28. Oktober 2013 – übernimm DU
Drei Termine, zwei davon mit Paul. Das verschobene Geburtstagsessen, offeriert vom Pflegeheim. Eingeladen sind drei Personen. Verschoben auf heute, weil Paul am Geburtstag Fieber hatte. Heute bedeutet es eher puren Stress statt Freude. Ob er sich führen lässt?
Die letzten Tage war er schwierig, widersetzte sich dem Wechseln der Pants, die Gehhose triefte, sogar die Schuhe waren durchnässt. Paul schämte sich, ließ sich nicht helfen. Jede der Pflegenden versuchte es immer wieder, keine konnte ihn dazu bringen. Paul schnauzte auch mich an, schimpfte, irrte unruhig überall umher.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Heute höre ich ihn von weitem. Er schimpft laut, zwischendurch mit weinerlicher Stimme, jammert. Nun macht es keinen Sinn in sein Zimmer zu gehen, dadurch wird er zusätzlich abgelenkt. Die Pflegende versucht ihn auf die Toilette zu geleiten, damit wir dann pünktlich um halb zwölf ins andere Gebäude zum Geburtstagstisch gehen können.
Nach einer Viertelstunde ist »Schichtwechsel«. Die erste Pflegende gibt auf, Paul regt sich immer mehr auf, lässt sich nicht helfen. Sophie, eine Lernende, schafft es nach weiteren zwanzig Minuten. Endlich. Er kommt den Gang entlang, mit viel Geduld und klaren Anweisungen ist er endlich im Lift. Schimpft. Man hört es am Ton. Die Worte sind nicht zu verstehen.
Das Auto habe ich vor dem Eingang parkiert. Nach langem Zureden steigt er ein für die paar Meter vor das andere Gebäude. Meine Nerven liegen blank. Andy und Fräne warten vor dem Eingang, nehmen Paul in Empfang, ich suche einen Parkplatz. Atme tief durch. Wir sind ja erst am Anfang der Herausforderungen.
Paul lässt sich geleiten, der Tisch ist wunderbar gedeckt, endlich Entspannung. Doch wahre Freude kommt dennoch nicht auf. Es ist zu heiß im Speisesaal, die Gespräche kommen nur schwer in Gang, man soll nicht über den Kopf von Paul hinweg reden. Suppe, dann Kaninchen an feiner Sauce, Kartoffelstock, drahtige Zuckererbsen mit Fäden, Karotten. Dann das Beste: zum Dessert feinste Schokoladenmousse.
Der Koch gratuliert Paul zum Geburtstag, wir rühmen seine Kochkünste. Endlich gehts zurück, mit viel Geschimpfe von Paul, der unbedingt wieder mit dem Auto zurückfahren will. Er erspäht es tatsächlich auf dem Parkplatz, will die paar Meter fahren. Wir verabschieden uns von Andy und Fräne.
Lernvideo – Rufen und Schreien
Was ist zu tun, wenn er plötzlich anfängt rumzuschreien? demenzjournal/Marcus May
Endlich etwas Ruhe im Zimmer, selbst Paul lässt sich nieder im Sessel, schließt für ein paar Minuten die Augen. Ich stricke, das beruhigt mich, das Schwierigste liegt noch vor uns: Fahrdienst in die Stadt, Termin bei der Podologin. Heute steigen die Temperaturen über 20 Grad, es ist föhnig.
Um drei Uhr kommt Frau W., die uns begleiten wird. Sie ist auch etwas angespannt, wir bemühen uns um Gelassenheit. Mit viel Zureden bringen wir Paul in den Lift. Brummelnd steigt er ins Auto des Fahrdienstes, dann ein Wutanfall: Der Fahrer will ihm seinen Gehstock wegnehmen, weil er ihn zwischen den Knien platziert, Gefahr bei Notbremsung. Wir wehren ab, ist egal, Hauptsache, Paul regt sich nicht noch zusätzlich auf. Zu spät, Paul ist auf Hundert, endlich fahren wir los, Entspannung allerseits.