Wie Emma die Welt sieht
Mit Fred, Emmas Nachbarn, lote ich aus, wie es meiner Freundin Emma geht. Ihre Demenz schreitet fort und manchmal sind wir uns nicht sicher, was sie braucht.
🗨 13. Januar – Eine Mail von Fred, dem Nachbarn von Emma
Guten Abend Ursula,
ich möchte kurz über meine Beobachtungen zum Zustand von Emma berichten.
🙂 Das ist erfreulich:
Emma unternimmt wieder längere Spaziergänge, oft mehrmals täglich, häufig allerdings beim Einnachten, so dass sie sich hinterher empört über die Dunkelheit beschwert. Treppensteigen geht jetzt meist wieder ruck-zuck (wie in früheren Zeiten). Das Ein- und Aussteigen ins Auto macht ihr jetzt auch kaum mehr Mühe.
Emma wirkt physisch wieder robuster. Sie schätzt das Essen und zwar in einer – gemessen an ihren früheren Gewohnheiten – stattlichen Menge. Frühstücken kann sie locker dreimal hintereinander. Nach einem vollständigen Abendessen macht sie sich nicht selten noch Ovomaltine-Haferflocken.
🙁 Das ist problematisch:
Emmas Zeitgefühl scheint seit Tagen wieder ordentlich durcheinander geraten zu sein, Wochentage und Datum erfindet sie nach Gutdünken und beklagt sich vehement darüber, dass alle ständig einen Aufstand machten und sich an nichts halten würden.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Beispiel 1
Ziemlich Schelte erhielt ich am 3. Januar. Emma habe am 2. Januar vergeblich zweieinhalb Stunden in der Kälte auf mich gewartet, um einen Arzttermin einzuhalten. Als ich ihr erklärte, dass der Arztbesuch auf den 13. Januar vorgesehen gewesen sei, war sie richtig erzürnt und belehrte mich, heute sei doch der 13. Januar, das stehe ja hier schwarz auf weiß im Kalender. Ich solle nicht alles verdrehen.
Beispiel 2
Gestern beklagte sie sich, Frau Stettler sei am Vortag bis um Mitternacht bei ihr geblieben, es habe so kaum mehr Sinn gemacht, noch zu Bett zu gehen für die kurze Nacht. Ihre Einbildung erhebt Emma zur Wirklichkeit. Wer widerspricht, wird harsch als Sachenverdreher verurteilt.
Zusammenfassend
Emma wird körperlich (selbst-)sicherer. Geistige Verwirrungen übertüncht sie durch starres Behaupten. Handlungsbedarf besteht meiner Ansicht nach zurzeit nicht – wir müssen allerdings im Auge behalten, ob Emma in den Zeiten des Alleinseins zusehends unter erhöhten Leidensdruck gerät.
Liebe Grüße, Fred
🗨 16. Januar 2014 – Meine Antwort an Fred
Lieber Fred,
Ich staune immer wieder über Dich, Deinen großen Einsatz und Deine Besorgtheit um Emma. Es ist mir bewusst, dass der Umgang mit einem dementen Menschen sehr anspruchsvoll ist und viel, viel Geduld und Feinfühligkeit erfordert. Es ist eine große Herausforderung, die auch an Grenzen stößt. Ich bin dir so dankbar für Deine Unterstützung, auch für diesen »Lagebericht«.
Entschuldige bitte mein langes Stillschweigen, es ist nicht Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit. Leider hat sich der Zustand meines Mannes wieder verschlechtert, die Besuche bei ihm sind mehr als herausfordernd und sehr, sehr traurig, was mich alle Kraft kostet.
Am Samstag plane ich, Emma zu besuchen. Ich werde mal wieder das Thema Pflegeheim und Ferienbett erwähnen. Wann wären solche Ferien für Dich passend? Danach können wir uns vielleicht mal wieder telefonisch austauschen oder ist gar eine gemeinsame Besprechung gut am Runden Tisch?
Herzliche Grüße, Ursula