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Das Tagebuch (89)

Ist Emma noch zufrieden?

Ihre Einbildung und eigene Gedankenwelt erhebt Emma zur Wirklichkeit. Wer widerspricht, wird von ihr harsch als Sachenverdreher verurteilt. U. Kehrli

Wie erkennt man, ob ein Mensch mit Demenz zufrieden ist? Ursula Kehrli prüft zusammen mit einem Nachbarn, ob sich die erkrankte Emma wohlfühlt im Ist-Zustand. Sie selbst will besser lernen, loszulassen.

Wie Emma die Welt sieht

Mit Fred, Emmas Nachbarn, lote ich aus, wie es meiner Freundin Emma geht. Ihre Demenz schreitet fort und manchmal sind wir uns nicht sicher, was sie braucht.

🗨 13. Januar – Eine Mail von Fred, dem Nachbarn von Emma

Guten Abend Ursula,
ich möchte kurz über meine Beobachtungen zum Zustand von Emma berichten.

🙂 Das ist erfreulich: 

Emma unternimmt wieder längere Spaziergänge, oft mehrmals täglich, häufig allerdings beim Einnachten, so dass sie sich hinterher empört über die Dunkelheit beschwert. Treppensteigen geht jetzt meist wieder ruck-zuck (wie in früheren Zeiten). Das Ein- und Aussteigen ins Auto macht ihr jetzt auch kaum mehr Mühe.

Emma wirkt physisch wieder robuster. Sie schätzt das Essen und zwar in einer – gemessen an ihren früheren Gewohnheiten – stattlichen Menge. Frühstücken kann sie locker dreimal hintereinander. Nach einem vollständigen Abendessen macht sie sich nicht selten noch Ovomaltine-Haferflocken.

🙁 Das ist problematisch:

Emmas Zeitgefühl scheint seit Tagen wieder ordentlich durcheinander geraten zu sein, Wochentage und Datum erfindet sie nach Gutdünken und beklagt sich vehement darüber, dass alle ständig einen Aufstand machten und sich an nichts halten würden.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Beispiel 1
Ziemlich Schelte erhielt ich am 3. Januar. Emma habe am 2. Januar vergeblich zweieinhalb Stunden in der Kälte auf mich gewartet, um einen Arzttermin einzuhalten. Als ich ihr erklärte, dass der Arztbesuch auf den 13. Januar vorgesehen gewesen sei, war sie richtig erzürnt und belehrte mich, heute sei doch der 13. Januar, das stehe ja hier schwarz auf weiß im Kalender. Ich solle nicht alles verdrehen.

Beispiel 2 
Gestern beklagte sie sich, Frau Stettler sei am Vortag bis um Mitternacht bei ihr geblieben, es habe so kaum mehr Sinn gemacht, noch zu Bett zu gehen für die kurze Nacht. Ihre Einbildung erhebt Emma zur Wirklichkeit. Wer widerspricht, wird harsch als Sachenverdreher verurteilt.

Zusammenfassend 
Emma wird körperlich (selbst-)sicherer. Geistige Verwirrungen übertüncht sie durch starres Behaupten. Handlungsbedarf besteht meiner Ansicht nach zurzeit nicht – wir müssen allerdings im Auge behalten, ob Emma in den Zeiten des Alleinseins zusehends unter erhöhten Leidensdruck gerät.

Liebe Grüße, Fred

🗨 16. Januar 2014 – Meine Antwort an Fred

Lieber Fred,
Ich staune immer wieder über Dich, Deinen großen Einsatz und Deine Besorgtheit um Emma. Es ist mir bewusst, dass der Umgang mit einem dementen Menschen sehr anspruchsvoll ist und viel, viel Geduld und Feinfühligkeit erfordert. Es ist eine große Herausforderung, die auch an Grenzen stößt. Ich bin dir so dankbar für Deine Unterstützung, auch für diesen »Lagebericht«.

Entschuldige bitte mein langes Stillschweigen, es ist nicht Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit. Leider hat sich der Zustand meines Mannes wieder verschlechtert, die Besuche bei ihm sind mehr als herausfordernd und sehr, sehr traurig, was mich alle Kraft kostet.

Am Samstag plane ich, Emma zu besuchen. Ich werde mal wieder das Thema Pflegeheim und Ferienbett erwähnen. Wann wären solche Ferien für Dich passend? Danach können wir uns vielleicht mal wieder telefonisch austauschen oder ist gar eine gemeinsame Besprechung gut am Runden Tisch?

Herzliche Grüße, Ursula

🗨 16. Januar 2014 – Fred schrieb unmittelbar zurück

Liebe Ursula,
danke für dein Mail; es war jedoch keineswegs meine Absicht, Emma »ins Ferienbett nach Wattenwil zu schicken«. Im Februar bin ich vom 8. bis 15. weg, was durchaus wieder mit dem Mahlzeitendienst der Spitex abgedeckt werden kann und sicherlich kein Ferienbett erfordert.

Gut fände ich, wenn du erspüren könntest, ob sich Emma in den heftigsten Phasen/Zeiten der Desorientierung mehr Pflege und Präsenz anderer Personen wünscht (wie beispielsweise in einem Altersheim). Wenn sie jedoch mehrheitlich zufrieden ist mit ihrer Wohn- und Lebenssituation zuhause, sehe ich keinen Grund für eine Veränderung.

🗨 17. Januar 2014 – Am folgenden Tag schrieb ich wieder an Fred

Lieber Fred,
Es geht mir nicht darum, Emma einfach ins Ferienbett zu schicken … Sie hatte bei meinem Besuch an ihrem Geburtstag so nebenbei erwähnt, sie hätte Lust darauf, wieder mal ins Pflegeheim Wattenwil zu gehen. Diese Lust brachte mich auf die Idee, das Thema aufzunehmen und mal nachzufragen. Ich finde es wirklich schön, dass Emma durch all die Hilfe, die sie erhält, die Freiheit und Möglichkeit hat, so lange es ihr gefällt zuhause zu bleiben. Es gibt nichts Schöneres, dafür bin ich so dankbar. Dir besonders.

🗨 18. Januar 2014 – Antwort von Fred

Liebe Ursula,
danke für die Informationen; ich finde es auch gut und richtig, immer wieder zu erspüren, ob der aktuelle Ist-Zustand noch mehrheitlich stimmt oder ob Emma eine Veränderung wünscht, sprich Lust auf eine Abwechslung und weniger Einsamkeit hat. Da bin ich froh und dankbar, wenn du Emma die Möglichkeit gibst, sich darüber auszusprechen und sich Gedanken zu machen.

🗨 20. Januar 2014 – Eine weitere Mail an Fred

Lieber Fred,
der Besuch bei Emma war ein echter Aufsteller, sie empfing mich schon an der Tür, hatte mein Auto gesehen. Sie erzählte viel von ihrem Alltag, keine Klagen, auch keine offenen Wünsche. Das Thema Wattenwil erwähnte sie nicht – und ich hielt es nicht für nötig, nachzufragen.

Mein Gesamteindruck: Wenn Du und die anderen Helfer so weitermachen können, ist es natürlich am Besten, wenn der Alltag, die Tagesstruktur und die Unterstützung so weitergehen. Feste Gewohnheiten geben Emma Sicherheit, jede Veränderung könnte ein Delir auslösen. Ich fragte Emma, ob es nicht manchmal langweilig sei, jetzt, wo sie keine Ausflüge mehr mache, auch nicht mehr näht oder strickt. Nein, sie gehe hinaus und erfreue sich daran, einfach hinauszuschauen. Sie genießt ihren Lebensabend.

Altern heißt loslassen, sagt sie immer wieder: Das Velo (das sie immer noch sehr vermisst), das Klavier, das Nähen, die Ausflüge … Strahlend lobte sie Deine Kochkünste, Deine Geduld herauszufinden, was sie mag oder weniger mag.

»Mein Blinzeln auf die Frage, was er einkaufen soll, genügt und er weiß: Brot!« Und wie er das Essen ganz pünktlich mittags vorbeibringe, so schön angerichtet und dekoriert … Es war mehr als ein Loblied auf dich, Emmas Gesicht leuchtete, als sie sagte: »Das ist außergewöhnlich und ich bin ihm so dankbar!« Das bin ich auch und wünsche Dir eine ganz schöne Woche mit viel Erfreulichem.

Das Puppenvirus bricht aus

Fast jeden Dienstag kurz nach acht Uhr kommt Katharina. Ein wohltuender Besuch, ein Aufsteller, wir beten zusammen. Heute gab es Tränen, der Ist-Zustand bei Paul ist sehr, sehr schwierig geworden.

Wenn ein Mensch sich beschmutzt, ist die Würde weg. Dazu kommt meine Hilflosigkeit, die Ohnmacht. Fühlt sich an wie Verrat an unserer Liebe, an unserer Ehegemeinschaft.

Ich verlasse ihn. Wir leben getrennt, ich muss mir ein neues Leben aufbauen, doch er ist noch da. Schlechte Gefühle wollen sich bei mir einnisten, ich wehre mich dauernd dagegen.

Lydia hilft mir, Bücher auszusortieren. Fromme Bücher, die Geri morgen holen wird für die neue Bibliothek. Erleichterung meinerseits, wieder ein Schritt in die neue Freiheit. Ballast abwerfen, loslassen, sich trennen von Dingen, die seit Monaten nur noch Wände dekorieren.

Lydia sieht die drei Taschen voll Puppen, sauber gewaschen, bereit zum Ankleiden oder auch zum Nähen nach dem Herausoperieren des Motors. Motoren in den Puppen sind nicht geeignet für Waisenkinder, Batterien gibt es dort nicht. Viel Arbeit wartet. Interessiert wühlt Lydia in den Taschen. Dann besieht sie die Kleidchen in der Kommode, die fast überquillt, erst zögerlich, dann guten Willens, aber mit wenig Begeisterung.

Ob ich das kann? Kurz darauf sehe ich, wie sie eine Puppe an sich drückt, sie spricht mit ihr. Lydias Gesicht leuchtet. Sie wurde vom Puppenvirus erwischt! Jubelnd nimmt sie die nächste Puppe aus dem Sack und wühlt in den Schubladen. Freude, Begeisterung, viel Liebe und Hingabe, das ist das Geheimnis dieser Arbeit. Was wir an Liebe und Herzblut hineingeben, kommt bei den Kindern an. Eine Puppe nimmt unsere Liebe auf. Das liebevolle Aussuchen von passenden Kleidchen, vielleicht gar etwas selbst Gestricktem, gibt den Puppen das gewisse Etwas. (Fortsetzung folgt …)

Delir bei Demenz

Was sind die Ursachen eines Delirs? Wie erkennt man es? alzheimer.ch/Marcus May