alzheimer.ch: Angehörige von Menschen mit Demenz erleiden viele Verluste. Manche erleben die Krankheit wie ein Sterben auf Raten. Mit grossen Verlusten verbunden ist der Umzug ins Heim. Wie erleben die betreuenden Partner dieses Ereignis?
Hansruedi Moor: Wenn der Angehörige eingestehen muss, dass er nicht mehr zu Hause betreuen kann und an eine Institution delegieren muss, ist dies ein äusserst kritisches Lebensereignis. Es kann in ein Gefühl des Versagens münden.
Vor allem in der Zeit des Umzuges wird der erkrankte Partner dieses Gefühl noch verstärken, indem er seinen Unmut darüber äussert, abgeschoben zu werden…
Moor: Absolut. Die Kompensation dieses Ereignisses ist, dass sich die Ehefrau oder der Ehemann verpflichtet fühlen, sehr häufig in der Institution zu sein. Manche von ihnen erleben die Betreuung durch unser Team als Konkurrenz.
Zu den Personen
Hansruedi Moor ist Sozialpädagoge, Paar- und Familientherapeut und Gerontologe. Er leitet das Alterszentrum Wenigstein .Esther Ludwig ist Psychogerontologin und Erwachsenenbildnerin. Sie leitet den Gerontologischen Dienst im Alterszentrum Wenigstein. Moor und Ludwig haben 2012 in Zusammenarbeit mit der Age Stiftung im Alterszentrum Wenigstein das Konzept «Aktive Zusammenarbeit mit Angehörigen» realisiert. Es sieht regelmässige Gespräche und eine systemorientierte Kultur in der Zusammenarbeit mit den Angehörigen vor.
Esther Ludwig: Viele der Demenzerkrankten fühlen sich bei uns sehr wohl. Sie wirken entspannt und erfreuen sich an Betreuenden. Sie verbringen gerne Zeit mit anderen Bewohnern. Es ist für die Angehörigen eine grosse Herausforderung, damit klarzukommen. Sie sind ersetzt worden, und es geht ihm trotzdem gut oder sogar besser.
Es kann im Heim zu neuen Liebesbeziehungen kommen…
Moor: Dies haben wir erlebt in fortgeschrittenen Stadien der Krankheit. Die Reaktionen reichten von «Verrat!» bis zu «Ich kenne meinen Partner nicht mehr!». Mal ist es der eine, mal der andere Verlust, der zu schaffen macht.
Menschen mit Demenz verlieren kognitive und körperliche Fähigkeiten. Sie verändern ihre Persönlichkeit. Welche Verluste machen den Partnern am meisten zu schaffen?
Ludwig: In meiner Wahrnehmung wechselt es ab. Mal ist es der eine, mal der andere Verlust, der den Angehörigen zu schaffen macht. Es kommen andere Belastungen und Emotionen dazu: Man hat keine Zeit mehr, um Kontakte zu pflegen und für sich selber zu schauen. Es kann in der Familie Uneinigkeit entstehen über die Art der Betreuung. Es ist die Gesamtsituation, die sehr viel Mühe macht.
Moor: In unserem Heim leben einige hochdekorierte Männer. Ihre 85- bis 90-jährigen Frauen sind sehr stolz auf sie. Die Eintritte werden sehr lange hinausgezögert, weil es sich die Angehörigen nicht vorstellen können, dass ihr Herr Doktor im Heim leben soll.
Wenn es zum Heimeintritt kommt, sind die Anforderungen an uns sehr hoch. Die Äusserlichkeiten müssen stimmen, das weisse Hemd muss täglich gewechselt werden.
Die Angehörigen können solche Leistungen bezahlen…
Moor: Ja, aber es gibt Schwierigkeiten, weil der Bewohner die Krawatte nicht mehr tragen will. Es kommt zu Differenzen, weil die Frau noch immer ihren breitschultrigen Mann sehen will.