17. Juli 2011 – Der dritte Tag
So wie ich Paul die letzten zwei Tage erlebte, hat meine Seele getröstet. Er war empfänglich für Liebe, strahlte Liebe aus, wir lagen auf dem Bett und die Nähe tat uns gut. Wie lange ist es her, dass wir solche Momente geniessen konnten? Der Alltag war geprägt von Unruhe, getrieben sein, ärgerlich sein. Ständig gestresst, stets unter Hochdruck.
Diese Spannung ist weg. Paul ist ruhiger geworden, ich habe ihn wieder gefunden, wir haben uns wieder gefunden. Auch in mir herrscht wieder Ruhe, dieser fast nicht auszuhaltende Druck ist weg, dieses ständige unter Strom stehen. Wie dankbar ich bin für diese zwei Tage. Balsam für unsere Herzen, Morgenröte der Ersten Liebe.
Paul steht vor dem Lift. Er sieht mich an, erstaunt, dann strahlend, «gut, dass du da bist», er zeigt mir ein Etui, ähnlich wie er es für sein Bus-Abonnement verwendete. Steigen da wieder Fluchtgedanken in ihm auf? Dann will er in den Lift. Ich fühle, sobald er mich sieht, will er weg.
Ich kann ihn ablenken, in sein Zimmer führen, er setzt sich an den Tisch. Hier gebe ich ihm sein Portemonnaie. Er untersucht es sorgfältig nach all den Karten und ist zufrieden, etwas Kleingeld und eine 10er Note zu finden. «Das ist gut» und stopft es in die Gesässtasche. Ich erkläre ihm dann wieder, wo er ist und dass er hier sei zur Erholung. Langsam wird er ruhig. Hört mir zu.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Nach einer Weile führe ich ihn ins Wohnzimmer, entdecke zwei Puzzle mit 24 Teilen. Kätzchen-Motive. Es interessiert ihn und so sind wir die nächste Stunde mit den beiden Bildern beschäftigt. Ich staune, wie er Formen und Farben gut erkennt und mit Leichtigkeit die Teile einfügt. Zwischendurch knabbert er an Nüsschen oder Salzstängeli.
Wie langsam in einem Pflegeheim die Zeit vergeht! Es regnet stark, ein trüber Tag, drei Bewohner auf den Sofas sind eingenickt. Dann kommt auch für mich der traurige Moment des Abschieds. Verunsichert gehe ich auf die Pflegerin zu, sie rät: «Sagen sie ihm einfach, sie kommen wieder, das versteht er und gibt ihm Sicherheit».
Ich verabschiede mich mit einem innigen Kuss, einer Umarmung. Paul ist nun wieder mit seinem Abonnement beschäftigt, das er in der Hose findet. Er ist abgelenkt und ich kann in den Lift gehen. Ich habe Frieden im Herzen, bin ruhig und gelassen, denn Paul scheint hier geborgen.
Es herrscht eine wohltuende Atmosphäre, auch für mich, alles läuft ab in Ruhe und Gelassenheit, die Pflegenden sind freundlich und geduldig, sie gehen auf die jeweilige Situation des Bewohners mit Feingefühl ein.
Auch auf dem Heimweg bin ich ausgeglichen, fühle mich wohl. Erst zuhause – irgendwie, irgendwann – schleicht sich hinterlistig diese grosse Traurigkeit ein.
Früher sagte ich jeweils, gefragt nach meinem Befinden: «Es ist sehr schwierig, diese Situation auszuhalten, doch es gibt etwas noch schwierigeres: Ihn gar nicht mehr hier zu haben.» Geahnt hatte ich es wohl, aber dass es so hart sein würde … das konnte ich mir damals nicht vorstellen.
Es lag ja nicht am Willen, an meiner Liebe zu ihm. Mit der Kraft ist man so schnell am Ende, wenn man nachts nicht ruhig schlafen kann. Irgendwann ist der Brunnen leer. Und ich bin so dankbar, dass ich es ausgehalten hatte, ohne zusammenzubrechen. Dankbar auch, dass ich den Entscheid, ihn nicht mehr zuhause zu haben, nicht selbst fällen musste.