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Das Tagebuch (45)

Kunst des Lebens

«Beim Frühstück wird mir wieder mal so richtig bewusst, wie krank Paul ist. Ich darf ihn nicht durch Fragen stressen, meine eigenen Anliegen muss ich wegstecken – ich habe wohl meinen Partner vor mir, aber er ist nicht mehr Partner.» Bild U. Kehrli

Obwohl Paul jetzt zwei Tage in der Woche ins Tagesheim geht, findet Frau Kehrli nicht die Ruhe, die sie sich wünscht. Enweder ist die Zeit allein jeweils zu kurz, um richtig loszulassen, oder ihre Gedanken kreisen ständig um Paul. Kommt er zurecht auf dem Heimweg?

10. April 2011 – Kunst des Lebens

Morgen wird Paul zum ersten Mal auch am Montag ins Tagesheim Baumgarten gehen. Nach anfänglichem Motzen (Reklamieren) hat er sich gefügt. Ich habe es ihm in seine Agenda geschrieben, basta! Erika wird nach dem Tagesheim auf ihn schauen.

So muss ich für den Ausflug mit Andy nicht nach Hause hetzen. Ich freue mich riesig auf diesen Ferientag. Mit Andy zusammen sein ist ein geschenkter Tag. Wieder mal Plaudern, Gedanken teilen, das Leben geniessen.

Beim Frühstück wird mir wieder mal so richtig bewusst, wie krank Paul ist. Ich darf ihn nicht durch Fragen stressen, meine eigenen Anliegen muss ich wegstecken – ich habe wohl meinen Partner vor mir, aber er ist nicht mehr Partner.

Diese Tatsache ist nicht einfach zu begreifen. Vergesse es immer wieder, bis ich strauchle, scheitere mit meinen Anliegen. Er wird ungeduldig, weil er sich nicht mehr gut ausdrücken kann, nichts versteht, und ich bin gefrustet und traurig, weil ich in Paul immer noch meinen Partner suche oder sehe, der er nicht mehr ist. Ich lese von Bruno Bürgel:

«Im Grunde ist’s der alltägliche kleine Ärger, die alltägliche kleine Sorge, die uns aufreibt im Wechsel der Zeiten, und es sind die kleinen harmlosen Freuden, die der Augenblick bringt, die uns beglücken und versöhnlich stimmen. Man muß den winzigen Acker abernten mit der Sichel der Bescheidenheit und nicht vergessen, daß alle Dinge nur aufleuchten in dem Licht, das aus uns selber kommt.»

«Wenn die Menschen aller Zonen und aller Schichten tiefinnerst das kosmische Denken erfaßt haben werden, wird das Buch der Geschichte der Völker, das von Raub und Knechtung, von Blut und Vernichtung, vom ewigen Hader um Fetzen dieses Sandkorns im All zu berichten weiß, abgeschlossen werden, wird die Menschheit es beschämt verschließen und in die Schreckenskammer legen, die von Folterwerkzeugen erzählen und Hexenprozessen. Lernt kosmisch denken, erfüllt von der Größe des Alls, und die fernen Sterne werden euch nahe sein!»

17. April 2011 – Mein zweiter freier Tag

Unglaublich! Eine ganze Woche war ich ohne mein Netbukli. Ich war zu müde, um meine Gedanken niederzuschreiben. Die Woche lief wie gehabt. Aufstehen – wie gerädert, abends ins Bett sinken, mit Hilfe der Schlaftabletten, um wenigstens ein- und durchschlafen zu können.

Wie ich diese Tabletten hasse. Ich möchte endlich wieder mich selbst sein, ohne dieses Zeugs. Gestern Abend war ich derart erschöpft, dass ich die Schlafhilfe vergass.

Um fünf Uhr steht Paul auf. Mir egal. Ich verkrieche mich tiefer unter die Decke. Nur nicht sprechen müssen. Es geht lange, bis er seine Kleider richtig angezogen hat. Endlich Ruhe im Zimmer. Nach einer Weile kommt er zurück. Hat wohl doch gemerkt, dass er zu früh ist. Zieht sich wieder aus, legt sich hin. Ich bin viel zu müde, um mich noch zu wundern, zu ärgern oder mich daran zu stören, dass ich nicht schlafen kann.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Sonntag. Ob Paul in die Predigt möchte? Er hat immer wieder den Wunsch danach. Den erfülle ich ihm gerne, auch wenn ich all den Menschen am liebsten ausweichen würde.

Gestern spielte ich mit dem Team an einer Geburtstagsfeier (ich weiss nicht einmal mehr den Namen der gefeierten Person!). Dort lernte ich Andreas kennen, der kam mir vor wie ein Engel. Er hat erfasst, welcher Druck auf mir lastet und bot sich an, Paul abends zu hüten, damit ich auch mal ausgehen könne.

Noch kann ich es nicht wirklich fassen, dass da ein Mensch ist, der mir aus meinem Loch heraushelfen könnte. Schon seine Anteilnahme hat mir wohl getan.

Es ist inzwischen halb vier. Die Predigt hat mir gut getan. Der Frauenchor hat gesungen, bei einem slawischen Lied von einer Cellospielerin begleitet. Es hat meine Seele erquickt und mich aufgerichtet. Wie schön, einmal das Cellospiel von andern zu hören.

Heute mochte ich nicht kochen. Paul war einverstanden mit Essen im Bramberg, wie immer ländlich, bäuerlich, aber sehr gepflegt und gemütlich. Danach fuhr ich mit Paul an die Sense, er mag das sehr.

Was mich so erdrückt? Schau, ich leide unter Einsamkeit. In mir ist eine grosse Trauer, die ich mir selbst nicht erklären kann.

Ein Verlassenheitsgefühl, gemischt mit einem anstrengenden Pflegedienst, den ich mir gar nicht etwa ausgesucht habe. Ich bin ja schliesslich pensioniert; alt und müde. Möchte meinen Lebensabend geniessen können, wünschte mir wie früher einen Gesprächspartner, Gedankenaustausch.

Noch was: Morgen Montag geht Paul ins Tagesheim. Das erste Mal in die neue Gruppe. Da hätte ich Freiraum. Aber mein Problem: Ich mag nichts planen. Besser gesagt, ich hätte Pläne aber keine Kraft sie auszuführen. Was soll ich so allein? Da ist wieder diese grosse Trauer.

Ich habe mal nach dem Wort Trost gegoogelt.

Was ich wollte, liegt zerschlagen,
Herr, ich lasse ja das Klagen,
Und das Herz ist still.
Nun aber gib auch Kraft zu tragen,
Was ich nicht will! (Joseph von Eichendorff)

Der Schmerz ist ein heiliger Engel,
und durch ihn sind Menschen grösser geworden
als durch alle Freuden der Welt. (Adalbert Stifter)

20. April 2011 – Weh auf dem Herzen

Heute Morgen ist es kein Aufatmen, als Paul ins Tagesheim aufbricht. Eine Aura von Trauer, Verzweiflung, Unsicherheit und Verloren sein umgibt ihn. Ich nehme ihn immer wieder in die Arme und versuche ihm Wärme und Trost zu geben.

Schon um fünf Uhr hat er mich geweckt, wollte aufstehen. Eine innere Unruhe trieb ihn, dann wieder um sechs Uhr, nichts konnte ihn zurückhalten, er stand auf, kleidete sich an, machte Kaffee und deckte den Tisch. Unglaublich, wie dies ab und zu noch – wenn auch sehr langsam – funktioniert.

Mein Herz ist zerrissen zwischen Auftanken in diesen paar Stunden ohne Paul und dem Schmerz um ihn. Hin und her gerissen bin ich von Gefühlen der Ablehnung und der Sehnsucht. Einerseits halte ich den Alltag kaum mehr aus, wenn er dauernd an mir klebt mit Fragen, Kritik, seiner Besserwisserei und Nörgelei.

Ein Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Andererseits muss ich mich dauernd für alles erklären, warum oder warum nicht. Kaum ein Moment der Ruhe, um eine Sache zu überlegen, zu Ende zu denken, zu planen. Vieles bleibt liegen, manches vergesse oder vernachlässig ich. Dauernd stehe ich unter Druck, Anspannung. Verantwortung lastet auf mir, alles muss ich selbst entscheiden.

Heute Mittwoch habe ich vor, mit Erika auf den Gurten zu wandern. Aufstieg langsam, gemächlich. Ein Spaziergang, das habe ich mir schon lange gewünscht. Dann Mittagessen, gemütlich. Solche Ausflüge stärken, ermutigen mich. Und ich darf wieder mal alles abladen, was auf meiner bedrückten Seele lastet.

Wenn Paul vom Heim nach Hause kommt, wird ihn die Spitex-Frau erwarten. Duschen, Füsse pflegen, begleiten.

Immer wieder stosse ich mich daran, dass das Tagesheim seine Gäste bereits kurz nach drei Uhr in Aufbruchsstimmung versetzt.

Der Transportdienst lässt die Leute einsteigen, es entsteht Unruhe und Paul will sogleich auch nach Hause. So wird meine Erholungszeit abgekürzt. Kaum weiss ich, dass er dort sicher angelangt ist – muss ich nachmittags schon bald wieder aufbrechen, um rechtzeitig bei ihm zu sein.

Ein Anrufg von der Spitex Frau. Paul habe sie einfach rausgeworfen, begleitet von wüstem Fluchen. Aber das Schöne daran: Sie kam nach einer halben Stunde wieder und Paul hat sich bei ihr entschuldigt. Das Pflegeprogramm konnte durchgezogen werden.

1. Mai 2011 – Kraft, aber bitte subito!

Freitagabend: Shabbat-Feier, unser Team musiziert. Sechs Uhr kommt Andreas, um Paul zu hüten, damit ich unbesorgt teilnehmen kann. Der Tag war so ausgefüllt, ich hatte kaum mehr Lust etwas zu unternehmen. Doch mit dem Cellospielen ist es etwas anders. Dafür habe ich immer Freude und Antrieb, Gott zu loben, freies Cello spielen – das ist das Schönste für mich.

Kraft, aber bitte subito. Wenn es doch nur so einfach wäre wie beim Gaspedal runterdrücken. Aber meistens kommt einfach nichts, als ob ich leer durchtreten würde. In meiner Hosentasche berge ich ab und zu ein Wort aus der Bibel, das mich am Morgen in der stillen Zeit angesprochen hat.

Ich nehme das Zettelchen hervor, wenn ich mal wieder seufze. Abends, wenn ich im Bett liege, staune ich, wie ich durch all diese «Kurven» gefahren bin, eine nach der andern – die Kraft hat doch gereicht, der Sprit ist mir nicht ausgegangen. Im Tank war genug, das Tempo angemessen.

Das wird auch heute wieder so sein. Mein Herr steht an meiner rechten Seite, als Hirte, Ratgeber, Freund. Als Stütze und als Helfer. Jeder Tag beginnt mit dem Gefühl: Zu müde, es liegen zu viele Hindernisse vor mir. Ich mag nicht mehr.

Beim Aufwachen schon kommen all die täglichen Aufgaben wie eine grosse Welle auf mich zu, doch erfahre ich dann, wie ich dennoch durchgetragen werde, wie ich darauf reiten kann, wenn ich mit meinem Herrn zusammen den Tag anfange. Wir surfen gemeinsam auf den bedrohlichen Wellen.

4. Mai 2011 – Gurten

Das hat viel Kraft gekostet, mich heute Morgen zu motivieren, allein etwas zu unternehmen. Schliesslich überwand ich die Lethargie der letzten zwei Tage (ich lag nur faul herum…) und packte meinen Rucksack: Eine Banane, ein Fläschchen Grüntee. Basta. Ich kann ja auf dem Gurten im Selbstbedienungsrestaurant etwas essen.

Paul weigerte sich, ins Tagesheim zu gehen. Irgendwie gefällt es ihm dort nicht mehr. Ich benötige viel Überzeugungskraft und gutes, geduldiges Zureden. Schliesslich kann ich mich durchsetzen, er geht langsam, bedächtig, dann doch recht zielstrebig Richtung Bahnhof. Ist dies ein Zeichen, etwas Neues für ihn zu suchen? Aber für zwei bis drei Tage?

Sobald ich aus dem Haus bin, unterwegs zum Gurten, kommt auch etwas Freude auf. Jetzt hat es viele Margeriten, Salbei, Hahnenfuss, Kleeblümchen. Zwei Zicklein versuchen im Stehen vom Apfelbaum Blätter zu naschen. Der Blick über die Stadt Bern ist schon von der Mittelstation aus hinreissend, trotz leichtem Dunst und Nebel. Müdigkeit und Traurigkeit sind verflogen.

Der Turm hat 120 Tritte, der Aufstieg lohnt sich, denn der Ausblick ist einmalig schön. Nun ist ein herrlicher Rundblick möglich, über die Bäume hinweg.

Nach dem Essen entscheide ich mich für den Abstieg zu Fuss, Richtung Köniz. Die Hüfte und die Fussknöchel schmerzen. Egal, ich will auch das überwinden.

Zuhause noch rasch die restlichen Geranien einpflanzen, den grossen Busch Margeriten von Ruth H. in einen grösseren Topf umpflanzen. Dann endlich die Ruhe geniessen, bevor Paul wieder kommt.

Erfüllt vom Erlebten, neu gestärkt, bin ich wieder ausgeglichen und glücklich darüber, den Tag genutzt zu haben. (Fortsetzung folgt …)