31. August 2011 – Nach dem Sturm
Heute fühle ich mich wieder wie auf dem Karussell. Gedanken flitzen an mir vorbei, ohne Anfang und Ende, ab und zu ein weisser Elefant (Rilke). Ich versuche mich krampfhaft festzuhalten, doch mir ist schwindlig. Wie viel doch in letzter Zeit auf mich eingestürmt ist!
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Paul hat mitgeholfen sein Zimmer einzurichten. Voller Freude zeigte er es mir, nachdem er zuerst einmal gemotzt hatte, weil ich eine halbe Stunde später erschien als üblich. Oft staune ich, wie es klare Momente gibt, selbst die Uhrzeiten versteht er meistens, kann sich auch besser ausdrücken. Bin ich wirklich aus dem Tunnel raus? Noch kann ich es kaum fassen, dass Paul ein eigenes Zimmer hat. Welcher Druck damit von mir abfällt!
Neues kommt auf mich zu. Wie weiter hier in der Wohnung, wie gestalte ich mein Leben? Was möchte ich eigentlich noch, und welche Bereiche soll ich loslassen? Es ist Zeit für einen Neuanfang, Altes beenden, Ballast abwerfen.
Und genau das erzeugt in mir diesen Karussell-Effekt. Ich werde Zeit brauchen, mich an diese Ruhezeit zu gewöhnen, sie zu geniessen und neu zu gestalten. Der Sturmwind hat nachgelassen, ich kann wieder durchatmen.
Ich will mein Akkordeon neu beleben, um Lieder zu begleiten. Auch das Cello wieder öfter spielen. Damit kann ich das Lob Gottes vermehren, es belebt auch meine Seele. Es gibt mir Kraft für jeden Tag, es heitert mich auf. Es verbreitet Freude.
Ein neues Kapitel beginnt. Ich muss Altes loslassen, muss Ja sagen für den Neuanfang. wie oft hatte ich geschrien: Kyrie Eleison! Danke Gott, dass ich durchgetragen wurde, Tag für Tag. Nun glätten sich die Wellen des Sturmes auf dem See, das Karussell hält an, ich kann aussteigen, mich umsehen. Alles braucht seine Zeit …
9. September 2011 – Viel Herzeleid
Meine Mutter knüpfte zwei Bettvorlagen, in altrosa, der Floor ist etwa fünf Zentimeter lang. Früher beachtete ich diese Teppiche kaum. Sie lagen lange Zeit eingerollt auf dem Estrich. Weg geben konnte ich sie nicht. Ich spürte in ihnen die Hand meiner Mutter, ihre Liebe. Einen der Teppiche habe ich als Bedecker eines hässlichen roten Tintenflecks im Zimmer.Wir gehen getrost an deiner Hand, Herr Jesu, die uns führet.
Wir haben deine Treu erkannt und haben es gespüret:
Wenn du uns etwas auferlegst, gibst du auch Kraft zum Tragen,
und was du zuzumuten pflegst, das ist getrost zu wagen.
(Erdmuth Dorothea von Zinzendorf)
Heute Morgen fiel ich auf die Knie. Auf dem rosa Bettvorleger. Tränen flossen. Dann las ich die heutige Losung der Herrnhuter, den oben zitierten Ausspruch von der Gattin des Gründers dieser Brudergemeinde. Wie gross waren die Nöte dieses Ehepaars!
Viele ihrer Kinder starben. Wenn ein Mensch von Schmerzen weiss, dann diese Frau. Dennoch, sie trug ihre Lasten tapfer. Wie oft sass sie am Bett eines sterbenden Kindes? Konnte ihm nicht helfen, damals gab es kaum Schmerzmittel. Wie viel körperlicher Schmerz war durchzustehen, neben den seelischen Qualen und unter dem Druck schwerer körperlicher Arbeit?
Es gab weder praktische elektrische Kochherde, noch Waschmaschinen. Wir dagegen sind sehr verweichlicht und verwöhnt und merken dies kaum mehr. Wir sind Treibhauspflanzen ohne Widerstandskraft.
Meine Nachmittage sind ausgefüllt mit Besuchen bei Paul. Neuerdings fahre ich mit dem Zug, um mich zu entspannen, oder zu lesen. Adalbert Stifter, Bayerischer Wald, die Geschichte eines fürchterlichen Schneesturmes, der mehrere Tage andauerte, die Bäume waren nur noch als Sträucher zu sehen. Zu seiner Zeit reiste man noch mit Pferdewagen, tagelang, Wind und Wetter ausgeliefert. 1866 war dieser Jahrhundert-Schneefall. Eindrücklich, zu lesen, wie es vor über 145 Jahren war.
Gestern Abend rief mich Paul an, in grosser Verwirrung, in Verzweiflung. Er leidet unsäglich unter diesem eingesperrt sein. Er wird wütend, er fühlt sich wie ein Gefangener, der sich auch bei einem Brand nicht selbst retten könnte.
Sprachfetzen kann er formulieren, ich errate, was er auf dem Herzen hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Pflegende Mühe hat, ihm zu folgen. Ich rief im Büro an, bat Manuela nach ihm zu schauen. Es tut mir so leid, Paul nicht helfen zu können. Grosses Herzeleid, auf beiden Seiten.
10. September 2011 – Herz ausschütten
Gestern: Tränen. Abends: Tränen. Heute Morgen wieder: Tränen. Herr, es ist scheusslich! Abstrus. Paul dort, ich hier. Paul verloren im Labyrinth der Verwirrtheit, eingeschlossen, in einer ihm Angst machenden Unsicherheit, voller Sehnsucht nach mir, nach dem Halt, den ich ihm geben kann. Das Telefon als Anker, als Rettungsring. Mich hat er dann im Tränenmeer zurückgelassen, nachdem ich ihn endlich beruhigen konnte.
Es ist gut, Paul. Und ich komme wieder. Mit diesen Worten kann ich ihn besänftigen, obwohl ich dann selbst aufgewühlt und voller Schmerzen bin. Nach aussen wirke ich gelassen, stark und gefasst. Innerlich zerfleischt mich dieser Zustand der Trennung. Ich kann ihm nicht helfen, kann ihn in seinen verwirrten Phasen nicht oder kaum erreichen. Meine Stimme zu hören, mein Anteil nehmender Zuspruch, das besänftigt ihn jeweils.