Meine Schreie verhallen im Nichts - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (61)

Meine Schreie verhallen im Nichts

«Merde» war das letzte Wort eines Bewohners im Heim. Nun kann er nicht mehr sprechen. Ich habe das Wort übernommen. Im Gedenken an die grosse Not der Sprachlosen. Und ihren Angehörigen. Bild U. Kehrli

Nach aussen wirke ich gelassen, stark und gefasst. Innerlich zerfleischt mich dieser Zustand der Trennung. Ich kann Paul nicht helfen, kann ihn in seinen verwirrten Phasen nicht oder kaum erreichen. Meine Stimme zu hören, das besänftigt ihn jeweils.

31. August 2011 – Nach dem Sturm

Heute fühle ich mich wieder wie auf dem Karussell. Gedanken flitzen an mir vorbei, ohne Anfang und Ende, ab und zu ein weisser Elefant (Rilke). Ich versuche mich krampfhaft festzuhalten, doch mir ist schwindlig. Wie viel doch in letzter Zeit auf mich eingestürmt ist!

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) 
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Paul hat mitgeholfen sein Zimmer einzurichten. Voller Freude zeigte er es mir, nachdem er zuerst einmal gemotzt hatte, weil ich eine halbe Stunde später erschien als üblich. Oft staune ich, wie es klare Momente gibt, selbst die Uhrzeiten versteht er meistens, kann sich auch besser ausdrücken. Bin ich wirklich aus dem Tunnel raus? Noch kann ich es kaum fassen, dass Paul ein eigenes Zimmer hat. Welcher Druck damit von mir abfällt!

Neues kommt auf mich zu. Wie weiter hier in der Wohnung, wie gestalte ich mein Leben? Was möchte ich eigentlich noch, und welche Bereiche soll ich loslassen? Es ist Zeit für einen Neuanfang, Altes beenden, Ballast abwerfen.

Und genau das erzeugt in mir diesen Karussell-Effekt. Ich werde Zeit brauchen, mich an diese Ruhezeit zu gewöhnen, sie zu geniessen und neu zu gestalten. Der Sturmwind hat nachgelassen, ich kann wieder durchatmen.

Ich will mein Akkordeon neu beleben, um Lieder zu begleiten. Auch das Cello wieder öfter spielen. Damit kann ich das Lob Gottes vermehren, es belebt auch meine Seele. Es gibt mir Kraft für jeden Tag, es heitert mich auf. Es verbreitet Freude.

Ein neues Kapitel beginnt. Ich muss Altes loslassen, muss Ja sagen für den Neuanfang. wie oft hatte ich geschrien: Kyrie Eleison! Danke Gott, dass ich durchgetragen wurde, Tag für Tag. Nun glätten sich die Wellen des Sturmes auf dem See, das Karussell hält an, ich kann aussteigen, mich umsehen. Alles braucht seine Zeit …

9. September 2011 – Viel Herzeleid

Wir gehen getrost an deiner Hand, Herr Jesu, die uns führet.
Wir haben deine Treu erkannt und haben es gespüret:
Wenn du uns etwas auferlegst, gibst du auch Kraft zum Tragen,
und was du zuzumuten pflegst, das ist getrost zu wagen.
(Erdmuth Dorothea von Zinzendorf)

Meine Mutter knüpfte zwei Bettvorlagen, in altrosa, der Floor ist etwa fünf Zentimeter lang. Früher beachtete ich diese Teppiche kaum. Sie lagen lange Zeit eingerollt auf dem Estrich. Weg geben konnte ich sie nicht. Ich spürte in ihnen die Hand meiner Mutter, ihre Liebe. Einen der Teppiche habe ich als Bedecker eines hässlichen roten Tintenflecks im Zimmer.

Heute Morgen fiel ich auf die Knie. Auf dem rosa Bettvorleger. Tränen flossen. Dann las ich die heutige Losung der Herrnhuter, den oben zitierten Ausspruch von der Gattin des Gründers dieser Brudergemeinde. Wie gross waren die Nöte dieses Ehepaars!

Viele ihrer Kinder starben. Wenn ein Mensch von Schmerzen weiss, dann diese Frau. Dennoch, sie trug ihre Lasten tapfer. Wie oft sass sie am Bett eines sterbenden Kindes? Konnte ihm nicht helfen, damals gab es kaum Schmerzmittel. Wie viel körperlicher Schmerz war durchzustehen, neben den seelischen Qualen und unter dem Druck schwerer körperlicher Arbeit?

Es gab weder praktische elektrische Kochherde, noch Waschmaschinen. Wir dagegen sind sehr verweichlicht und verwöhnt und merken dies kaum mehr. Wir sind Treibhauspflanzen ohne Widerstandskraft.

Meine Nachmittage sind ausgefüllt mit Besuchen bei Paul. Neuerdings fahre ich mit dem Zug, um mich zu entspannen, oder zu lesen. Adalbert Stifter, Bayerischer Wald, die Geschichte eines fürchterlichen Schneesturmes, der mehrere Tage andauerte, die Bäume waren nur noch als Sträucher zu sehen. Zu seiner Zeit reiste man noch mit Pferdewagen, tagelang, Wind und Wetter ausgeliefert. 1866 war dieser Jahrhundert-Schneefall. Eindrücklich, zu lesen, wie es vor über 145 Jahren war.

Gestern Abend rief mich Paul an, in grosser Verwirrung, in Verzweiflung. Er leidet unsäglich unter diesem eingesperrt sein. Er wird wütend, er fühlt sich wie ein Gefangener, der sich auch bei einem Brand nicht selbst retten könnte.

Sprachfetzen kann er formulieren, ich errate, was er auf dem Herzen hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Pflegende Mühe hat, ihm zu folgen. Ich rief im Büro an, bat Manuela nach ihm zu schauen. Es tut mir so leid, Paul nicht helfen zu können. Grosses Herzeleid, auf beiden Seiten.

10. September 2011 – Herz ausschütten

Gestern: Tränen. Abends: Tränen. Heute Morgen wieder: Tränen. Herr, es ist scheusslich! Abstrus. Paul dort, ich hier. Paul verloren im Labyrinth der Verwirrtheit, eingeschlossen, in einer ihm Angst machenden Unsicherheit, voller Sehnsucht nach mir, nach dem Halt, den ich ihm geben kann. Das Telefon als Anker, als Rettungsring. Mich hat er dann im Tränenmeer zurückgelassen, nachdem ich ihn endlich beruhigen konnte.

Es ist gut, Paul. Und ich komme wieder. Mit diesen Worten kann ich ihn besänftigen, obwohl ich dann selbst aufgewühlt und voller Schmerzen bin. Nach aussen wirke ich gelassen, stark und gefasst. Innerlich zerfleischt mich dieser Zustand der Trennung. Ich kann ihm nicht helfen, kann ihn in seinen verwirrten Phasen nicht oder kaum erreichen. Meine Stimme zu hören, mein Anteil nehmender Zuspruch, das besänftigt ihn jeweils.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Heute muss ich mich nach dem Frühstück wieder hinlegen. Eine bleierne Müdigkeit in den Gliedern, das Herz bedrückt, fast mutlos muss ich es wieder ausschütten vor dir, mein allmächtiger, allwissender Gott.

Mein Vater. Ich klage dir diese Not. Das Schreien zu dir hat aufgehört. Die Puppe sitzt seit Tagen stumm, ich bin zu müde, um meinen Schmerz noch hinaufzuschreien. Ist es Resignation? Unglaube? Ergebenheit? Vertrauen? Ich weiss es nicht. Wie auf einer Achterbahn bin ich mal oben, voller Dankbarkeit, Hoffnung, stark und mutig auf diesem beschwerlichen Weg. Dann Tage wie gestern und heute, an denen ich das Handtuch werfen, alles hinschmeissen möchte, auf und davon. Lasst mich alle in Ruhe. Ich gebe auf. Ich mag nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit.

Ja, es ist recht anstrengend sich jeden Nachmittag  nach dem Mittagessen aufzumachen, mit dem Zug nach Gümligen zu fahren. Paul erwartet mich jeweils so ungeduldig, dass er mich oft nicht einmal begrüsst, sondern sofort in den Lift flüchten möchte. Abhauen, endlich in die Freiheit! Er leidet unsäglich darunter, dass er eingesperrt ist. 

Die Nussbaumallee birgt eine kleine Freude: Nüsse sammeln. Das mag er, fast wie früher das Pilze sammeln. Im hohen Gras sind die Nüsse versteckt, es braucht Aufmerksamkeit und Ausdauer, sie zu finden. Paul sucht eifrig und freut sich über jede Nuss.

Dann sitzen wir im Garten des Cafés, Paul mag immer etwas essen. Ein Brötchen, ein Sandwich, noch hat er nicht sein gewohntes Gewicht. Nach vier Uhr mache ich mich auf den Heimweg. Paul ist dem Weinen nah. Er will mitkommen. Viele Fragen. Wohin gehst du?  Warum darf ich nicht mitkommen, es ist nicht gut, dass wir getrennt sind, wir gehören zusammen, warum lässt du mich allein?

Aus den gestammelten Wortfetzen kann ich seinen grossen Schmerz heraushören.

Nach 40 Minuten bin ich wieder daheim. Es ist still zuhause. Leer. Viel Arbeit wartet auf mich. Aber ich bin so müde. Blumen giessen, Äpfel auflesen, sortieren, rüsten, Verblühtes abschneiden, Vorplatz wischen, Wohnung putzen … oft lege ich mich einfach hin.

Wie weiter? Wie gerne würde ich wieder einmal ein paar Tage im Ländli verbringen, meine Seele trösten lassen, in Stille und Ruhe zu mir finden, neue Kraft auftanken. Doch wenn ich Paul so verzweifelt sehe und fühle, dass ich ihm mit meinen Besuchen eine Stütze sein kann, will ich ihn nicht allein lassen. Wie lange haben wir noch gute Tage? An denen er noch weiss, was gestern war, an denen er mich kennt und sich über mich freut?

Ja, diese Zeit möchte ich noch nutzen: Wenn wir eng aneinander sitzend das Zusammensein bewusst erleben können, wenn er strahlt, wenn ich ihn umarme, liebkose. Diese Zeit draussen im Café auf dem Sofa ist so kostbar. Diese Momente geniesse ich an seiner Seite. Wenn er alle Passanten strahlend begrüsst, ihnen zuwinkt. Glücklich – bis eben der Abschied kommt.

2. Oktober 2011 – Herzensschreie

Bin zu erschöpft, um zu schreiben. Mit letzter Kraft quäle ich mich durch die Tage, bald ist Pauls 80. Geburtstag. Wie soll ich den gestalten? Was tut ihm gut, wie viel erträgt er? Nur wenige Menschen verstehen es, mit ihm umzugehen.

Sie reden über seinen Kopf hinweg nur mit mir, klammern ihn aus, schwatzen über Erlebnisse fremder Menschen – was kann ihn das kümmern? Besuche, die Paul noch trauriger zurücklassen, weil er wenig oder gar nichts verstanden hat, sich übergangen fühlt.

Solche Besuche machen auch mich traurig, sie ermüden, bedrücken mich. Da werden Erinnerungen aufgerissen, Paul versteht nur die Hälfte, bleibt im Zustand grosser Unsicherheit und Verwirrtheit zurück.

Es gibt Ausnahmen. Einfühlsame Menschen. Pflegende oder Angehörige anderer Leidensgenossen. Sie sind warmherzig, umarmen ihn, stellen ihn in den Mittelpunkt.

An Pauls Geburtstag ist eine Klassenzusammenkunft geplant. Paul will mit mir hingehen, das gibt ihm die nötige Stütze. Gegen Abend werden noch Andy und Fränzi vorbeikommen.

Es war ein guter Entscheid. Paul freute sich auf seine zwei Schulkollegen und sechs Kolleginnen. Doch als wir eintraten, herrschte mit einem Schlag eine beängstigende, betretene Stille. Alle schauten uns unsicher an, als ob Paul ein Gespenst wäre. Beerdigungsgesichter.

Wo früher ein fröhliches Stimmendurcheinander mit ja schau, der Pole ertönte, wenn er irgendwo auftauchte, war unser Auftritt diesmal beinahe peinlich. Paul hat schon beim Abholen im Heim mit den Tränen gekämpft, als ich ihm gratulierte und meinen Brief vorlas.

Nun, bei der Begrüssung seiner alten Kameraden musste er auch dauernd das Taschentuch hervornehmen. Langsam löste sich die Anspannung und die Gespräche kamen wieder in Gang. Dennoch streiften mich immer wieder unsichere Blicke. Was mag Laura vom Besuch im Heim erzählt haben? Damals war Paul erst seit kurzem dort und sehr unruhig und verwirrt.

Als ich mich dann vor dem Nachtessen im Heim von ihm verabschiede, will Paul mich nicht gehen lassen. Das Essen wurde ihm serviert, verunsichert sagt er mir auf Wiedersehen, wieder einmal muss ich schnellstens in den Lift flüchten, um unnötige Diskussionen zu vermeiden. Es bringt nichts, zu erklären.

So sehe ich ihn mit dem Teller in der Hand an seinen Tisch gehen, bleierne Traurigkeit umfängt mich und kaum im Auto, schreie ich mir – wie noch nie in meinem Leben – die Not vom Herzen. Gott, es tut so weh!!! Hilfeeee!!! Wie kannst du das nur zulassen!? Das Schreien erleichtert nicht.

Auf der Autobahn verhallen meine Schreie im Nichts. Tränen strömen über mein Gesicht, die Sonne blendet, rechts sehe ich das Heim, wo Paul nun bis zu seinem Lebensende gefangen sein wird. Bestätigt mit meiner Unterschrift. Gegen mein Herz. Nur mit dem Verstand abgerechnet.

Mit meiner Unterschrift besiegelte ich sein Schicksal. Endgültig. Haft, lebenslänglich. Schmerz inklusive.

Hilflosigkeit beim Nachhause kommen. Wieder fliessen die Tränen, getränkt mit Wut und erneutem Klagen. Fernseher an, Tiergeschichten ansehen. Ablenken. Whisky mit Soda, ein kleiner bloss. Interessenloses herumzappen, Unterhaltung nicht erwünscht. Zeit verblödend. 

Computer anschalten, Mails durchforsten. Da! Ein Hilfeschrei von Ruedi, seine Tochter Nina ist in Lebensgefahr! Sie wurde am Morgen an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Sogleich Fernseher aus! Ab ins Stübchen, auf die Knie. Flehen, beten, wieder schreien zu Gott. Durch das Schicksal von Nina lässt mein eigener Schmerz nach, ich bete für dieses Kind in Not. Flehe um die nötige Kraft für die Eltern.

10. Oktober 2011 – Elendiglich

Eigentlich wollte ich frei nehmen. Dann rief Paul an, ein Stammeln, weinerliche Wortfetzen, ich filtere heraus: Er halte es ohne mich nicht aus. Er werde aus dem Fenster springen. Ich rief das Stationsbüro an, sie sollten sich bitte um Paul kümmern. Ich würde gleich kommen.

Auf der kleinen Bank sitzt er zusammengekauert, zum Ausgehen fertig angekleidet, mit Mütze und Jacke, Stock in der Hand. Er nimmt kaum Notiz von mir, sein Gesicht ist schmerzerfüllt, den Tränen nahe.

Eine Pflegerin klärt mich auf: Paul wollte in den Lift, was man ihm verwehren musste. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass er – wie ein Gefangener – hinter verschlossenen Türen leben muss. Unter Menschen, die «spinnen», er hält den Finger an die Stirn.

Wir… du… gehören zusammen. Nicht gut … du gehst. Er will nach Hause. Das kommt nach und nach klar durch.

Grosse Trauer und Verzweiflung hat ihn wieder gepackt, nun sitzt er da und lässt sich nicht trösten.

Auch meine Umarmung, die er sonst so geniesst, lässt er nur widerwillig zu. Er trauert. Verschliesst sich, kann sich nicht ausdrücken, was erschwerend dazu kommt.

Er kann nur mit grösster Mühe sprechen, verwechselt Worte, spricht verwaschen. Nach einer Weile versuche ich ihn abzulenken. Ob er das Puzzle fertig habe? Er hört nicht zu, reagiert nicht. Unwirsches sich Abwenden deutet an, dass er nichts will, gar nichts. Lass mich in Ruhe, signalisiert er.

Eine Mauer zwischen uns. Er hat ja so Recht: Die Trennung ist so schwer zu ertragen. Ich leide mit, es ergeht mir ja ebenso.

Paul sitzt immer noch zusammengekauert neben mir, ich halte ihn an mich gedrückt, den Arm um seine Schultern gelegt, die andere Hand auf seinen Knien und warte. Oft hilft diese Nähe, dieses gemeinsame Trauern, auch wenn die Pflegenden emsig hin und her laufen. Sie bringen Jacken und Schuhe für die anderen Bewohner, die sich bald aufmachen zum Emmentaler Fest im Altersheim. Paul will nicht in die Menschenmenge, das hat er schon mehrmals signalisiert.

Nach einer halben Stunde stehe ich auf: Ich gehe mal schauen, ob du das Puzzle fertig gemacht hast. Nun lenkt er ein, zusammen gehen wir in sein Zimmer. Endlich taut er ein wenig auf. Wieder verstreicht eine halbe Stunde, während derer ich einfach neben ihm auf dem Bettrand sitze, er weiss nicht, was machen.

Einmal zieht er die Schuhe aus, dann wieder an, schliesslich kann ich ihn überreden, sich hinzulegen und ein wenig zu ruhen. Er nickt kurz ein. Doch der kummervolle Ausdruck bleibt auf seinem Gesicht. Erneut plagen mich Zweifel. Hat man Paul zu früh hinter Schloss und Riegel gebracht? Hätte ich ihn doch nach Hause nehmen sollen? War es zu früh fürs Heim? Ja, zugegeben, Paul geht es im Vergleich zu den andern zeitweise relativ gut.

Sein Zustand hat sich stabilisiert seit dem Heimeintritt. Aber eben, es wird nicht besser werden, die Krankheit nimmt unbarmherzig ihren Lauf.

Die unruhigen Nächte sind schon da. Und die Inkontinenz zeitweise auch, es wird noch schlimmer werden.

Niedergeschlagen fahre ich nach Hause. Habe ich falsch entschieden? Schwere Zweifel plagen mich. Trauer umfängt mich, Niedergeschlagenheit. Die Einsamkeit bedrückt mich. Ich gebe ihm alles, was ich habe, mein eigenes Leben wird auf den Kopf gestellt, ich sehne mich nach ihm.

Er ist wohl noch da, ich kann ihn umarmen, sehen, zu ihm sprechen, und doch ist eine grosse Kluft zwischen uns. Die Leitung ist gekappt. Scheisse!!!!!

Absichtlich benutze ich immer wieder dieses scheussliche Wort, um meinem grossen Schmerz Luft zu machen, meine Hilflosigkeit und Ohnmacht auszudrücken. Merde war das letzte Wort eines Bewohners im Heim. Nun kann er nicht mehr sprechen. Ich habe das Wort übernommen. Im Gedenken an die grosse Not der Sprachlosen. Und ihren Angehörigen. (Fortsetzung folgt …)