«Der Gedanke an Lähmung, ohne je wieder arbeiten zu können, für ihn, den gerne Schaffenden, Hilfsbereiten, Kreativen – eine Katastrophe!»
Bild U. Kehrli
Zurück aus den Ferien besuchen Ursula und Paul Kehrli als erstes ihren Nachbarn und guten Freund Jürg, der im Sterben liegt. Vor Kummer überwältigt, erleidet Paul nur wenige Tage später einen Hirnschlag.
Auf der Heimreise von der Donaufahrt wagte ich kaum mit Paul zu sprechen; aus Angst, er würde sich wieder lauthals ereifern. Er wirkte sehr gestresst, behandelte mich unfreundlich und schroff, regte sich auf wenn ein Mitreisender im Car nicht pünktlich zur Abfahrt erschien, mischte sich in Gespräche anderer ein ohne zu verstehen, worum es sich drehte.
Bedrückend, das nach Hause kommen. Besorgter Blick zum Nachbarhaus. Wie geht es Jürg? Dann unser Besuch, Aufatmen. Er sitzt im Wohnzimmer, zwar sehr schwach, freut sich aber sehr uns zu sehen.
Er spricht offen über sein baldiges Ableben, uns fehlen die Worte, seine Frau Lisa kann die Hürden umgehen und bringt die Gespräche in Gang. Es werden schwierige Tage folgen. Es wird nie mehr sein wie es war. Ich bin auch in grosser Sorge um Paul.
Ursula Kehrli im Interview
Ursula Kehrli
«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»
Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen
3. August 2006 – Abschied
Vormittags der schwere Gang ins Nachbarhaus; es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Zu danken für die kostbare Zeit, die wir mit Jürg hatten. Paul ist froh dass ich es aussprechen kann. Ihm danken für all die Jahre, für die Freundschaft.
Dann kann auch Paul sein Herz ausschütten, ihm die Hände drücken, viele Tränen fliessen. Es tut so weh, sich von einem lieben Freund zu lösen.
Und die Beziehung der beiden war etwas Besonderes. Fachsimpeln, etwa zusammen in der Dorfbeiz am Stammtisch sitzen; und für Paul war es immer ein Highlight, wenn er für Jürg knifflige Drechslerarbeiten übernehmen konnte bei der Restaurierung antiker Möbel. Es war eine willkommene Abwechslung zu seinen Arbeiten im Garten oder am Haus.
«Wünschst Du noch ein Gebet?» Jürg nickt. «Gerne». Danach wird er ruhig, strahlt uns liebevoll an. Zum letzten Mal. Um 20 Uhr 40 stirbt Jürg, 65-jährig – zehn Jahre jünger als Paul.
17. August 2006 – Notfall!
Früh um halb sieben weckt mich Paul. «Es stimmt etwas nicht mit mir.» Sogleich bin ich hellwach, stehe eilig auf. Hat ihn die Grippe erwischt? Hat er Fieber?
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Anni, eine Angehörige im Heim, die alle weinenden Neuankömmlinge umarmte und tröstete, hat mich ermutigt, meine Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen. (uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
«Leg dich hin, mal Fieber messen.» Ich leg ihm den Thermometer unter den Arm, gehe kurz hinaus. Wenige Minuten später: Keine Anstalten, mir den Thermometer zurückzugeben. Ich hebe seinen Arm, schlaff fällt er hinab.
«Paul, was ist los mit dir?», leicht verzieht sich ein Mundwinkel nach unten, dann keine Reaktion mehr. Ich eile zum Telefon, wähle 144 – bitte sofort kommen, Hirnschlag! Zehn Minuten später höre ich das Sirenengeheul, ich eile hinaus, winke den Fahrern zu.
Drei Männer eilen zu Paul. Fragen über Fragen, ich hole die Liste der Medikamente, versuche ruhig zu bleiben, die Knie sind weich, ich kann kaum mehr denken. Nur nicht schlapp machen. Ich suche nach Pauls Toilettensachen, Ausweise. Nehme meine Handtasche, bereite mich darauf vor, mit dem Krankenwagen ins Spital zu fahren.
Sie heben Paul auf eine Bahre, tragen ihn aus dem Schlafzimmer. Draussen steht Lisa, nimmt mich in den Arm: «Ich hoffe, Paul folgt nicht Jürg nach». Sie wünscht mir Kraft, mit Sirenengeheul geht͛s zum Notfall.
Lange Untersuchungen, wieder viele Fragen, endlich die Diagnose: Hirninfarkt, man könnte es operativ entfernen, aber es bestehe ein grosses Risiko … «Alles oder nichts», sage ich. Bestimmt wünschte sich Paul den Versuch, wieder ganz hergestellt zu werden.
Der Gedanke an Lähmung, ohne je wieder arbeiten zu können, für ihn, den gerne Schaffenden, Hilfsbereiten, Kreativen – eine Katastrophe! Für mich ist es klar: «Tun sie das Möglichste!». Es ist noch keine Stunde her seit dem Hirnschlag… Er hat noch gute Chancen! Es heisst warten.
Ich kann nichts für ihn tun. Wie in Trance gehe ich zum Ausgang, sinke auf einen Stuhl, fühle mich elendiglich einsam, leer, ausgelaugt. Nach einer Weile bestelle ich ein Taxi, muss nach Hause!
Nachmittags darf ich Paul besuchen. Er winkt mir fröhlich zu. Er hat alles gut überstanden, kann sich wieder bewegen und redet munter drauflos. Er wisse noch genau, dass er mich geweckt habe, weil es ihm so «komisch» im Kopf war. Mit Unmut nimmt er zur Kenntnis, dass er zehn Tage im Spital bleiben muss und die ersten Tage nicht aufstehen darf. (Fortsetzung folgt … )
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