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Care Migration

Betreuen und Pflegen rund um die Uhr?

Es lohnt sich, bei Care-Migrant:innen auf faire Bedingungen zu achten. Michael Hagedorn

Auch wenn es nicht mehr allein geht – oft wollen Angehörige mit Demenz weiterhin in ihrem vertrauten Umfeld bleiben. Als Alternative zum Heimeintritt preisen daher spezialisierte Firmen die «24-Stunden-Pflege» als Ideallösung an. Was steckt dahinter und wie finden Interessierte eine seriöse Agentur?

Irgendwann ging es einfach nicht mehr. «Ich habe mich gerne um meinen Schwiegervater gekümmert, aber Anfang diesen Jahres konnte ich nicht mehr», erzählt Julia. Sie wohnt in einer norddeutschen Kleinstadt, das Häuschen des Schwiegervaters Peter steht ganz in der Nähe.

Vor mehr als drei Jahren erhielt er die Diagnose Alzheimer, der Witwer kam gut alleine zurecht. «Er geht gerne spazieren und fühlt sich wohl zu Hause. Mit unserer Unterstützung hat es ganz gut geklappt», berichtet Julia.

Vor einem Jahr nahmen die Herausforderungen zu. Sie habe zunehmend ein ungutes Gefühl gehabt, ihn alleine zu lassen – und musste es doch immer wieder tun, um sich um ihre Familie und ihren Alltag zu kümmern.

Peter vergass häufiger, seine Medikamente zu nehmen und klagte über Einsamkeit.

Das Festnetztelefon hatte er oft weggepackt und war nicht erreichbar. Häufig spazierte er alleine durch den Ort. Die Familie machte sich Sorgen um ihn.

«Dass er in ein Pflegeheim zieht, stand ausser Frage. Er wollte gerne zu Hause bleiben und wir wollten ihm diesen Wunsch erfüllen», erzählt Julia. Doch gleichzeitig nahm die Last durch die Betreuung und die Sorge um ihn zu.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Was also tun? Doch in ein Heim? Die Familie informierte sich und entschied, eine Betreuerin für Peter suchen, die mit zu ihm ziehen würde. «Einen Versuch war es wert, denn so würde Peter in seinem Zuhause bleiben können», erklärt Julia.

Wenige Wochen später kam Anja aus Polen zu ihnen. «Es war toll, fast wie Liebe auf den ersten Blick», sagt Julia und lacht.

Die 62-jährige Polin zog zu Peter ins Haus und unterstützte ihn im Alltag. Sie unternahmen lange Spaziergänge und kleine Ausflüge. «Peter lebte sichtbar auf», erzählt Julia. Doch die Betreuerin konnte nur zwei Monate bleiben. «Dann gab es einen Wechsel. Die nächste Betreuerin hat den Haushalt top in Schuss gehalten, aber auf Peter konnte sie nicht so gut eingehen», erzählt Julia.

Er, der so gerne spazieren ging, hatte nun eine Betreuerin, die kaum aus dem Haus gehen wollte. «Man muss natürlich Kompromisse eingehen, aber wenn es gar nicht klappt, sollte man das besprechen und im Zweifel auch die Betreuerin oder Agentur wechseln», rät Julia.

Wie ist die rechtliche Situation?

In Deutschland, Österreich und der Schweiz gelten unterschiedliche Grundlagen für die häusliche Betreuung. In Österreich wurde diese Form der Betreuung bereits vor 15 Jahren legalisiert. Fast alle Betreuerinnen arbeiten dort als Selbstständige.

In der Schweiz gibt es seit 2015 einen «Modell-Normalarbeitsvertrag», der Arbeitszeiten, Freizeitanspruch und Bereitschaftszeiten regelt. Für die Umsetzung sind die Kantone zuständig.

Immer wieder gibt es Streitfälle, vor allem über unbezahlte Überstunden.

In Deutschland findet die sogenannte 24-Stunden-Pflege häufig unter rechtlich unsicheren Bedingungen statt. «Schwarzarbeit ist ein riesiges Problem. Schätzungsweise 90 Prozent der 700’000 Betreuerinnen arbeiten schwarz», sagt Stefan Lux, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP). Der Verband schätzt, dass 300’000 Familien eine Betreuung in Anspruch nehmen.

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Im Juni diesen Jahres hat das Bundesarbeitsgericht bestätigt, dass ausländische Arbeitnehmer:innen, die in Deutschland arbeiten, einen Anspruch auf Mindestlohn, die Bezahlung von Überstunden und Bereitschaftszeit haben.

«Für die meisten Betreuerinnen ändert sich jedoch nichts, weil sie schwarz arbeiten», erklärt Stefan Lux. Er bezeichnet die Situation in Deutschland als «Skandal». «Es gibt viele Vermittlungsagenturen, die unseriös arbeiten. Die Leidtragenden sind die Familien und die Betreuerinnen», meint Lux.

Wie findet man eine seriöse Agentur?

Gibt man «24-Stunden-Pflege» in die Suchmaske im Internet ein, wird man schnell fündig. Da tauchen Agenturen auf, die für 2000 Euro monatlich eine Rundum-Betreuung und Pflege versprechen. «Die Qualität der Agenturen und Betreuungskräfte ist sehr verschieden», sagt Stefan Lux.

Wie können Familien qualifizierte Anbieter erkennen? «Der Preis ist sicher ein Punkt», meint Stefan Lux. Agenturen, die mit Dumpingpreisen für Rundum-Betreuung locken, sparen in der Regel an Löhnen bei den Betreuerinnen.

Das Wichtigste in Kürze:

  • EU-Bürger:innen können in einem Privathaushalt ohne besondere Arbeitserlaubnis beschäftigt werden (Arbeitnehmerfreizügigkeit). Alternativ können ausländische Firmen Mitarbeiter:innen entsenden. Dabei helfen Vermittlungsagenturen.
  • Es gilt deutsches Arbeitsrecht.
  • Wer eine Care-Migrantin in Vollzeit beschäftigen will, muss mit Kosten zwischen 2000 und 3000 Euro pro Monat rechnen. Es muss mindestens der für Deutschland gültige Mindestlohn gezahlt werden. Zusätzlich fallen Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung (Krankenversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung) und Beiträge für die Berufsgenossenschaft an.

Weitere Infos über eine legale Anstellung gibt es in diesem Artikel der Verbraucherzentrale oder als Tabelle.

Was kann die 24-Stunden-Pflege tatsächlich leisten?

«Von Anfang an sollte klargemacht werden, was die Aufgaben und Arbeitszeiten einer solchen Betreuungskraft sind», sagt Lux.

Auch wenn der Begriff «24-Stunden-Pflege» verwendet wird, stimmt er nicht.

Er ist sogar doppelt falsch: weder arbeiten die Betreuerinnen 24 Stunden, noch gehe es um Pflege im eigentlichen Sinn. So sind sie vor allem für Unterstützung im Haushalt sowie die Grundpflege (duschen, waschen, anziehen) zuständig. Medizinische Pflege wie Medikamente geben oder Kompressionsstrümpfe anziehen gehört nicht dazu. Diese Aufgabe muss ein:e Angehörige:r oder ein ambulanter Pflegedienst übernehmen.

Stefan Lux betreibt selbst eine Vermittlungsagentur und sagt: «Mit der Vermittlung ist es nicht getan.» Ihm sei es wichtig, die Familien langfristig zu begleiten und auch den Betreuerinnen ein Ansprechpartner zu sein. Dazu hat er eigens Mitarbeiterinnen eingestellt, die auch polnisch oder rumänisch sprechen können.

Sein Rat an Familien, die sich für dieses Pflegemodell interessieren: sich gut informieren und überlegen, ob dieses Modell tatsächlich funktionieren kann.

«Ein Mensch mit Demenz und Pflegegrad vier kann nicht von einer Person alleine betreut werden», sagt Lux. Da müsse die Familie mit unterstützen oder eine zweite Betreuerin hinzuziehen. Und: «Es müssen wirklich alle bereit sein, sich auf dieses Modell einzulassen und die Betreuerin anzunehmen», sagt Lux. Hin und wieder erlebe er, dass die zu betreuende Person niemanden im Haushalt haben möchte. «Das wird dann sicher nicht lange gut gehen», meint Stefan Lux.

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Julia weiss um die Hürden, die im Alltag mit dieser Art der Betreuung auftreten können. Aber sie sagt auch: «Für uns und Peter ist es genau richtig. Er kann in seinem Haus wohnen und hat sein gewohntes Umfeld und wir wissen ihn gut betreut.»

Alle paar Monate wechseln die Betreuerinnen, so wie es bei diesem Pflege-Modell üblich ist. Die meisten Care-Migrantinnen pendeln zwischen ihrem Pflege-Job in Deutschland, Österreich oder der Schweiz und ihrer Familie in ihrem Heimatland. Denn auch dort übernehmen die Frauen häufig Pflege-Aufgaben, etwa für ihre alternden Eltern.

Für Peter bringt der Wechsel der Betreuerinnen jedes Mal eine Umstellung mit sich. «Aber in einem Heim hätte er ja noch mehr unterschiedliche Bezugspersonen und Wechsel», sagt Julia. Ein Pflegedienst kümmert sich um die medizinische Pflege. «Wir als Familie sind ja auch da. Jetzt ist es wieder deutlich entspannter geworden», sagt Julia.