten beruflichen Laufbahn als Kindergärtnerin.
Das Studium der Psychologie, ein von Kindsbeinen an gehegter Wunsch, nahm sie erst auf dem zweiten Bildungsweg im Alter von 42 Jahren in Angriff.
«Eigentlich wollte ich meinen angestammten Beruf erweitern und Kinderpsychologin werden», sagt sie. Dass die Wahl auf die ZHAW (Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften) fiel, habe mit deren ausgeprägtem Praxisbezug zu tun. «Ich wollte nicht in der Berufsmitte Theorie büffeln, mich interessierte die Arbeit mit Menschen».
Leidenschaft für die Gerontopsychologie
Schon im zweiten Semester kam im Rahmen einer Vorlesung zum Thema Alzheimer bei Barbara Schmugge das Interesse für Gerontopsychologie auf und entwickelte sich zu einer veritablen Leidenschaft.
Lehrbeauftragte an der ZHAW
Regula Bockstaller betreut in ihrer Praxis 60plus in Wald (ZH) Angehörige und Menschen mit einer Demenz in Einzeltherapie und Gruppen. Ihr Wissen gibt sie auch an der ZHAW weiter. Sie unterrichtet im konsekutiven Masterstudiengang Angewandte Psychologie zum Thema beginnende Demenz und Angehörige und am CAS Psychosoziale Gerontologie und Soziale Gerontologie die Fächer Beratung von älteren Menschen, Demenz und therapeutische Ansätze. Den Schritt in die Selbstständigkeit wählte sie wegen der Unabhängigkeit, die ihr dies im Gegensatz zu einer Tätigkeit in einer Klinik bietet. «In meiner Praxis muss ich nur meine eigene Administration erledigen», sagt sie.
Regula Bockstaller begann in Heimen und psychiatrischen Kliniken zu schnuppern und nahm an einem Projekt der Universität Zürich teil, an der sie Interviews mit Menschen führte, die an einer Demenz leiden.
Je mehr sie über die junge Wissenschaft erfuhr, desto mehr wuchs ihre Begeisterung. Sowohl ihre Bachelor- als auch ihre Masterarbeit handelten von der Lebensqualität von Menschen mit einer Demenz und deren Angehörigen.
Ihr wegweisendes Erlebnis hatte sie bei einer Vortragsveranstaltung der deutschen Alzheimer-Spezialistin Barbara Romero (hier ein Artikel über sie), die das Konzept der Selbsterhaltungstherapie für Demenzkranke entwickelte.
Sie stellt eine Stabilisierung der Person und damit der jeweils noch erhaltenen kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen in den Vordergrund der unterstützenden Massnahmen.
Dazu gehören bestätigende Kommunikationsformen, ein Bezug auf die persönlichen Erinnerungen in alltäglichen Erfahrungen sowie die Teilnahme an Aktivitäten, welche die Betroffenen weder über- noch unterfordern.
Auf diesem Konzept bauen die Treffen auf, die Regula Bockstaller ins Leben gerufen hat. Sie heissen «Gipfeltreffen», weil die Anlässe so gemütlich wie mit Kaffee und Gipfel sein sollen und selbstredend aus lauter bedeutenden Persönlichkeiten bestehen. Sechs solcher «Gipfeltreffen» gibt es bereits, einige haben eine Warteliste.
Der Bedarf an Betreuungsangeboten ist enorm, zumal sich Demenz allmählich zu einer Volkskrankheit entwickelt. Gemäss der Schweizerischen Alzheimervereinigung gibt es in der Schweiz rund 130’000 Demenzkranke. Bis ins Jahr 2030 wird die Zahl auf schätzungsweise 200’000 Menschen ansteigen.
Von Kindergartenkindern zu Menschen mit einer Demenz – für Regula Bockstaller ist das kein Widerspruch; vielmehr schliesst sich ein Kreis. «Ich habe erst nach dem Studium gemerkt, was mich an meiner Arbeit wirklich fasziniert», sagt sie, «es ist die Arbeit mit Menschen, die im Hier und Jetzt leben.»
Wie bei Kindern zählt auch bei Menschen mit einer Demenz der Augenblick; Vergangenheit und Zukunft haben keine Relevanz.