12. Juli 2011 – Munter
Nach langer Zeit der erste Morgen, an dem ich munter erwache, ohne diese elende Schwere in meinem ganzen Körper beim Aufstehen. Oh, welch ein tolles Lebensgefühl! Ob es damit zusammenhängt, dass ich seit einer Woche kein blutdrucksenkendes Mittel mehr nehme?
Wie kann das Leben schön sein! Früh habe ich den knallroten Sonnenaufgang zwischen einem Blättergestrüpp vor meinem Fenster aus beobachten können. Die erste Freude heute. Und ich fühle mich so leicht und frisch.
Fürs Mittagessen gehe ich zu Paul, bringe ihm wieder einen Cervelat. Es gibt Blumenkohlsalat, Gersotto und zwei Stück Schinken. Er sagt kein Wort, verschmäht das meiste Essen. Auch die Cervelat. Es tut so weh, dass Paul nicht sprechen kann.
Diese Not! Diese Kluft! Ich fühle mich nicht mehr dazugehörig, fühle mich abgewiesen von ihm. Ob er von mir enttäuscht ist, weil ich ihm nicht helfen kann? Weist er mir die Schuld zu an seinem Geschick?
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Am Nachmittag zuhause sitze ich draussen. Es ist heiss. Doch unter der Store angenehm. Vor mir habe ich alle Rechnungen des letzten Jahres, erstelle für die Steuererklärung die Ausgabenliste, die Extras für Pauls Tagesheim, Fahrkosten, Arztrechnungen usw.
Plötzlich zieht es mich zu Paul. Er ist im Rollstuhl im Korridor, putzt einen Türrahmen mit irgendeinem Lappen, oder ist es eine Strumpfhose? Er wirkt sehr angespannt, gehetzt, schenkt mir kaum Aufmerksamkeit, poliert oder putzt weiter. All die Kratzer ärgern ihn, wild will er weiter rubbeln.
Der Pfleger kommt, sollte nun den Tisch wieder holen, den Paul bearbeitete. Er redet ihm gütlich zu. Paul geht darauf ein. Daniel versteht es, ihn zu lenken. «Heute geht es nicht gut, weiss nicht, wie ich es ihnen sagen kann, es ist sehr traurig. Auf der Terrasse oben hat Paul ganz deutlich und klar gesagt: Hilf mir sterben, ich kann nicht mehr. Ich mag nicht. Es ist übel mit mir.» Klare Aussage, unmissverständlich.
Paul hatte in einem klaren Augenblick seine hoffnungslose Lage erfasst, richtig eingeschätzt, die Hilflosigkeit gespürt, dieses Gefangensein im Schutz vor sich selbst, mit Tischchen am Rollstuhl, Anbinden nachts im Bett; die Qual, sich nicht mehr äussern zu können, seine Wünsche nicht in Worte fassen zu können.
Es gibt scheinbar klare Momente, in denen er kombinieren kann. Daniel fühlt mit ihm, es beschäftigt ihn sehr, dass Paul diese Aussage so klar machen konnte und so die Verzweiflung seiner Seele hat ausdrücken können.
Zaghaft versuche ich dann im Zimmer das Thema Sterben anzusprechen. Paul reagiert gar nicht darauf.
Heute kann ich mich fast nicht losreissen. Seine Hilflosigkeit, sein Drang aus diesem Stuhl rauszukommen, dieser verzweifelte Blick mit dem er mich ab und zu ansieht, das alles tut so weh! Und ich kann ihm nicht helfen! Es hat auch keinen Sinn mehr, dass ich länger bleibe. Er nimmt ohnehin kaum Notiz von mir, ist beschäftigt mit Papiere zerreissen, im Zimmer herumfahren, ruh- und rastlos.
13. Juli 2011 – Loslassen
Soeben habe ich den Vertrag für das Ferienbett für Paul erhalten. Anzahlung pro Woche: 1300 Franken, also insgesamt über 10‘000. Es wühlt auf, all das von Paul sauer verdiente und ersparte Geld für die Pflege auszugeben.
Ja, ich gebe zu, es ängstigt mich. Dann werde ich nachdenklich. Bin doch dankbar dafür, diesen Platz gefunden zu haben. Ich bin überzeugt, es ist der beste Ort, den ich finden konnte. Doch es bleibt vorerst nur Hoffnung.
Plötzlich packt mich eine Idee: Freude machen, Apfelkuchen backen, Brief schreiben: ein Dank an die Pflegenden. Schon bald ist der Kuchen im Ofen, schnell ist der Brief geschrieben und für Daniel separat noch ein Trinkgeld und ein Dankeschön. Wie doch Freude machen beflügelt!
Es geht mir wirklich viel, viel besser. Zwischendurch mich hinzulegen, hat sich bewährt. Sogar Cello spielen mochte ich wieder. Endlich pendelt sich wieder eine Normalität ein. Auch das Kochen für mich allein macht weniger Probleme. Langsam kommt auch wieder der Appetit.