31. August 2010 – Aufschnaufen
Ein Moment der Ruhe, des Aufschnaufens, Paul ist ins Kirchenkaffee gegangen. Zwei, drei Mal musste ich ihn motivieren, damit er geht. Es tut ihm jedes Mal gut, er findet Menschen, die ihm zuhören, er kennt die Stammgäste und erhält Zuwendung.
Ein Anruf von Lena schon um halb neun Uhr. Nachdem wir heute eine halbe Stunde später aufgestanden sind, fühle ich mich gehetzt und mag einfach nicht «Unterhaltung» sein für Menschen, die nur reden wollen – vor allem über anderer Leute Probleme. Heute nicht. Ich lerne mich abzugrenzen, auch meine Bedürfnisse und Wünsche durchzugeben. Muss es lernen.
Ich bin so müde – nicht körperlich – nein, es ist meine Seele, die sich nach Ausspannen sehnt. Sie ist wie ausgelaugt, hat Sehnsucht nach Ruhe.
1. September 2010 – Ein freier Tag
Geliebter Sommer, es tut mir so leid. Ich habe dieses Jahr kaum Notiz von dir genommen. Schon ist der Herbst da – ich verabschiede mich von dir dennoch mit grossem Dank. Du bist meistens nur an mein Fenster getreten und hast leise gefleht, dass ich mit dir kommen soll.
Doch ich war oft zu müde, deinem verlockenden Ruf zu folgen. Du kamst so ungestüm, mein geliebter Sommer. Ach, wie liebe ich dich von ganzem Herzen. Deine Hitze jedoch, die du tagelang über uns hast brüten lassen, ermattete mich zu sehr. Ich lag lustlos im Zimmer herum, nicht mal deine erquickenden Morgen habe ich ausgekostet.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Und an den Abenden war ich auch zu müde, um mein Gärtchen zu geniessen. Was war nur mit mir los? Jetzt, wo du dich der südlichen Halbkugel zuwendest, wird mir erst so richtig bewusst, wie kostbar du bist, wie einmalig, wie ich jede Minute von dir hätte geniessen sollen.
Vor allem beim Gedanken, dass ich dich nicht mehr oft begrüssen werde. Wer weiss, wie oft ich noch die Sonnenaufgänge bewundern kann?
Im Vorgärtchen hat es neben den letzten paar Rosen ein paar Cosmeen die selber aus Samen vom letzten Sommerfloor sprossen, dazwischen viel Unkraut. Paul mag nicht mehr jäten. Es hat auch Astern, Ringelblumen und eine rote Stockrose, die sich hoch in den Pflaumenbaum hinauf rankt.
Die verblühten Rosen werden nicht mehr abgeschnitten, die verwelkten Blumen schauen mich traurig an. Ach, ich kann mir nicht noch mehr aufhalsen. Ein, zwei Mal hatte ich gejätet, die Rosen geschnitten, doch meistens vergesse ich es. So auch die beiden Gräber meiner Eltern. Im Frühjahr hatte ich noch Blumen gepflanzt, inzwischen ist alles verwelkt, ein trauriger Anblick.
Doch tut dies all meiner Liebe zu ihnen, meinen Erinnerungen, meiner Sehnsucht einen Abbruch? Und was die Leute sagen kümmert mich nicht. Interessiert es sie, dass mein Herz so oft wund ist? Dieses Gefühl einer totalen Überforderung würde man im Berufsleben wohl Burnout nennen.
Soeben höre ich den Schlager von Peter Reber: «Jede bruucht sy Insel …». Heute habe ich meine kleine Insel, zwar bloss für ein paar Stunden und dennoch: Endlich einmal etwas Zeit ohne den «Antreiber», ich kann mich einfach treiben lassen.
Zuerst eine Hürde: Wie mache ich Paul schmackhaft, dass ich ihn nicht mehr abholen werde?
Wie mache ich ihm klar, dass ich für ihn ein «Taxi» (Rot Kreuz-Fahrdienst) organisiert habe, um etwas mehr Freiraum zu gewinnen?
Auch das war ein Treiber, gegen drei Uhr wurde ich jeweils unruhig. War ich in der Stadt, musste ich pünktlich mit dem Zug nach Hause fahren, um Paul dann mit dem Auto abzuholen. Oder auf einem Spaziergang war die Uhr stets bestimmend.
Es ist nur ein kurzer Freiraum von halb neun bis halb vier Uhr. Nun kann ich aufatmen. Er hat die bittere Pille geschluckt, wenn auch ungern.
Vormittags überwand ich mich und begann mit dem Bemalen der zweiten Stabelle. Also, ein wirksames Mittel gegen die Erledigungsblockade ist, sich einfach einen Tag, eine Zeit zu bestimmen (wie eine Verabredung beim Arzt), und die dann auch einhalten.
So machte ich mich heute an die Arbeit, und siehe da: Schon ist die Grundierung gemacht, die Schwierigkeit mit dem grossen T habe ich überwunden, die Skizze zum Namenszug ist fast fertig, dann muss ich mich noch für die Vögelchen entscheiden.
Habe ich einmal angefangen, geht es wie von selbst. Und es macht mir eine Riesenfreude. Nach all den Jahren Erfahrung geht mir alles leicht von der Hand. Das Farbenmischen ist kein Problem mehr, die Pinselführung ist sicher, auch das Selbstvertrauen ist gewachsen.
Mit viel Freude male ich. Im Hintergrund höre ich leise Lieder, die mich erquicken. Zum Mittagessen ein kleiner Snack zuhause, gegen zwei Uhr treffe ich dann Carlo im Café.
Es ist so traurig zu sehen, wie er vereinsamt. Er möchte gerne öfter mit mir zusammen sein. Auch da muss ich mich abgrenzen.
Zurzeit ertrage ich überhaupt keinen Druck mehr. Doch immer wieder fülle ich meine Agenda mit Terminen, die mir eigentlich Freude machen, mich dann aber doch belasten.
Gestern Abend zum Lobpreis kam ich total erschöpft an. Dann staunte ich, wie viel Kraft mir zufloss. Wir spielten über eine Stunde zusammen – es kam mir vor wie 20 Minuten.