11. Oktober 2011 – Ja sagen
Am Vormittag hänge ich wieder herum. Eines wird mir klar. Mein Hadern, mein Auflehnen gegen Pauls Krankheit, dieses getrennt sein, raubt Kraft. Es ist wie es ist. Endlich muss ich es annehmen, mich damit abfinden. Verstand gegen Gefühle – ich muss da durch. Mich entscheiden, es annehmen. Ja sagen zu unserem Schicksal.
Wehe dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht der Ton zu seinem Töpfer: Was machst du? Und sein Werk: Du hast keine Hände! Wehe dem, der zum Vater sagt: Warum zeugst du? Und zum Weibe: Warum gebierst du? (Jes. 45,9)
Wehe dem, ja, ich suhle mich im Schmerz. Und leide, bin kraftlos, ohne Antrieb, ohne Perspektive. Solange ich in Auflehnung gegen das Schicksal lebe, finde ich weder Frieden noch Freude. Da liegt wahrscheinlich der Wurm drin. Ich gehe wieder auf die Knie. Das stärkt meine Seele…
12. Oktober 2011 – Und es geht doch
Heute war seit Monaten der erste Tag, an dem ich am Morgen frisch erwacht bin und ohne Mühe aufstehen konnte. Sonst war es immer ein sich überwinden müssen, ein sich für all die Arbeiten quälendes aufraffen müssen.
Ich fühle mich in meiner Wohnung nicht mehr zuhause. Abends muss ich schleunigst die Vorhänge ziehen, sobald es dunkel wird. Mit Paul fühlte ich mich sicher. Jetzt fehlt mir seine Geborgenheit. Wieder kommen Gedanken auf, ob ich ins Dachgeschoss ziehen soll.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Denn jedes Mal, wenn ich im Musikzimmer bin, umgibt mich Ruhe, Geborgenheit, Trost. Der einzige Grund, nicht nach oben zu ziehen, ist mein Alter. Da weiss man nicht, wie es mit dem Treppen steigen sein wird. Immerhin mache ich mich ans Loslassen, Aufräumen. Das lenkt ab, befreit.
Voller Elan habe ich im Schlafzimmer die vielen Kartonschachteln auf Schrank und Büchergestell entsorgt. Wie dick der Staub wieder lag! Manchmal frage ich mich, wo dieser immer wieder herkommt. So hoch oben? Und in solchen Staubwolken lebe und schlafe ich? Unglaublich.
Frau B. putzt heute die Fenster. Wie froh ich um ihre Hilfe bin. Noch nie habe ich eine 70-jährige mit soviel Schwung und Tempo arbeiten sehen. Und das ohne Pause, drei Stunden lang.
Meine Puppen für Moldavien: Die 600. ist geschafft. Vor fünf Jahren nahm ich mir vor, aus Dankbarkeit für jedes Jahr, das ich gelebt habe, 70 Kinder zu beschenken. Die Freude am Puppen-Recyceln packte mich – nun sind es mehr als 7 mal 70 geworden.
Andere Frauen liessen sich von mir anstecken. Die eine strickt gerne, eine andere, pensionierte Damenschneiderin, näht jeder Puppe ein einzigartiges Modell-Kleidchen. Auf diese Weise drehe ich mich nicht nur um mich selbst. Um meinen, unseren Schmerz.
26. Oktober 2011 – Der Tag danach
Gestern bin ich 75 geworden. Wo sind all die Jahre geblieben? Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Es ist genau so, wie mir meine Mutter mit 90 sagte: Die Jahre vergehen im Flug. Sie verwehen wie die Schirmchen des blühenden Löwenzahns. Man kann sie nicht aufhalten. Ein Tag folgt dem andern, jeder hat seine Plage und plötzlich ist man alt.
Dann kann man so vieles nicht mehr tun, die Kräfte fehlen, man wird langsamer, ist müde und sucht eher die Ruhe als die Betriebsamkeit. Morgens wälzt man sich wie zerschlagen aus den Federn, schon nach dem Nachtessen wäre man reif fürs Bett. Und ein Geburtstag kann ganz schön anstrengend sein. Telefonanrufe, Besuche, sie erfreuen – aber sie ermüden auch.