24. Oktober 2010 – Sonntagsessen
Mit viel Liebe, Hingabe und Freude kochte ich heute: Kalbsbrustschnitten an Rahmsauce (mit Zwiebeln, Karotten, Lauch, Knochen), Rosenkohl, gebratene Spätzli. Ein megaschöner Teller! Wie im Restaurant. Und wie das schmeckte!
Mir zerlief das gut durchgegarte Fleisch auf der Zunge. Der Rosenkohl perfekt in Konsistenz, Geschmack und Farbe … Und Paul? Mürrischer Blick. Kein Wort. Er ass. Bemerkte, es seien zu wenig Spätzli. Dann zählte er die Rosenkohl-Köpfchen, wie viele er zugute hätte … Es blieben schliesslich noch Spätzchen übrig.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
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Dann, nach dem Essen, konnte ich mich kaum zurückhalten. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. Überhaupt kein Wort, keine Reaktion? Ich wusch ab, Paul wollte Skirennen schauen. Da kam er und sortierte das noch nasse Geschirr andersrum zum Abtropfen, stellte das Besteck an einen andern Platz, die Pfannendeckel steckte er in den Rechen, und, und …
Ich kann nicht sagen, was da in meiner Seele abläuft. Die Wut packte mich. Ich stellte mich vor ihn hin, schrie in sein griesgrämiges, unzufriedenes, mürrisches Gesicht: «Ist das alles? Kein freundliches Wort, dass ich Dich mit so einem tollen Essen verwöhne? Keinen Dank, keine Anerkennung, keine Freude?»
Ehrlich gesagt, ich musste da an Carlo denken. Er hat niemand, der ihm so ein tolles Essen kocht. Er ist 89-jährig, zehn Jahre älter als Paul. Er ist Witwer und hat viele Jahre seine kranke Frau gepflegt.
Und Paul ist nicht einmal fähig, einen Gedanken von Dankbarkeit dafür zu mobilisieren, dass er meine ganze Liebe und Treue hat? Dafür, dass ich mit Liebe und Freude ein so wunderbares Sonntagsessen für ihn koche? Überhaut, jeden Tag gut für ihn koche, weil er doch so gerne isst!
Das sind kritische Momente. Wer kann da einordnen, was in einer Seele abläuft? Ich fliehe in mein Zimmer. Bevor mit Frustworten, Vorwürfen und Wut erfüllt noch Gegenstände zu fliegen beginnen.
Die Ärztin hatte mal von den Aggressionen der Angehörigen gesprochen. Oh nein, niemals! Unmöglich, ich doch nicht… Wer kennt sich aus mit solchen Gefühlen?
Ich ziehe die Schuhe an und gehe in den Wald. Es regnet zwar leicht, doch habe ich die Mütze auf und keine Lust auf den Regenschirm. Mag es regnen. Mir egal! Wie es stärker wird, stelle ich mich unter eine Tanne. Bald lichten sich die Wolken, zwar nicht zu einem blauem Himmel, doch der Regen hört auf.
Ich geniesse die Einsamkeit im Wald, gehe meinen gewohnten Weg, kann mich gar auf eine Bank setzen, die von einer mächtigen Buche beschirmt wird. Wie wunderbar die Farben wirken im Grau des Tages. Noch sind nicht viele Blätter gefallen, doch bald wird es kälter. Morgen gibt es Schnee bis 600 Meter. Wir sind knapp darunter.