Gedanken über die Liebe - demenzjournal.com

Das Tagebuch (73)

Gedanken über die Liebe

Zurzeit bin ich Pauls Sicherheit. Sein Anker, sein Licht. Dass ich täglich zu ihm gehe, vermittelt Vertrautheit. Ursula Kehrli

Statt auszuspannen gehe ich heute zu Paul. An meinem sogenannten Frei-tag. Erbarmen nennt sich der Antrieb, Barmherzigkeit üben, Mit-leiden. Sehn-sucht. Ja, richtig. Sucht. Sucht und Suche nach Nähe, nach dem Verlorenen, nach dem Teil, der mir fehlt.

31. März 2013 – Schmerz als Identität?

Ob wir Opfer des Schmerzes bleiben ist unsere Entscheidung. Die Opferrolle ablegen und anfangen die aktuelle Situation annehmen, hilft, das Leben neu zu gestalten, um es auf andere Art geniessen können.

Ich will nicht den grossen Schmerz um Pauls Situation wie ein Firmenlogo mit mir herumtragen. Es ist wie es ist. Aber es ist nicht alles verloren. Es gibt die Erinnerungen an die gute Zeit, die grosse Dankbarkeit für die gesegneten Jahre, für alles, was wir gemeinsam erlebt und miteinander erreicht haben.

Dankbarkeit über diese guten Jahre gibt mir Kraft für das Jetzt.

Wagen, Neues gestalten, das Zuhause verändern, auf das Alleinsein einrichten, Garten umgestalten, auch da: Neues wagen. Es ist wichtig, zu trauern. Aber nach gewisser Zeit muss man einen Schritt weiter gehen. Es nützt Paul nichts, wenn ich hier traurig herumhänge, mich bedaure, mein Leid allen erzähle in der Hoffnung, Mitgefühl und Anteilnahme zu ergattern.

Ja, es ist sehr traurig, es ist enorm schmerzhaft Paul mit dieser Krankheit im Pflegeheim «abzugeben». Wut, Auflehnung, Not hinausschreien, weinen – durch all das bin ich gegangen.

Aber nun will ich mich aufmachen, auf das zu bauen, was mir bleibt: Erinnerungen, aber auch Zeit. Mein Jetzt, das gehört mir und das kann ich gestalten. Die Trauer, der Schmerz werden mich weiterhin begleiten, ich lerne damit umgehen. Doch bin ich dadurch geduldiger, reifer, sanfter geworden.

Das Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich lerne die Einsamkeit aushalten, ertragen, erdulden, ja sie oft gar zu geniessen. In der Stille suche ich das Gespräch mit Gott, lausche auf seine Stimme, lese in der Bibel oder in Büchern, die ich mir nun in der Bibliothek hole.

An Paulo Coelho, mit seiner unablässigen Suche nach Wahrheit, fasziniert mich der ausgezeichnete Schreibstil, obwohl es eine Übersetzung ist. Es liegt auch viel Spannung in der Art der Erzählung, was sich leicht liest. Nach wie vor interessieren mich Berichte über den Jakobsweg.

Sehnsüchtig warte ich auf wärmere Tage, um mehr mit dem Rucksack loszuziehen, noch selten musste man so lange auf den Frühling warten. Auch heute, an Ostern, schneite es etwa acht Zentimeter. Cello-Etüden begeistern mich wieder aufs Neue. Da gilt es schwierige Passagen zu wiederholen, zu üben, bis es unter die Haut geht, zur Gewohnheit wird.

Ohne Nachdenken soll es automatisch ablaufen. Deshalb: üben, üben, üben, immer wieder dieselbe Hürde nehmen, nicht aufgeben, sich nicht schrecken lassen, wenn es nach 10 oder 20 Mal noch nicht gelingt.

Das habe ich spät erkannt, aber eben noch nicht zu spät. Wiederholungen sind auch bei Sprachen, Mathematik, beim Computer überall das Geheimnis des Erfolgs. Früher dachte ich, wenn ich es nach fünf Mal nicht schaffte, ich sei eben nicht dafür talentiert und liess es sein oder ging weiter zur nächsten Übung. Heute bin ich sehr hartnäckig und komme gut voran mit schwierigen Etüden. Da bleibe ich dran, wie andere täglich an Kreuzworträtsel herumknobeln. Oder an Sudoku. Die mag ich nicht. Zahlen mag ich nicht …, lieber Etüden büffeln.

1. April 2013 – Eile mit Weile

Mitten im Spiel schaut Paul auf, blickt hinaus, hört mir nicht mehr zu. Wir haben viel gelacht, er genoss es, mir eins auszuwischen, zählte die Felder korrekt ab, spielte meistens ohne Fehler. Erstaunlich, wie viel aus seiner Jugendzeit erhalten geblieben ist: Orte, Menschen oder eben das Eile mit Weile, das er mit seinen Geschwistern so oft gespielt hatte.

Versunken in seine Welt, reagiert er jetzt auf nichts, was ich sage. Ich lasse ihn gewähren. Er hat den Faden verloren. Akku leer. Eben noch hat er sich über meine Grimassen amüsiert, weil ich drei Mal einen Sechser würfelte und mit allen Figuren wieder «nachhause» musste.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Schon drei Mal haben wir gespielt, drei Mal hat er gewonnen, ohne dass ich nachgeholfen hätte. Er hat einfach meistens Glück. Manchmal liess ich eine Figur mitten drin stehen, damit er mich «nachhause» befördern konnte. Heute versuchte ich verzweifelt zu gewinnen, aussichtslos.

Schliesslich sage ich: Ich mag nicht mehr, bin müde. Er antwortet nicht. Ich beginne die Figuren in die Schachtel zu legen. Da protestiert er, doch seine Augen fallen zu, sein Kopf sinkt auf den Tisch. Ein guter Nachmittag. Spielen ist immer kurzweilig für ihn. Erst sagt er nein, will nicht spielen, sobald das Spiel auf dem Tisch bereit steht, fängt er voller Freude an zu würfeln. Eine heile-Welt-Erinnerung wird wach. Er ist zufrieden und glücklich. Dann bin ich es auch. So abhängig bin ich geworden von seiner Stimmung.

5. April 2013 – Auto weg!

Nach Köniz, Bibliothek, Physio Buch abholen, auf der Post Geld holen, einkaufen. Zurück in die Tiefgarage, beladen mit Bananen, Joghurt und Salat. Wo ist mein Auto? Gestohlen worden? Hatte ich vergessen, es abzuschliessen? Haben da Diebe gelauert? Zum dritten Mal schreite ich die lange Reihe ab, suche den Winkelparkplatz, der noch frei gewesen war: eng, aber gross genug für meinen Kleinwagen.

Ungläubig schaue ich mich um. Das kann doch nicht wahr sein? War ich im 3. Untergeschoss? Nein, das kann‘s nicht sein, ich habe doch nicht so viele Kurven genommen! Was ist mit mir los? So ungefähr muss sich ein Mensch mit «Verdacht auf eine dementielle Entwicklung» – wie es im Bericht bei Paul anfangs hiess – fühlen. Doch heute Morgen fühle ich mich topp fit, alles läuft wie am Schnürchen.

Ich überlege: Der Coop ist im 1. UG. Mir dämmert’s: Auch im 1. UG hat es ja Parkplätze, Tatsächlich. In der Nische steht mein Auto! Aufatmen! Beinahe hätte ich es umarmt. Wären da nicht die vielen Leute gewesen. Einsteigen, das Stück Heimat und Glücksgefühl geniessen. Aber es macht mich auch nachdenklich.

Wie oft tu ich in letzter Zeit Dinge unbewusst, gedankenverloren, mechanisch, bereits beschäftigt mit dem nächsten Schritt.

Dann die Fragen: Habe ich die Tür abgeschlossen, die Kaffeemaschine abgestellt, was hat der nun zu mir gesagt? Ich höre eine Durchsage, registriere sie nicht. Es ist als ob in meinem Kopf die Festplatte voll ist. Sollte wieder mal Defragmentieren oder einfach die Delete-Taste drücken, um Platz zu machen. Meine ganz persönliche Taste heisst: Ferien. Ausspannen, dem Alltag entfliehen.

Statt auszuspannen gehe ich heute zu Paul. An meinem sogenannten Frei-tag. Erbarmen nennt sich der Antrieb, Barmherzigkeit üben, Mit-leiden. Sehn-sucht. Ja, richtig. Sucht. Sucht und Suche nach Nähe, nach dem Verlorenen, nach dem Teil, der mir fehlt. Doch diesen Teil kann ich auch nicht ausfüllen mit einem Frei-tag.

Mit Beschäftigungen, Putzen, Wäschen, Einkaufen, Spazieren. Einzig in den neuen Etüden fürs Cello finde ich eine sinnvolle Ablenkung. Da muss ich mit den Gedanken dabei sein. So viel Neues und viele knifflige Doppelgriffe zu lernen fordert mich heraus. Da brauche ich volle Konzentration. Und das tut gut. Das sind Momente, in denen ich nicht an Paul denke. An seine Nöte, Probleme, seine Tränen, wenn ich mich von ihm verabschiede. An die derzeit oft fehlende liebevolle Betreuung und Zuwendung wegen der erneuten Wechsel beim Personal.

Die Leitplanken fehlen, die Säulen, die bekannten Gesichter, welche Sicherheit vermitteln. Im Dschungel, im Irrgarten. Ob sich Paul manchmal an die zwei Nächte erinnert, als er im Urwald verloren ging? Dieses Verlassenheitsgefühl, die Todesängste? Bloss, hier im Heim hat es wenigstens keine wilden Tiere …

Zurzeit bin ich seine Sicherheit. Sein Anker, sein Licht. Dass ich täglich zu ihm gehe, vermittelt Vertrautheit. Ich kann dann auch einfacher wieder gehen, kann sagen, morgen komm’ ich wieder. Das tröstet ihn. Ferien ade. Einmal mehr. Und ich muss mich mehr konzentrieren wenn jemand zu mir spricht. Muss hinhören, mich darin üben. Wie bei den neuen Etüden. Muss mir auch bewusst die Nummer und die Etage merken beim Einparken in unbekannten Parkhäusern.

8. April 2013 – Gedanken über die Liebe

Als er vor einem Jahr mal kurz auf dem Bett lag, kuschelte ich mich an seine Seite, er umarmte mich innig und mein Herz raste. Lange war ich danach von diesen paar Minuten des Glücks erfüllt. Obwohl kurz darauf die gewohnte Unruhe, die Unrast mit Aufstehen, Herumirren, Suchen, Fragen stammeln, wieder da war.

Zermürbend, aufreibend, herausfordernd sind die meisten Begegnungen. Geduldig abwartend sitze ich bei ihm, versuche die Wortfetzen oder Buchstabenaneinanderreihung zu verstehen – wie Rätselraten live. Dann die Sorgen, wenn es Zeit wird zum Gehen. Wie verkraftet er den Abschied, will er mitgehen, wird er böse, weil ich ihn allein lasse?

Einmal hob er den Stock gegen mich. Ausser sich vor Rage, Hilflosigkeit, wollte er nach mir schlagen. Ich umarmte ihn und er liess den Stock erschrocken sinken, wie ich ihm in die Augen schaute. Manchmal steht er am Fenster und klopft wild an die Scheibe, fuchtelt mit den Armen, winkt, ruft nach mir. Das ist so traurig und schwer, dennoch gehen zu müssen.

Was ist Liebe? Ist es nicht Liebe, wenn ich das alles aushalte, dennoch sehnsüchtig hingehe, die Blumen bringe, die er so sehr mag?

Wenn ich mich jedes Mal neu diesen Situationen aussetze, und mich Zufrieden gebe mit dem bisschen «Dünger», den ich ab und zu mal bekomme? Wenn meine Liebe nicht aus einer Quelle genährt würde, die sich nie erschöpft, wäre es nicht auszuhalten. Was sagt die Bibel ganz schlicht: Gott ist Liebe. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihr.

In der Stille lasse ich mich von dieser Liebe umfangen. Paulus schreibt, dass ihm Jesus der Auferstandene wirklich begegnet ist, warum sonst hätte er all sein Ansehen und seinen Beruf einfach hingeschmissen? Wegen einer Phantasie? Einer Vision? Nein, es muss eben doch der Erlöser der Welt in Person gewesen sein.

Ohne diese Liebe zu Gott könnte ich die Situation mit Paul nicht aushalten. Nun sind es sieben Jahre, seit diese schreckliche Krankheit ausgebrochen ist. Sie hat seine ganze Persönlichkeit verändert, erst schleichend, dann offensichtlich. Nur Liebe trägt da durch.

Auf der Heimfahrt schreie ich manchmal den Schmerz lauthals hinaus. Tränen fliessen mir über die Wangen, der Schmerz ist fast nicht auszuhalten. Schmerz und Liebe gehören zusammen. Wie habe ich diese Situation mal erklärt? Sektion am lebendigen Leib, oder auch Amputation in kleinen Schnitten!

Verliert man seinen Partner, kommt es einer Amputation gleich. Aber hier wird täglich geschnippelt, ohne Betäubung. Einerseits wünscht man sich von diesen Qualen befreit zu werden, anderseits fürchtet man den endgültigen Schnitt. Paul ist ja noch da, noch kann ich seine Hand in die meine nehmen, seine Wärme spüren, mich an ihn schmiegen, wenn ich mich neben ihn setze. Er ist noch da!

Ach, ich bin sehr, sehr müde geworden. Nicht nur dass ich mein Alter spüre, ich habe Sehnsucht nach Freiheit, frei sein zu gehen, den Camino, meinen Weg zu gehen. Fort, einfach gehen, gehen, wie gestern, wenn auch nur zwei Stunden durch den Wald. Ohne die sorgenvollen Gedanken an ihn, die ständige Frage wie er sich fühlt, was er tut, wie es ihm geht. Ist er wieder hingefallen, hat er sich verletzt?

Dieses ständige Erschrecken, wenn jemand vom Pflegeheim anruft. Immer diese verzehrende Sehnsucht. Wenn er doch wieder mal hier bei mir zuhause sein könnte! Ich möchte ihm den neuen Garten zeigen, wieder einmal für ihn kochen. Es tut so weh, ihn dort im Teller herumstochern zu sehen, mich zu erinnern, wie er meine Kochkünste stets lobte und genoss.

Wie bin ich müde geworden! Sehnsucht nach paar Tagen Freiheit. Doch ich kann sie mir jetzt nicht nehmen, muss warten, bis endlich Beständigkeit beim Personal herrscht, bis er die Neuen besser kennt und sich eine Beziehung aufbaut. Muss abwarten, bis er sich wieder wohler und geborgener fühlt. (Fortsetzung folgt …)