Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, spontan, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners.
Anlass dazu gab mir Anni, eine Angehörige im Heim, die alle weinenden Neuankömmlinge umarmte und tröstete. Sie ermutigte mich, meine Aufzeichnungen zu veröffentlichen.
Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.
Es ist mein Wunsch, all jenen eine Stimme zu geben, die sich als «Versager» quälen, sich vielleicht auch an den bekannten Bildern der sich bis-zum-geht-nicht-mehr Aufopfernden messen, diesen «Fähigen», wie es oft scheinen mag, die immer alles richtig machen: mit Engelsgeduld und der Kunst der Validation.
Es begann schleichend, mit Ratlosigkeit und vielen Fragezeichen. Da gab es Streit um nichts, plötzliche Anschuldigungen, ein Überschütten mit aus dem Blauen kommenden Vorwürfen und Behauptungen:
Ich hatte einen anderen Mann vor mir, Mann B. Immer häufiger stand dieser Fremde vor mir, mein Alltag war erschüttert. Die Feste und Geborgenheit meines Lebens zerbröckelte.
Endlich die Diagnose: Hirn vorne geschrumpft, mittlere Demenz/Alzheimer, Aphasie. Empfehlung, nach einem Heim Ausschau zu halten. «Nie», dachte ich, «das schaff’ ich schon, irgendwie!» Ein langer, steiniger Weg begann, ein mühseliger Aufstieg auf einen Berg im Irgendwo, hoch in den Wolken verborgen. Wandern im Nebel. Kalt und frostig.
Ich suchte nach Entlastung: Ein Tag Tagesheim, Spitex-Hilfe für die Körperpflege, neue Tagesstrukturen schaffen, Beschäftigungen für ihn erfinden, Abschirmen vor anstrengenden Ausflügen und Besuchen.
Mann B
Paul schenkte mir Anerkennung, Ermutigung, war hilfsbereit und freundlich. Paul liess mir völlige Freiheit in meinem Alltag, er unterstützte mich, meine Talente und Gaben zu entwickeln, war stolz auf mich. Anderseits war er überaus glücklich, dass er von meinen Talenten in der Küche und im Haushalt verwöhnt wurde. Ein Geben und Nehmen, wir liebten und achteten uns.
Bis eben, nach und nach der «Mann B» diese Einheit zu zerstören begann. Das scheibchenweise Abschied nehmen von meinem geliebten Mann begann. Ein Verlust auf Raten, neun Jahre bis zum endgültigen Abschied.
Dazu kam der Kampf mit mir selbst, mit der Einsicht, die Messlatte viel zu hoch gelegt zu haben: mit Wunschvorstellungen und Hoffnungen. Ich kam im Laufe der Zeit immer offensichtlicher an meine Grenzen. Dennoch: Andere hatten das Pflegen zuhause mit ihren Partnern auch geschafft. Warum nicht auch ich? Ein Heim kam überhaupt nicht in Frage, nicht einmal der Gedanke daran. Verdrängen war Alltag geworden.
Dann dies: Notfall! Spital. Das Schicksal hat eigene Wege. Die Pflegeheimsuche war plötzlich ein Muss. Mir blieben die verzweifelten Hilfeschreie in mein Notebook, das mir zum Gegenüber wurde. Da gab’s keinen Erfolg, keine Anerkennung, kein Lob, kein Dank. Ich bin nicht die Gelassene, Geduldige, sich total Aufgebende und in der pflegerischen Aufgabe begabte Frau.
Ich kämpfte mit Ohnmacht, Versagen, Scheitern und der Verzweiflung. Trauern im Dauerschmerz, da gibt es keine Tabletten.
Ich musste erkennen: Es gelingt nicht, einem Menschen oder einer Aufgabe «gerecht» zu werden. Es bleibt beim danach streben und nicht aufgeben. Es durchzustehen ist Grund zur Dankbarkeit. Und Gnade, wenn «danach» noch Kraft bleibt, sein Leben alleine und erfüllt weiter zu leben. Auch wenn die Trauer weiter an meiner Seite geht.