3. September 2006
Seit einer Woche ist Paul wieder zuhause. Er ist noch müde, braucht Ruhe. Ungewohnt aber ist seine Gefühlswelt, denn es gilt den Tod seines Freundes zu verkraften. Die Tränen sitzen locker, der Spitalaufenthalt hat auch ihn sehr aufgewühlt. Körperlich scheint er sich wieder völlig erholt zu haben. Es ist für mich ein Wunder. Oh, wie bin ich dankbar!
Doch plötzlich dies: Keine Reaktion mehr nach dem Mittagessen, apathisch sitzt er da, sein Blick ist leer, er ist nicht ansprechbar. Zum Glück ist heute mein Sohn Andy da. Telefon mit dem Notarzt. Wir können Paul selber ins Berner Insel-Spital transportieren. Das geht schneller, nicht schon wieder das Sirenengeheul der Ambulanz vor der Tür …
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Diagnose: Untersalzung. Wie auch immer – nach der Infusion ist Paul wieder ansprechbar. Er wird zur Überwachung mit der Ambulanz ins Ziegler Spital überführt. Mitternacht, endlich bin ich zu Hause.
Ein anstrengender Tag geht zu Ende. Warum bloss sind die Stühle im Notfall Wartezimmer so unbequem, hart? Und zuhause die Wohnung so leer? Ich schleiche mich ins Bett. Alles tut weh. Aussen und innen.
Bin wie in einem reissenden Bergbach nach einem Gewitter, kann mich nirgends festhalten, finde keinen Halt, stürze in die Tiefe, werde mitgerissen, fortgespült. Kämpfe gegen die wild schäumenden Wasser, werde wund geschlagen. Hin und her geschleudert.
Kaum in ruhigeren Gewässern, kommt der nächste Absturz, ich kann kaum mehr Atem holen. Irgendwann fliesst jeder brodelnde, tobende Bergbach in einen See. Irgendwann wird es auch in meinem Leben eine ruhigere Phase geben, versuche ich mir Mut zuzusprechen. Dann, dann werde ich mich wie auf einer Luftmatratze treiben lassen. Werde ruhen, ruhen … Bin zu erschöpft um zu beten, dennoch ein Stossgebet: Herr, Hilfeeeee … !
19. September 2006
Ich wage beim Frühstück keinen Mucks, ich schweige: ich sehe es ihm schon an, diese finstere, unzufriedene Miene, er ist verärgert. Worüber? Ich weiss nicht, was ihn bewegt. Dann fällt ihm beinahe die Tasse aus der Hand, diese Zuckung – drohende Anzeichen eines Epilepsieanfalles. Ich bin still und beobachte ihn. Ja, schon wieder. Nach dem beinahe Wegschleudern des Brotstückes lege ich die «Notfall»- Tablette vor ihn hin (Rivotril).
«Bitte, Paul, nimm sie». Er wehrt sich, winkt ab, wird böse, macht mir Vorwürfe und ist verärgert. Ich gehe vom Tisch weg mit dem Vorwand die Fenster zu schliessen. Ich habe Angst, bin angespannt. Ich denke an all die Ereignisse der letzten Monate, die Wutausbrüche, die Unzufriedenheit, das Motzen, die innere Unruhe.
Getriebenheit bei allem: bei der Arbeit, im Garten, beim Autofahren, bei Diskussionen. Ist das noch mein Paul?
Stets fand er Worte der Anerkennung, ermutigte mich beim Malen, Musizieren, freute sich an meinen Handarbeiten. Paul schenkte mir die Geborgenheit, nach der ich mich immer gesehnt hatte. Nun kam Unsicherheit, Unheimliches in unseren Alltag, heftige Wortwechsel. Es ist etwas fremdes zwischen uns entstanden, das ich nicht erklären konnte.
Zureden hilft schliesslich, er nimmt die Tablette, lässt sich zum Sofa geleiten, beinahe fällt er hin, knickt ein, kann sich noch hinlegen. Sogleich schläft er ein. Epilepsie-Anfall abgewehrt. Aufatmen. Aufregungen können Anfälle auslösen. Nur ja nicht!
Mir scheint, als ob ich mich auf einem Minenfeld bewege. Ich weiss nie, wann und wo es knallt.
Es ist als ob ich mit zwei Männern verheiratet wäre. Der eine nett, zuvorkommend, hilfsbereit, seit dem Schlaganfall etwa auch den Tränen nah und weicher geworden. Der andere Mann ist mir fremd, oft unzufrieden, oft mürrisch. Er nörgelt an allem rum. Stress beim Autofahren: Er korrigiert, reklamiert dauernd, schimpft über alle und alles und macht mir die Freude am Ausflug zunichte.