Der vom Weltbund der Krankenpfleger:innen ICN 1963 verabschiedete und 2012 revidierte Ethikkodex für Pflegende benennt vier grundlegende Verantwortungsbereiche der Pflege: Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen und als viertes eben: Leiden zu lindern.
In der Präambel der «Richtlinien zur Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften heisst es: «Das grundlegende Ziel (bei der Betreuung am Lebensende ) besteht darin, Leiden zu lindern und die bestmögliche Lebensqualität des Patienten sowie eine Unterstützung der Angehörigen zu gewährleisten» (Revidierte Fassung von 2013, S.5).
Leidens-, Schmerz- oder Symptomlinderung stellen, so die Richtlinie, eine ärztliche Verpflichtung dar. Patientinnen und Patienten am Lebensende haben dementsprechend ein Anrecht auf Palliative Care und damit auch auf die Linderung von Leid.
Dass die Linderung von Schmerzen und Leiden eine moralische Forderung ist, wird in beiden Texten vorausgesetzt. Zudem wird in letzterer Richtlinie betont, dass es Hauptziel der Palliative Care ist, Leid zu lindern. Aber treffen diese beiden als selbstverständlich angenommenen Behauptungen wirklich zu?
Was heisst eigentlich «lindern»?
Es ist hilfreich, sich bewusst zu machen, was es heisst, von Linderung zu sprechen. Drei Punkte sind hier zu betonen:
i) Wenn wir davon reden, etwas zu lindern, schliesst dies ein Werturteil darüber ein, dass der Ausgangszustand negativ zu beurteilen ist. So reden wir davon, das eigene oder das Elend anderer zu lindern. Armut, Kummer, Pein und Qual können gelindert werden; ebenso Atemnot, Leiden und Schmerz. Aber es wäre befremdlich, davon zu sprechen, die Freude an der Gesundung zu lindern. Hier wären Worte wie «trüben» oder «beeinträchtigen» angebracht.
ii) Linderung bezeichnet die Milderung eines Übels, nicht dessen Verschwinden. Es geht darum, dass etwas abgeschwächt wird, und meist darum, dass es besser ertragen werden kann. Nicht aber darum, dass etwas behoben, geheilt oder befriedigt wird. Wer sagt «Ich kann deinen Kummer nicht heilen, aber lindern» trifft eine klare Aussage über einen Sachverhalt: Der Kummer wird trotz aller Bemühungen bestehen bleiben. Aber er wird leichter sein. Die Rede, etwas «höchstens lindern zu können», macht dies ebenfalls deutlich. Kann man ein Übel beheben, wäre es also sogar falsch, von Linderung zu sprechen.
iii) Wenn wir von Lindern sprechen, ist noch nichts darüber gesagt, dass das Übel auf das kleinstmögliche Mass reduziert wird. Einen Menschen mit starken Zahnschmerzen für einen Moment abzulenken, lindert dessen Leid. Aber diese Linderung mag minimal und kurzfristig sein, und es mag Schmerzmittel geben, die denselben Schmerz und damit auch das Leiden stärker mildern würden.
Diese drei Aspekte des Begriffs «Lindern» haben sowohl eindeutige Auswirkungen darauf, wann Linderung eine moralische Forderung ist, als auch darauf, wie diese Forderung genauer auszuformulieren ist.
Lindern als bedingte moralische Forderung
Wenn sich Linderung auf etwas bezieht, was ein Übel bzw. ein Übel für jemand ist, steht fest, dass Lindern immer nur die zweitbeste Möglichkeit ist. Sofern ich das Übel beheben kann, habe ich eine Pflicht, genau dies zu tun. Lebt meine Mutter im Elend, habe ich eine moralische Pflicht, ihre schlechte Lage zu beheben.
Ich darf mich nicht damit begnügen, ihr Elend zu lindern. Täte ich dies, handelte ich moralisch falsch. Linderung ist daher eine bedingte moralische Forderung. Vorausgesetzt, dass ich ein Übel nicht beseitigen kann, so habe ich es zumindest zu lindern.
Wenn wir von Lindern sprechen, ist noch nichts darüber gesagt, dass das Übel auf das kleinstmögliche Mass reduziert wird.
Oder, um es mit Johann Wolfgang von Goethes Arztfigur aus «Wilhelm Meisters Lehrjahre» zu sagen: «Wo wir nicht helfen können, sind wir doch schuldig zu lindern.»
Die Voraussetzung («Sofern wir ein Übel nicht beheben können») bezieht sich nicht nur darauf, dass es faktisch unmöglich ist, das Übel zu beseitigen. Es geht auch darum, dass jeder Versuch, das Elend zu beheben, die Lage des oder der Betroffenen nur mehr verschlechtern würde, und schliesslich auch um Situationen, in denen eine Person selbstbestimmt ablehnt, dass das Übel behoben wird.
Leidet eine Freundin in ihrer schlechten Beziehung, lehnt sie aber eine Trennung ab, so habe ich ihr Leid dennoch zu lindern. Der zweite Punkt, der sich aus dem Begriff der Linderung ableiten lässt, ist, dass wir aufgefordert sind, Schmerz und Leid bestmöglich zu lindern.
Gibt es zwei Methoden, die Angst einer schutzbedürftigen Person zu lindern, und gleichen sich die Methoden in Bezug auf ihre Nebenwirkungen, so besteht die Pflicht, jene zu wählen, welche die Angst in einem höheren Grade mindert.
Tue ich dies nicht, handele ich moralisch falsch – und dies, obwohl ich die Angst lindere. Zu diskutieren wäre nur der Fall, dass sich der Aufwand unterscheidet, der für die beiden Methoden aufzubringen ist. Aber wie bei anderen moralischen Forderungen gibt der Aufwand nicht den Ausschlag – jedenfalls nicht, sofern er als zumutbar anzusehen ist.