«Mir wird bewusst, dass ich vereinsame» - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (28)

«Mir wird bewusst, dass ich vereinsame»

«Ich lerne dankbar zu sein für den einen Tag. Wozu sich sorgen um Morgen? Gelassenheit kann man üben und dazu hab' ich reichlich Gelegenheit.»

Frau Kehrli beschreibt mit starken Worten das Auf und Ab der Entdeckungsreise zu ihren eigenen Gefühlen, hervorgerufen durch die Veränderungen ihres Ehemannes Paul. Sie wird mit Emotionen konfrontiert, die sie vorher nie gekannt hat.

2. Oktober 2010 – Übel gelaunt

Ich hätte allen Grund zur Dankbarkeit. Ich konnte diese Nacht durchschlafen! Aber eben nur «hätte». Statt frohgemut zu sein, finde ich mein Gleichgewicht nicht. Früh ging ich einkaufen, dann Mittagessen zubereiten (der Rindsbraten misslang, war zu hart, grrr), dann kurz mich hinlegen.

Später im Garten die verbleibenden Blümchen schneiden und einstellen. Herrlich warm war es, dennoch mochte ich mich nicht einrichten für eine Siesta draussen. Das kenne ich nicht von mir, launisch zu sein. Das ist neu. Wie umgehen damit? Sich einfach beschäftigen?

So viel gäbe es zu tun. Doch ich habe einfach keine Energie, keine Lust. Die paar Tage Erkältung haben mich recht flach gelegt.

Also spiele ich wieder mal Solitär auf meinem Notebook, amüsiere mich ein wenig. Muss ich eigentlich immer etwas leisten?

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Es ist bald acht Uhr. Mir dämmert͛s – ich weiss nun, woran ich leide: Mangel an Vitamin L. Carlo hat vor einer Stunde angerufen, da wurde mir klar, dass ich unterernährt bin. Auch wenn gestern etliche Besuche da waren – ausser Peter und Margret hat niemand bemerkt, dass es mir nicht gut geht.

Man kann sich auch andersrum erkälten, mit zu wenig Beziehungen pflegen und Mangel an Liebe. Mir wird bewusst, dass ich vereinsame. Drei Tage lang konnte ich die Wohnung nicht verlassen. Mir fehlen die Gespräche, der Gedankenaustausch, das «wahrgenommen werden».

Das Gespräch mit Carlo tat mir gut. Endlich durfte ich wieder einmal lossprudeln, alles sagen, was mir so durch den Kopf ging, Gedanken austauschen ohne jedes Wort abwägen und filtern zu müssen. Meine Lebensgeister wurden geweckt.

Auch lachen, herzlich und spontan, das kann man mit Carlo. Mit Paul ist das nicht mehr möglich. Auch das macht mich so traurig und kraftlos.

Ich gebe Paul den ganzen Tag so viel von mir an Liebe, Mitgefühl, Zuwendung, meistens muss ich Fragen zwei drei Mal wiederholen. Dann geduldig auf Antwort warten, mich immer ausrichtend auf ihn ob er verstehen kann.

Unsere Beziehung ist sehr anstrengend. Es ist eher ein Arbeitseinsatz, nur ohne Feierabend und Erholungszeit. Deshalb heute die schlechte Laune.

Ich bin ausgelaugt. Das Problem ist nur, ich habe zurzeit keine Energie, um aus diesem Loch herauszukommen und etwas Abwechslung zu suchen …

Meine Bettlektüre: Necla Kelek «Himmelsreise». Ich informiere mich über den Islam, Mohammed, die Muslime, die Moscheen in Deutschland und lerne was Ehre, Respekt und Glaube für die Muslime bedeutet. Necla kennt sich aus als Muslima. Da gibt es keine Freiheiten (wie Erdogan auch zugab), nur Unterwerfung (Übersetzung des Wortes Islam).

Ursula Kehrli im Interview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Da gibt es nur die Gemeinschaft «Umma» und unzählige Wächter, die prüfen, dass alle Regeln strickte eingehalten werden. Die Männer, Brüder haben das Sagen.

Dieses Thema interessiert mich, und ich habe mir etliche Literatur dazu bestellt. Ich will wissen, nicht glauben. So etwas wäre für eine Türkin undenkbar, sie hat einfach zu glauben und keine Fragen zu stellen.

3. Oktober 2010 – Knallvergnügt?

Es ist Morgen geworden, ich habe durchgeschlafen. Paul ist im Bett, die Welt scheint in Ordnung. Ist es aber nicht. Duschen, Frühstück machen, Paul zieht sich währenddessen an, es dauert, er kommt an den Tisch.

Im Badezimmer fehlt der Ersatzslip mit der Einlage, wo ist bloss der nasse geblieben? Im Schlafzimmer sehe ich einen Plastiksack, ah, da ist der nasse Slip und einer meiner eigenen Slips! Wie kam er nur an meine Unterwäsche, und wo hat er den Sack gefunden?

«Ich war draussen, habe gefroren», erklärt mir Paul. «Es war sehr kalt. Und ich war nackt. Dann konnte ich beim Uhrmacher übernachten.» Na ja, so wird es wohl gewesen sein. Zum Glück kann er nicht mehr auf die Strasse hinaus.

Heute Morgen hat er wieder diese Zuckungen, doch bald beruhigt er sich, braucht heute keine Notfalltablette. Aufatmen!

Beziehungen …

Angehörige

Das Schwierigste ist die Einsamkeit

Für den Ausweg aus einer Lebenskrise gibt es keine Richtzeiten und Rezepte. Erst wenn das Bewusstsein vorhanden ist, dass alles gut ist, lässt … weiterlesen

Der Tag beginnt sonst gut. Ich habe durchgeschlafen, Paul ist angekleidet, wir haben Frühstück genossen, nun reiht er die Medikamente ein für die kommende Woche. Tadellos macht er es, erstellt sogar peinlichst genau die Einkaufsliste für den Nachschub. Gelernt ist gelernt, jedenfalls noch.

Ich lerne dankbar zu sein für den einen Tag. Wozu sich sorgen um Morgen? Gelassenheit kann man üben und dazu habe ich reichlich Gelegenheit.

Auf dem Kalenderblatt vom 26. September las ich ein Gedicht von Joachim Ringelnatz, ich habe es aufgehoben. Es hat mir ein Lächeln entlockt, ein Schmunzeln tut immer gut:

Ich bin so knallvergnügt erwacht.

Ich klatsche meine Hüften.

Das Wasser lockt, die Seife lacht.

Es dürstet mich nach Lüften.

Aus meiner tiefen Seele zieht

mit Nasenflügelbeben,

ein ungeheurer Appetit

nach Frühstück und nach Leben.

Knallvergnügt. Das Wort gefällt mir. Die Dusche hat mich auch gelockt. Statt Seife haben wir fein riechendes Duschgel in der Dosierflasche mit Pumpe. Meine Nasenflügel beben zwar nicht, sind dafür leicht gerötet und schuppig vom Schnupfen.

Hingegen stimmt es mit dem ungeheuren Appetit nach Frühstück. Ja, nach Leben auch. Eben, es ist ein inspirierendes Gedicht. Ja ich lebe, juhui, ich habe gefrühstückt, wir haben fliessendes, warmes Wasser im Haus, ich muss nicht erst Feuer machen im Herd, um zu meinem Kaffee zu kommen.

Da ist eine Maschine und elektrischer Strom auch, die Heizung läuft, Paul lebt, wir sind noch zusammen, hei, was willst du mehr? Habe ich nicht Grund, dankbar zu sein?

Nach dem Essen gehe ich endlich wieder einmal spazieren. Rinder liegen auf der Wiese, der grosse Birnbaum ist schon zur Hälfte rot! Zwei Flugzeuge hoch über mir. Sehnsüchtig schaue ich ihnen nach.

Oh, ich möchte wieder einmal fliegen! Im Wald wird es kühl, die feierliche Waldesstille umfängt mich wohltuend. Noch ist Schonfrist für Pilze. Gut, damit ist wenigstens die Versuchung zum Sammeln besiegt. Waldspaziergänge sind in letzter Zeit meine einzigen «Ausflüge».

Paul fühlt sich mit Ausfahrten überfordert. Wie müde, matt, lustlos ich mich oft fühle. Doch diese, meine kleine Welt hier im Wald gibt mir Kraft und Erholung, wenn die «Sehnsucht nach mehr» schweigen lernt. Lerne zufrieden zu sein, dich zufrieden zu geben.

Über mir höre ich tui, tui, ein Kleiber! Kleine Freuden, die gross in mir wirken. Das Feld vor mir mit dem Winterweizen, den grünen Sprösslingen, im Gegenlicht, welche Wonne. Es wird vorgesorgt fürs nächste Jahr.

Der Waldrand steht mit einem Hauch neuer Farbe, gelb, Gold. Vorahnung des Weihnachtsglitters. Dort am steilen Hang oben, Fliegenpilze! Leuchtend, formschön, begeisternd wirken sie auf mich.

Fliegenpilze!Bild PD

Ich scheue keine Mühe, um sie aus der Nähe zu bestaunen. Mir gefällt das Knallrot. Auch der samtene Glanz und die leuchtend weissen Warzentupfen. Ich denke an das «knallvergnügt», muss lächeln.

Zuhause auf dem Vorplatz hat Paul die Sonnenstore heruntergelassen, die Sitzkissen hervorgeholt und wartet auf mich. Ich mache Kaffee, dazu gibt es Kuchen. Wie ich solche Momente geniesse!

Heute sind wohl alle Nachbarn ausgeflogen. Es ist ruhig, man hört ein wenig den Verkehrslärm. Harmonisches Zusammensein mit Paul, fast wie früher. 

Neun Uhr abends. Paul ist plötzlich sehr unruhig. Wieder und wieder geht er an die Tür. Poltert mit den Fäusten dagegen, will hinaus. Mir ist Angst! Seine Unruhe überträgt sich auf mich und umgekehrt. Eskalation der Gefühle.

Da ist wieder dieser Fremde, der «Mann B», der mir Furcht einflösst. Der nicht mehr ansprechbare, den ich nicht mehr erkenne.

Ich bin verzweifelt, allein, verlassen, hilflos, ohnmächtig, wütend. Auf wen, auf was? Paul, wo bist du, was läuft in dir ab? Komm’ zurück!

Du fehlst mir, du mein Gegenüber, das mit mir fühlt, denkt, sich mit mir freut, lacht! Paul, komm doch zurück! Paul! Ich umarme ihn, drücke ihn fest an mich, versuche, ihn wieder zu sich zu bringen. Tränen fliessen, pure Verzweiflung. Ein Schluchzen schüttelt mich, ich kann nicht mehr. Er schüttelt mich ab.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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«Gib mir den Schlüssel!» schreit er mich an. Ich fliehe ins Schlafzimmer. Schnell unter die Decke. Angespannt lausche ich, was wird er tun? Plötzlich Stille. Wird er sich beruhigen? Lange harre ich aus, ängstlich lauschend, was er wohl macht?

Wie geht es ihm? Es ist zehn Uhr, eine Stunde ist vergangen. Ich schleiche ins Wohnzimmer. Er liegt auf der Couch. Wach. «Komm wir gehen schlafen», langsam erhebt er sich, folgt mir ins Badezimmer.

«Gute Nacht, Buseli», ein inniger Gutenachtkuss, als ob nichts geschehen wäre. Mein Paul ist wieder da. (Fortsetzung folgt …)