Nicht mehr wollen können - demenzjournal.com

Das Tagebuch (76)

Nicht mehr wollen können

«Eiserne Disziplin muss man an guten Tagen üben. Dann hält sie sich in schlechten Tagen eher aufrecht. Ich kann die Menschen so gut verstehen, die sich schliesslich einfach gehen lassen.» U.Kehrli

Frau Kehrli ist endlich soweit, dass sie Hilfe in Anspruch nimmt. Der Jahrzehnte alte Gemüsegarten bekommt ebenfalls eine Radikalkur, sie mag nicht zusehen müssen, wie auch er langsam zerfällt.

6. Mai 2013 – Hilfe annehmen

Wieder ist es Montag. Nehme heute frei. Die letzten vier Tage war ich nachmittags bei Paul. Heute muss ich mich ausruhen. Der Körper ist schon morgens wie Blei, mühsam wälze ich mich aus dem Bett. Ohne meine antrainierte Disziplin würde ich wohl vergammeln, mich weder erheben, noch Ordnung halten im Haushalt.

Diese eiserne Disziplin muss man an guten Tagen üben. Dann hält sie sich in schlechten Tagen eher aufrecht. Ich kann die Menschen so gut verstehen, die sich schliesslich einfach gehen lassen. Nicht mehr wollen können. Manchmal schleicht sich ein solches Gefühl auch bei mir ein. Dann schreie ich zu Gott, halte mich an seine Verheissung: Er gibt den Müden Kraft. Ein täglicher Kampf.

DAS TAGEBUCH

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich bin entschlossen, endlich Hilfe anzunehmen. Bevor mein Körper um Hilfe schreit. Bevor er streikt. Der körperliche Schmerz ist manchmal derart stark, dass ich zu Schmerzmitteln greife. Ein halbes, von der schwächsten Sorte, doch es ist ein Alarmzeichen, wenn ich zur Chemie greifen muss. Der Druck auf meiner Brust ist so stark als würde es mich nächstens zerreissen.

Gedanken an Paul muss ich verdrängen, es ist gut, dass mich hier der Umbau des Gartens voll beansprucht. Der grosse Kraftakt – Steine schleppen, altes morsches Holz vom Zaun ausreissen, schwere alte Pfosten vom Treibhaus zusammentragen – hinterlässt Spuren. Verständlich, dass ich mich fühle wie nach einer Bergtour.

Morgen das erste Gespräch mit der Psychologin. Inzwischen weiss ich wenigstens auszusprechen, wo «es» weh tut. Kurz zusammengefasst: Ich leide an Liebeskummer. Ich habe Sehnsucht nach dem Menschen, der 30 Jahre an meiner Seite war.

Ich bin wütend, dass er wohl da ist, aber doch nicht mehr «da». Ich habe so meine Zweifel, dass er gut und «artgerecht» betreut wird. Und allgemein: Da ist die Überbelastung, weil nun all die Verantwortung rund ums Haus auf meinen Schultern lastet, zusätzlich zu den Besuchen im Pflegeheim.

8. Mai 2013 – Das Trauma

Das ist es also: Was ich mit Paul im Pflegeheim in N. erlebt habe, bedrückt mich noch immer zutiefst und der Schmerz um ihn lässt mich nicht frei sein. Die Angst um sein Befinden ist immer präsent. Er würde mich zu sehr vermissen, weil seine bisherigen Betreuenden alle gegangen sind.

Das ganze Team ist inzwischen weg, nur wenige der Neuen haben den richtigen Draht zu Paul schon gefunden.

Schmerz und Angst. Da brauche ich seelsorgerische Hilfe, um dieses Trauma loszuwerden. Gestern im Gespräch mit der Psychologin kam dieser Druck zutage, stets flossen die Tränen, wenn es um Paul ging. Nicht die Belastung der Besuche, nicht mein eingeschränkter Alltag und die viele Mehrarbeit zuhause. Es ist Vergangenes, dass mich noch zu sehr prägt. Ich musste es verdrängen um die Gegenwart auszuhalten. Doch braucht das Unverarbeitete viel Kraft und raubt mir den Frieden.

Ärger vorhin bei der Ärztin. Ich freute mich so sehr sie wieder zu sehen! Mein Blutdruck stieg auf 170/90! Und es ging um den Test der Fahrtauglichkeit! Alle andern Tests waren sehr gut. Haben mich zwar auch gestresst, ich will ja gut sein und bestehen. Das setzt auch unter Druck.

14. Mai 2013 – Unsere alten Bäume

Nach und nach verschwindet der alte Garten. Jahrzehntelange Selbstversorgung, die Achtung vor dem fruchtbaren Boden, kommt zu einem Ende. Nun geht es nur noch ums Auge, darum, möglichst wenig Arbeit mit der Umgebung zu haben, es soll schön aussehen aber nicht mehr im Angesicht des Schweisses.

Seit 22 Jahren liebkosen und pflegen wir sechs Koniferen an unserem Sitzplatz. Paul hat sie aus einem Grün-Container gerettet. Sie waren damals knapp 30 Zentimeter hoch. Inzwischen sind sie zu stattlichen, über zwei Meter hohen Säulen gewachsen.

Diese Koniferen sind unsere Bäume. Mir scheint, als ob darin noch der Atem von Paul hinge, die Gespräche meiner Eltern, wenn wir gemütlich beieinander sassen, da waren Andy und Fränzi mit den Kindern. Die Stimmen der Lieben sind in die Äste eingewachsen. Das sprudelnde Erzählen meiner Tante Ruth, vielleicht hängt auch noch ein weisses Haar meiner Tante Emma im Baum. So viele Menschen haben neben diesen Koniferen gesessen, geredet, gelacht, Essen genossen. Vergangenes ist in ihnen ähnlich wie in einem Tagebuch verewigt. Wie könnte ich diese Bäume wegwerfen? Sie werden beim Planen in den neuen Garten einbezogen.

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15. Mai 2013 – Es geht los

Schon kurz vor acht steht Monika vor der Tür. Strahlend, warmherzig.

«Und wo hast Du Xeno?»

«Der ist beim Hunde-Gotti. Ist doch besser ohne ihn, wenn’s hier losgeht.»

Bald kommen Andy und Simon. Um neun Uhr dann Ingeborg. Ein Anruf: Der Vorarbeiter mit Bagger und Lastwagen wird zwei seiner Arbeiter delegieren. Der Bagger hat eine Panne. Verzögerung. Monika führt Regie. Ich darf mich entspannt in die Küche zurückziehen.

Warten auf den Bagger. Der kommt endlich um zehn Uhr. Die beiden alten Büsche müssen ausgebuddelt werden, sie wehren sich heftig. Die Forsythie: Mehr als 50 Jahre Wachstum. Sie ist voll Unkraut, Giersch, chancenlos das stete Jäten. Ausgraben ist die einzige Lösung. Schnell hat sich Monika drei Zweige abgeschnitten vom Busch, der mir Peter vor 20 Jahren schenkte.

An Pflanzen hängen unser Herz und viele Erinnerungen. Loslassen müssen ist Trauerarbeit. Auch hier läuft vieles in unserer Seele ab, dem man Zeit geben muss.

Zwischendurch setze ich mich auf einen Gartenstuhl und schaue zu. Keine Kraft mehr in mir. Dann wieder in die Küche, Mittagessen vorbereiten. Alles läuft wie ein Film ab, fast unwirklich. Die mächtigen Koniferen in den Kübeln werden mit viel Feingefühl herausgehievt, ein Kübel geht in die Brüche, damit muss man rechnen.

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Bald sind die Bäume in die neue Gartenfläche eingepflanzt. Entspannt können sie nun ihre Äste ausbreiten, neue Wurzeln entwickeln, die Weite geniessen. Ich bin glücklich, dass wir sie retten konnten. Unsere, meine Bäume …

Am Abend sind die neuen Gefässe bereits aufgefüllt, bepflanzt. Werden allseits bestaunt. Monikas Ideen verwirklichen sich. Ein Idyll verwirklicht sich. Nun heisst es weiter abwarten, das Unkraut soll sich zeigen, es wird Stück für Stück behandelt, eine Radikalkur. Eine andere Lösung gibt es nicht für den über 100-jährigen Garten.

Alles neu. Alles anders. Neuanfang. Mut beweisen, die nötige Hilfe bekommen.

Ich staune über das Timing. Andy und Simon haben ausgerechnet an diesem Tag Ferien. Nach langem wieder mal ein sonniger Tag, die Erde seit zwei Tagen abgetrocknet, morgen wird es schon wieder regnen. Ein Glückstag. Dass Ingeborg mithelfen kann, ist auch ein Geschenk. Mein Garten ist ihr ans Herz gewachsen. Und nun können Andy und Simon den neuen Baum wachsen sehen.

Der neue Garten, mein Vermächtnis. Auch wenn dazu das Vermächtnis meines Grossvaters und von Paul eingeebnet werden musste. Auch eine Radikalkur. Über hundert Jahre diente diese Erde dem Gemüsebau, fleissige Hände bearbeiteten den Boden, säten aus, jäteten, ernteten.

Lange wehrte ich mich gegen diese Veränderung. Ehrfurcht vor der Nahrung spendenden Erde, das Gedenken an meine Vorfahren, die auf Selbstversorgung inklusive der Haltung von Schweinen angewiesen waren. Es schien mir wie Verrat, sich nun einen Ziergarten zu leisten, viel Geld auszugeben für die aufwändigen Arbeiten mit Bagger und zwei Gärtnern. Radikales Umdenken. Ich kann nicht auch noch im Garten dem Zerfall zusehen … (Fortsetzung folgt)

Interview mit Ursula Kehrli

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