31. März 2013 – Schmerz als Identität?
Ob wir Opfer des Schmerzes bleiben ist unsere Entscheidung. Die Opferrolle ablegen und anfangen die aktuelle Situation annehmen, hilft, das Leben neu zu gestalten, um es auf andere Art geniessen können.
Ich will nicht den grossen Schmerz um Pauls Situation wie ein Firmenlogo mit mir herumtragen. Es ist wie es ist. Aber es ist nicht alles verloren. Es gibt die Erinnerungen an die gute Zeit, die grosse Dankbarkeit für die gesegneten Jahre, für alles, was wir gemeinsam erlebt und miteinander erreicht haben.
Dankbarkeit über diese guten Jahre gibt mir Kraft für das Jetzt.
Wagen, Neues gestalten, das Zuhause verändern, auf das Alleinsein einrichten, Garten umgestalten, auch da: Neues wagen. Es ist wichtig, zu trauern. Aber nach gewisser Zeit muss man einen Schritt weiter gehen. Es nützt Paul nichts, wenn ich hier traurig herumhänge, mich bedaure, mein Leid allen erzähle in der Hoffnung, Mitgefühl und Anteilnahme zu ergattern.
Ja, es ist sehr traurig, es ist enorm schmerzhaft Paul mit dieser Krankheit im Pflegeheim «abzugeben». Wut, Auflehnung, Not hinausschreien, weinen – durch all das bin ich gegangen.
Aber nun will ich mich aufmachen, auf das zu bauen, was mir bleibt: Erinnerungen, aber auch Zeit. Mein Jetzt, das gehört mir und das kann ich gestalten. Die Trauer, der Schmerz werden mich weiterhin begleiten, ich lerne damit umgehen. Doch bin ich dadurch geduldiger, reifer, sanfter geworden.
Das Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Ich lerne die Einsamkeit aushalten, ertragen, erdulden, ja sie oft gar zu geniessen. In der Stille suche ich das Gespräch mit Gott, lausche auf seine Stimme, lese in der Bibel oder in Büchern, die ich mir nun in der Bibliothek hole.
An Paulo Coelho, mit seiner unablässigen Suche nach Wahrheit, fasziniert mich der ausgezeichnete Schreibstil, obwohl es eine Übersetzung ist. Es liegt auch viel Spannung in der Art der Erzählung, was sich leicht liest. Nach wie vor interessieren mich Berichte über den Jakobsweg.
Sehnsüchtig warte ich auf wärmere Tage, um mehr mit dem Rucksack loszuziehen, noch selten musste man so lange auf den Frühling warten. Auch heute, an Ostern, schneite es etwa acht Zentimeter. Cello-Etüden begeistern mich wieder aufs Neue. Da gilt es schwierige Passagen zu wiederholen, zu üben, bis es unter die Haut geht, zur Gewohnheit wird.
Ohne Nachdenken soll es automatisch ablaufen. Deshalb: üben, üben, üben, immer wieder dieselbe Hürde nehmen, nicht aufgeben, sich nicht schrecken lassen, wenn es nach 10 oder 20 Mal noch nicht gelingt.
Das habe ich spät erkannt, aber eben noch nicht zu spät. Wiederholungen sind auch bei Sprachen, Mathematik, beim Computer überall das Geheimnis des Erfolgs. Früher dachte ich, wenn ich es nach fünf Mal nicht schaffte, ich sei eben nicht dafür talentiert und liess es sein oder ging weiter zur nächsten Übung. Heute bin ich sehr hartnäckig und komme gut voran mit schwierigen Etüden. Da bleibe ich dran, wie andere täglich an Kreuzworträtsel herumknobeln. Oder an Sudoku. Die mag ich nicht. Zahlen mag ich nicht …, lieber Etüden büffeln.
1. April 2013 – Eile mit Weile
Mitten im Spiel schaut Paul auf, blickt hinaus, hört mir nicht mehr zu. Wir haben viel gelacht, er genoss es, mir eins auszuwischen, zählte die Felder korrekt ab, spielte meistens ohne Fehler. Erstaunlich, wie viel aus seiner Jugendzeit erhalten geblieben ist: Orte, Menschen oder eben das Eile mit Weile, das er mit seinen Geschwistern so oft gespielt hatte.
Versunken in seine Welt, reagiert er jetzt auf nichts, was ich sage. Ich lasse ihn gewähren. Er hat den Faden verloren. Akku leer. Eben noch hat er sich über meine Grimassen amüsiert, weil ich drei Mal einen Sechser würfelte und mit allen Figuren wieder «nachhause» musste.