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VER-rückt werden

Menschen mit Demenz in ihrer Andersartigkeit begleiten

Echte Bezogenheit, emotionale Präsenz und ein liebevoller Umgang mit Menschen mit Demenz sind fundamental. Bild Daniel Kellenberger

Wenn wir in der Lage sind, psychische Potentiale und «andere» Wahrnehmungsqualitäten von Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt zu rücken, helfen wir ihnen und damit auch uns selbst.

Jedem Menschen wohnt das lebendige Prinzip der «Selbstaktualisierung» inne: Er integriert bewusst oder unbewusst stets eigene Persönlichkeitsanteile, entwickelt sich weiter und verwirklicht sich selbst1. Ist ihm dies möglich, kann er sich trotz Veränderungen und Wandlungen im Lebenslauf als kontinuierliche Einheit erleben (Ich-Kontinuität). 

Wird dieses «innere Wachstum», wie es Erich Fromm einmal bezeichnet hat, verhindert, oder werden Krisen und Wirklichkeitserfahrungen unerträglich, kann das «VER-rücken» eine Möglichkeit der Selbstregulation und Teil einer veränderten Welt- und Lebensauffassung sein.

Man weiss inzwischen, dass das Alter eine Trauma-sensible Phase ist und Reaktivierungen früherer, traumatischer Erlebnisse wahrscheinlicher werden, weil soziale Rollen und berufliche Aufgaben in den Hintergrund treten. Eine Schwedische Langzeitstudie (1968-2005)2 konnte zum Beispiel einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen traumatischen Erlebnissen im Lebenslauf und einer späteren Alzheimer-Entwicklung nachweisen.

Folglich sind ungewöhnliche Bewusstseinszustände und Affekte nicht automatisch pathologisch, sondern können normaler Bestandteil psychischer Entwicklungs- und Transformationsprozesse sein3.

Die Beschäftigung mit Lebensthemen, innerer Produktivität und Verarbeitungsprozessen endet nicht plötzlich mit dem Beginn einer Demenz.

Es ändern sich die (kognitive) Anpassungsfähigkeit an gesellschaftliche Wertorientierungen oder die Möglichkeit, sich verbal «gloiffig» auszudrücken. Die Sprache wird emotionaler, symbolischer, kreativer.

Die Bearbeitung von Lebensthemen geschieht aber unbewusst-emotional weiter und kann sich in herausforderndem und befremdlichem Verhalten äussern. Möchten wir Menschen mit Demenz erreichen, müssen wir ihre Ausdrucksmöglichkeiten und «anderen» Wahrnehmungsqualitäten von Wirklichkeit anerkennen. Echte Bezogenheit, emotionale Präsenz und ein liebevoller Umgang werden fundamental. Eine nicht authentische Begegnung wird sofort bemerkt und kann enttäuschte und wütende Reaktionen auslösen.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Lernen wir als Gesellschaft und als einzelne Individuen hingegen authentisch zu kommunizieren und auf die emotionale Symbolsprache einzugehen, und versteifen wir uns nicht auf pathologische «Wortfindungsstörungen» als Krankheitsmerkmal, werden sich Betroffene in ihrer und unserer Welt besser zurechtfinden.

Die steigende Zahl von Menschen mit Demenz könnte auch ein Ansporn dafür sein, unsere gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Werte zu überprüfen.

Es ist bekannt, dass Neuroleptika das psychische Energieniveau, die Kognition und die Mitteilungsfähigkeit von Menschen mit Demenz zusätzlich beeinträchtigen, ohne dass eine erhoffte Wirkung erzielt würde4. Bis heute gibt es bezogen auf herausforderndes Verhalten keine Therapiemöglichkeiten.

«Auslassversuch»

Ein Auslassversuch ist ein Test zur Prüfung der Wirksamkeit eines Arzneimittels, bei dem zunächst die wirksame Substanz verabreicht wird. Dann wird für eine bestimmte Zeit auf das Medikament verzichtet, bis anschliessend wieder die wirksame Substanz zugeführt wird.

Trotzdem erhalten über 70 Prozent der Heimbewohner Psychopharmaka, meist ein Neuroleptikum5. Dabei bleibt die Medikamentengabe oft ohne therapeutischen Nutzen und mit vorgeschobener Hauptwirkung juristisch eine fehlerhafte Therapie und stellt damit eine Körperverletzung dar6.

Verhaltensauffälligkeiten wie erhöhte Aggressivität, Verwirrtheitszustände, Übererregung und Sitzunruhe können zudem auf Psychopharmaka-Nebenwirkungen zurückgehen und das Ergebnis von Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln sein. Die US-Verbraucherschutzbehörde Public Citizen 2009 nennt rund 136 Medikamente, die demenzähnliche Symptome hervorrufen können.

Erst durch Auslassversuche wird erkennbar, ob es sich bei einer Verhaltensauffälligkeit um eine unbewusst-emotional zu verarbeitende Trauma-Erfahrung, eine Reaktion auf eine inakzeptable Behandlung, um verhinderte Entwicklungschancen, eine andere Grunderkrankung, nicht erkannte Schmerzen oder Medikamentennebenwirkungen handelt.

Erst dann lässt sich mit Sicherheit sagen, was der einzelne Mensch tatsächlich braucht. Eine chemische und oft emotionale «Um-Panzerung» kann zur Folge haben, dass ein Mensch mit Demenz darunter leiden muss, seine psychischen Potentiale für eine Selbstaktualisierung nicht nutzen und seine Bedürfnisse nicht mehr ausdrücken zu können.

Ein unreflektierter, routinemässiger Einsatz von Arzneimitteln sollte daher niemals ein Ersatz für die Auseinandersetzung mit sich aufdrängenden existentiellen und spirituellen Fragen sein.

Wird der Zugang zur eigenen Psyche verwehrt, hat dieser Mensch vielleicht keine erkennbaren Mittel und Wege mehr, anderen mitzuteilen, was ihn bewegt.

Zurück bleibt ein unerledigter, nicht mehr zu bewältigender Berg an Entwicklungsaufgaben – hinderlich, sich mit dem eigenen Leben auszusöhnen. Daher sollte der Zugang zu sich möglichst erhalten bleiben.

Menschen mit Demenz brauchen Menschen auf Augenhöhe, die ihre Erfahrungen übersetzen können, sie in einer Weise begleiten und fördern, die ihre «VER-rückte Andersartigkeit» als lebendigen Prozess und nicht (ausschließlich) als behandlungswürdige Erkrankung begreifen, und sie einbetten in ein Leben mitten unter uns.


Literatur

1 Adl-Amini, Bijan (2002): Krisenpädagogik, Bd. 1: Veränderung und Sinn, Aschaffenburg.

2 Johansson, L., et al. (2013):  Common psychosocial stressors in middle-Age woman related to long standing distress and increased a risk of Alzheimer’s disease, http://bmjopen.bmj.com/content/3/9/e003142.full (Schwedische Langzeitstudie).

3 Grof, Stanislav (1990): Spirituelle Krisen, München.

4 DGSP (2012): Weniger ist mehr - neueste Studien zur Behandlung mit Neuroleptika III (Teil I und II), Memorandum unter dgsp-ev.de/neuroleptikadebatte/

5 Klimmer, Melanie (2013):«Psychopharmaka als Mittel gegen Personalnotstand und erhöhten Betreuungsaufwand. Tagesdosen um 780 Prozent gestiegen», in: Wochenzeitung CAREkonkret, Nr. 43, S. 4.

6 dies. (2014): «Psychopharmaka-Einsatz. Tablettengabe kann Körperverletzung sein», in: CAREkonkret, Nr. 32, S. 5.

Dies ist eine geänderte Fassung des Beitrages «Das VER-rückt-Werden als Krise und Chance» in der Fachzeitschrift Palliative Geriatrie (2016), 2. Jg., Nr. 4, hrsg. von der Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie e.V., erschienen bei der Hospiz Verlag Caro & Cie. oHG, Esslingen, Deutschland