Vernetzter Denkansatz in der Alterspolitik - demenzjournal.com

Diskussionspapier

Vernetzter Denkansatz in der Alterspolitik

Pflege- und Betreuungsleistungen beginnen in der Ortsplanung: Die Gemeinden sind gefordert, zukunftsorientiert zu planen. PD

Fehlanreize bei der Finanzierung, mangelnde Zusammenarbeit in der Verwaltung und fehlende Alltagsassistenz: Die heutige Alterspolitik wird den Bedürfnissen alter Menschen nicht gerecht.

Die demografische Entwicklung zeigt deutlich: In der Schweiz gibt es immer mehr betagte Menschen. Diese wären in einer ersten Phase vor allem auf geeignete Alltagsassistenz angewiesen und erst später auf Betreuung und Pflege.

Die heutige Alterspolitik wird diesen Bedürfnissen jedoch nicht gerecht. Zurzeit ist das Angebot oftmals falsch ausgerichtet oder es bestehen gar Fehlanreize.

Diese führen dazu, dass insgesamt höhere Kosten für das Gemeinwesen entstehen, das Angebot nicht den Bedürfnissen der alten Menschen entspricht und sich Unmut unter den Pflegenden und Betreuenden breitmacht.

Die Politik ist darum gefordert, im Gesundheits- und Sozialwesen Gegensteuer zu geben. Die IG Schnittstellen hat hierzu dieses Diskussionspapier verfasst.

Problematische Unterteilung bei ambulanten und stationären Angeboten

Ambulante und stationäre Leistungen werden gegenwärtig unterschiedlich finanziert. Je nachdem müssen Krankenkassen, öffentliche Hand und Bewohnende von Pflegeheimen mehr oder weniger bezahlen. Dies führt zu massiven Fehlanreizen.

Für die öffentliche Hand und die Krankenkassen ist etwa ein Heimaufenthalt bei niedriger Pflegestufe günstiger – solange ihn die Betroffenen selber bezahlen können.

Diese unterschiedlichen Interessenlagen führen zu Konflikten und öfters zu Lösungen, welche die betagten Menschen so nicht wollen und aufs Gesamte gesehen teurer sind.

Eine negative Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die Ergänzungsleistungen, welche zwar teure Heimaufenthalte übernehmen, jedoch bei den Mietzinsen enge Grenzen setzen.

Ebenfalls nicht bezahlt werden in den meisten Kantonen Leistungen des Betreuten Wohnens (Wohnen mit Dienstleistungen), die kostengünstiger sein können als Heimaufenthalte.

Schliesslich fehlt es auch an architektonischen und (städte-) baulichen Planungen, welche garantieren, dass betagte Menschen so lang wie möglich autonom in ihrem bisherigen Wohnumfeld leben können.

Forderungen

  • Die Finanzierung von ambulanten und stationäre Pflege- und Betreuungsleistungen ist aufeinander abzustimmen. Fehlanreize gilt es zu beseitigen. Die Ergänzungsleistungen sind so anzupassen, dass Heimeintritte aus überwiegend finanziellen Gründen vermieden werden. Integrierte Versorgungsangebote (stationär und ambulant) sind zu fördern und Leistungen für das ganze Quartier anzubieten, damit ein längerer Verbleib im eigenen Haushalt möglich ist.
  • Ambulante und stationäre Pflege- und Betreuungsleistungen beginnen in der Ortsplanung: Gemeinden sind gefordert, betrieblich und planerisch zukunftsorientierte Lösungen strategisch zu entwickeln und umzusetzen. Im Rahmen der ortsplanerischen Rahmenbedingungen gilt es alle Neubauwohnungen – wie auch Renovationswohnungen – hindernisfrei auszugestalten.
  • Die Sozialverantwortlichen erfassen die Menschen in der Siedlung, im Quartier in der Gemeinde in der Region mit ihren spezifischen Interessen und vernetzen sie so untereinander, dass sie Netzwerke bilden können.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Problematische Unterteilung in Pflege und Betreuung

Im Gegensatz zu den KVG-pflichtigen Pflegekosten, welche mehrheitlich von der öffentlichen Hand und den Krankenkassen übernommen werden müssen, gehen die nicht KVG-pflichtigen Betreuungs- und Pensionsleistungen zu Lasten der Bewohnenden und der Gemeinden.

In der Praxis kommt es aufgrund dieses Finanzierungsmodells immer wieder vor, dass Pflegekosten (in Verletzung von Art. 25a Abs. 5 KVG) nicht als solche deklariert werden müssen, sondern als Betreuungs- und Hotellerieleistungen den Bewohnenden verrechnet werden. Das heutige System der Pflegefinanzierung provoziert somit Fehlanreize. Der Preisüberwacher ortet dringenden Handlungsbedarf. 

Forderungen 

  • Die strikte Unterteilung in Pflege und Betreuung, wie sie heute vorgegeben ist, ist zu überdenken. Die Finanzierungsmechanismen sind zu hinterfragen, und die heute geltende Pflegefinanzierung soll die Betreuung stärker gewichten. Allenfalls ist sie durch eine Gesetzesänderung zu ersetzen.
  • Betreuungsziele und -leistungen sind sichtbar und messbar zu machen. Es braucht mehr Transparenz und die Wertschätzung der Betreuungsarbeit. Die Mechanismen der Pflegefinanzierung sind durch solche der Betreuungsfinanzierung zu ergänzen. 
  • Auf der Grundlage von Freiwilligenarbeit sollen soziale Netzwerke geschaffen werden, die viel mehr noch als heute schon Betreuungsleistungen erbringen. 
  • Es sind Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Freiwilligenarbeit und die Arbeit pflegender Angehöriger fördernd unterstützen.

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Problematische Teilung zwischen Gesundheitswesen und Sozialwesen

Beim Bund und in vielen Kantonen gibt es zwischen dem Gesundheitswesen und dem Sozialwesen zu wenig Zusammenarbeit: Während die Gesundheitsdepartemente die Anforderungen an Gesundheitsberufe, Spitex-Organisationen und Pflegeheime formulieren, sind die Sozialdepartemente für die Sozialberufe, Kinder-, Jugend- und Behindertenheime zuständig.

Historisch gewachsen sind so zwei Welten, welche sich gegenseitig kaum berühren und zu wenig aufeinander abgestimmt sind. Es herrscht ein Silodenken vor.

Das Krankenversicherungsgesetz und die zugehörigen Verordnungen geben vor, wer mit welchem Ausbildungsabschluss welche Pflegeleistungen erbringen darf. Die aktuelle Rechtslage führt zu einer Dominanz der Pflegeberufe und vernachlässigt, dass Betreuungskompetenzen genügend einfliessen können.

In vielen Situationen (etwa bei Demenzerkrankungen) wäre die Betreuungskompetenz, welche die Pflegeausbildung nicht à priori garantiert, wichtig und der Einsatz von Fachleuten aus dem Sozialwesen und der Gerontologie vorteilhaft.

Forderungen

  • Das im Sozialwesen vorhandene Wissen muss in die Institutionen und Berufe, welche zum Gesundheitswesen gehören, einfliessen und umgekehrt. Zwischen den Sozial- und Pflegeberufen ist eine bessere Durchlässigkeit zu fördern und diese gesetzlich abzubilden. 
  • Unterschiedliche Konzepte von Arbeitsteilung und Zusammenspiel von Pflege- und Sozialberufen sind weiter auszubauen. Stellenausschreibungen und -vorgaben für Pflegeheime berücksichtigen, dass für die Lebensqualität der Bewohnerinnen ein Miteinander von agogischen, therapeutischen, pflegerischen und sozialen Berufen notwendig ist.

Hannes Koch hat den hier vorliegenden Text im November 2018 im Rahmen der Herbsttagung der Walder Stiftung in Zürich vorgetragen. Wir bedanken uns beim Autor und bei der Walder Stiftung für diesen Beitrag!