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Das Tagebuch (56)

Danken schützt vor Wanken

Wie langsam in einem Pflegeheim die Zeit vergeht! Es regnet stark, ein trüber Tag, drei Bewohner auf den Sofas sind eingenickt. Dann kommt auch für mich der traurige Moment des Abschieds. Verunsichert gehe ich auf die Pflegerin zu, sie rät: «Sagen sie ihm einfach, sie kommen wieder, das versteht er und gibt ihm Sicherheit». Bild U. Kehrli

Zwar ist Frau Kehrli glücklich darüber, endlich das richtige Heim für ihren Paul gefunden zu haben, doch hält sie es allein zuhause kaum aus. Langsam wird ihr bewusst, was sie in den letzten Jahren alles geleistet hat. Zurück bleibt die Leere.

17. Juli 2011 – Der dritte Tag

So wie ich Paul die letzten zwei Tage erlebte, hat meine Seele getröstet. Er war empfänglich für Liebe, strahlte Liebe aus, wir lagen auf dem Bett und die Nähe tat uns gut. Wie lange ist es her, dass wir solche Momente geniessen konnten? Der Alltag war geprägt von Unruhe, getrieben sein, ärgerlich sein. Ständig gestresst, stets unter Hochdruck.

Diese Spannung ist weg. Paul ist ruhiger geworden, ich habe ihn wieder gefunden, wir haben uns wieder gefunden. Auch in mir herrscht wieder Ruhe, dieser fast nicht auszuhaltende Druck ist weg, dieses ständige unter Strom stehen. Wie dankbar ich bin für diese zwei Tage. Balsam für unsere Herzen, Morgenröte der Ersten Liebe.

Paul steht vor dem Lift. Er sieht mich an, erstaunt, dann strahlend, «gut, dass du da bist», er zeigt mir ein Etui, ähnlich wie er es für sein Bus-Abonnement verwendete. Steigen da wieder Fluchtgedanken in ihm auf? Dann will er in den Lift. Ich fühle, sobald er mich sieht, will er weg.

Ich kann ihn ablenken, in sein Zimmer führen, er setzt sich an den Tisch. Hier gebe ich ihm sein Portemonnaie. Er untersucht es sorgfältig nach all den Karten und ist zufrieden, etwas Kleingeld und eine 10er Note zu finden. «Das ist gut» und stopft es in die Gesässtasche. Ich erkläre ihm dann wieder, wo er ist und dass er hier sei zur Erholung. Langsam wird er ruhig. Hört mir zu.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Nach einer Weile führe ich ihn ins Wohnzimmer, entdecke zwei Puzzle mit 24 Teilen. Kätzchen-Motive. Es interessiert ihn und so sind wir die nächste Stunde mit den beiden Bildern beschäftigt. Ich staune, wie er Formen und Farben gut erkennt und mit Leichtigkeit die Teile einfügt. Zwischendurch knabbert er an Nüsschen oder Salzstängeli.

Wie langsam in einem Pflegeheim die Zeit vergeht! Es regnet stark, ein trüber Tag, drei Bewohner auf den Sofas sind eingenickt. Dann kommt auch für mich der traurige Moment des Abschieds. Verunsichert gehe ich auf die Pflegerin zu, sie rät: «Sagen sie ihm einfach, sie kommen wieder, das versteht er und gibt ihm Sicherheit».

Ich verabschiede mich mit einem innigen Kuss, einer Umarmung. Paul ist nun wieder mit seinem Abonnement beschäftigt, das er in der Hose findet. Er ist abgelenkt und ich kann in den Lift gehen. Ich habe Frieden im Herzen, bin ruhig und gelassen, denn Paul scheint hier geborgen.

Es herrscht eine wohltuende Atmosphäre, auch für mich, alles läuft ab in Ruhe und Gelassenheit, die Pflegenden sind freundlich und geduldig, sie gehen auf die jeweilige Situation des Bewohners mit Feingefühl ein.

Auch auf dem Heimweg bin ich ausgeglichen, fühle mich wohl. Erst zuhause – irgendwie, irgendwann – schleicht sich hinterlistig diese grosse Traurigkeit ein.

Das Endgültige, das allein sein, ihn dort lassen zu müssen, stürzt einmal mehr auf mich ein. Ich muss mir bewusst werden, dass ich ihn nie mehr nach Hause nehmen kann, er wird nie mehr in seinem Bett schlafen können, dies, sein Heim, wird er nie mehr betreten können. Das alles scheint mich zu erdrücken.

Früher sagte ich jeweils, gefragt nach meinem Befinden: «Es ist sehr schwierig, diese Situation auszuhalten, doch es gibt etwas noch schwierigeres: Ihn gar nicht mehr hier zu haben.» Geahnt hatte ich es wohl, aber dass es so hart sein würde … das konnte ich mir damals nicht vorstellen.

Es lag ja nicht am Willen, an meiner Liebe zu ihm. Mit der Kraft ist man so schnell am Ende, wenn man nachts nicht ruhig schlafen kann. Irgendwann ist der Brunnen leer. Und ich bin so dankbar, dass ich es ausgehalten hatte, ohne zusammenzubrechen. Dankbar auch, dass ich den Entscheid, ihn nicht mehr zuhause zu haben, nicht selbst fällen musste.

Interview mit Ursula Kehrli

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Als mein alter Freund Carlo – nach längerer Pause – wieder mal anruft, bin ich gerade am Teigwaren kochen. Dazwischen schiebe ich mir ein Salatblatt in den Mund, ich bin zu bequem, eine Sauce darüber zu giessen. Wozu auch? Hauptsache, ich futtere Grünzeug. 

Carlo lacht schallend, sein erfrischendes Lachen. Es tut gut, ihn zu hören, aber ich spüre, dass ich von ihm weder Trost noch Halt wünsche. Wie dankbar bin ich, dass ich mich gegen seine Annäherungen gewehrt hatte. Ich gehöre meinem Paul, ich liebe ihn, basta! Zuwendung ist verlockend, aber ich will mir den Trost nicht bei ihm suchen.

Vor dem Einschlafen singe ich mal wieder das Kyrie Eleison. Wie viel Schmerz erträgt ein Mensch? Wenn ich denke, ich kann nicht mehr, muss es dennoch weiter gehen. Die Nacht bricht herein, dann geht die Sonne auf. Ein neuer Tag, der alte Schmerz ist noch da, neuer kommt hinzu.

18. Juli 2011 – Danken schützt vor Wanken

Danken schütz vor Wanken, ein uralter Spruch. Loben zieht nach oben, ist die zweite Zeile. «Ich gehe fischen», sagte Petrus, als er mit seiner Weisheit am Ende war. Wieder in den gewohnten Alltagstrott zurück. Wenigstens etwas tun, nicht einfach nur rumhängen.

OK, los, ab in den Alltag. Waschen, aufräumen, habe Erika eingeladen zu Bohnen und Speck. Komm, Alltag!

Komm, Ursula, Kopf hoch! Schau nicht den Strassenstaub, schau die Sterne am Himmel, die leuchten besonders hell in dunkler Nacht. Auch da gibt es Schönes zu sehen.

Margret hat zwei Koffer voll Puppen mitgenommen. Im August fahren sie wieder nach Moldawien. Hier habe ich noch viele Puppen, die gerne mitfahren möchten.

Endlich wieder mal einen Anlauf nehmen. Eine Puppe ab in die Waschmaschine, eine andere mit wollenen Haaren am Lavabo waschen, dann noch die und jene, plötzlich kommt die Freude. Die war vorher nicht da. Die kommt während der Arbeit. Und Freude bereiten macht Freude.

Bärchen und Puppen für die Kinderhilfe in Moldavien.Bild U. Kehrli

Wie geht es Paul? Was macht er? Ob er mich vermisst? Hatte er eine gute Nacht? So viele Fragen. Ich darf jederzeit anrufen. Ich habe wieder Sehnsucht nach ihm. Diese Leere hier. 28 Jahre gemeinsamer Weg – dann auf einmal allein sein!

Frau B. berichtet freundlich. Gestern Abend habe Paul das Esszimmer aufgewischt, es lagen Nüsse und Krümel am Boden. Er habe den Boden tipp-topp sauber gemacht. Heute Vormittag ist er in der Aktivierungsgruppe, er darf beim Rüsten und Kochen helfen, dann gibt es das gemeinsame Mittagessen.

Paul ist wirklich am richtigen Ort. Hier darf er sich wieder «nützlich» machen, ist erwünscht und hilfsbereit, hier kann er seinen Drang nach Arbeit stillen.

Wie schön und beruhigend, und ich kann mir unbesorgt einen freien Tag machen.

Bestimmt haben sie dort viel, viel mehr Geduld als ich es je hatte. Ich war ja total überfordert! Die Pflegenden sind lieb zu ihm, wertschätzen ihn, er kann sich wieder finden.

Es tut mir gut, das zu hören. Meinen innersten Schmerz jedoch stillt dies alles nicht. Ich werde lernen müssen, damit zu leben. Wie ein Beinamputierter seine Prothese akzeptieren muss. Eine neue Art zu leben. Ich kann noch nicht damit umgehen, muss das erst noch lernen.

19. Juli 2011 – Ich gebe auf!

Jetzt ist es (wieder) einmal so weit: Ich schmeisse das Handtuch. Ich mach’ nicht mehr mit. Ich mag nicht mehr. Ja, ich gebe es zu: Ich gebe auf. Wie ein Schwimmer, der den Ärmelkanal durchschwimmt, aufgibt und ins Begleitboot steigt. Aufgeben. Sich fahren lassen, nicht mehr selbst schwimmen. Keine Kraft mehr, lustlos, leer, ausgelaugt. Ok, ich gebe es zu.

Obwohl da viele Gründe wären, weiterzumachen. Dankbarkeit als Energie, gedenken, wie vieles schon so gut ausgegangen ist, mich aufmuntern mit Liedern – das würde mir wieder Kraft geben. Alles schon gemacht. Ja, es funktioniert. Ich habe es erfahren. Aber dazu fehlt mir heute die Kraft, auch die Motivation, habe einfach keine Lust! DieSchmerzgrenze ist längst überschritten! Ich spiel’ nicht mehr mit! Aus!

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Jeder Tag beginnt mit dem gleichen Ritual. Zuerst der Blick aufs Bett neben mir – früher aus Angst, ob Paul noch drin ist. Das hat sich so eingegraben die letzten Jahre. Die Sorge um Paul. Das Bett neben mir ist jetzt leer, wird wohl leer bleiben. Dann mich aufraffen, aufstehen, duschen, das Frühstück.

Ich setze mich auf den Stuhl von Paul, das erspart es mir, seinen leeren Platz anzustarren.

Dann zurück aufs Bett. Die Müdigkeit zwingt mich dazu, meine Glieder fühlen sich an wie in Blei gepackt.

Dann um halb zehn endlich den Haushalt besorgen. Dann mal daran denken etwas fürs Mittagessen zuzubereiten. Muss ja essen, soll die restliche Kraft nicht auch noch weichen. Auch dazu muss ich mich zwingen. Stets begleitet von einer grossen Traurigkeit, von der Gewissheit, Paul kommt nie wieder nach Hause, wir werden auf immer getrennt bleiben.

Diese Traurigkeit – ich mag nicht von Depression sprechen – scheint mir eine normale Reaktion auf diese Trennung zu sein. Auch der Schmerz auf der Brust, richtig körperlicher Schmerz, ist mir bekannt. Neu ist aber diese körperliche Erschöpfung, das Alter, die Perspektivlosigkeit.

Paul, das Ziel meiner Sehnsucht, ist noch da, mein Verlangen ihn zu sehen, bei ihm zu sein. Und doch muss ich ihn immer wieder loslassen, verlassen, und er entgleitet mir mehr und mehr, Tag für Tag.

Ich weiss, ich sollte mal an mich denken, Urlaub machen, entspannen. Aber das Entscheiden wohin, das Packen – alles zu hohe Hürden. Bin wieder mal am Schreien: Hilfeeeeee!

Nachmittags: Besuch bei Paul. Oh wie er mich anstrahlt! Was für eine herzliche Begrüssung, und er spricht mich mit Buseli an. Welche Wohltat. Paul sitzt gegenüber vom Lift. Er hat sich das gemerkt. Von hier kommen die Besucher. Da ist immer etwas los.

Wir gehen ins Wohnzimmer, er lässt sich überreden, das 24er-Puzzle zu machen. Danach gereut es ihn es einzupacken und fängt gleich wieder von vorne an.Vor dem Nachtessen verabschiede ich mich. Auch die Rückfahrt geht zügig. Ich fahre wieder gern Auto. Habe inzwischen wieder etwas Routine, es ermüdet mich nicht, wenn es auch herausfordernd ist.

Zuhause schauen mich viele Puppenaugen erwartungsvoll an. Noch zwei Wochen und Margret fährt wieder nach Moldawien. Da werden Kinderaugen aufleuchten, wenn sie meine Puppen sehen. Plötzlich ist wieder neue Kraft und Freude da. Zwölf Puppen kann ich vorbereiten. Mein Herz wird getröstet!! Freude machen bringt Freude und Kraft. Na, geht doch wieder. (Fortsetzung folgt … )