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Das Tagebuch (86)

Böses zum Guten wenden?

»Wenn ich länger über die letzten drei Jahre nachdenke, sehe ich dennoch positive Veränderungen. Im Charakter, in der Lebensweise, im Verhältnis zu Gott und den Menschen.« U.Kehrli

Trotz der regelmäßigen Besuche im Pflegeheim, die viel Kraft kosten, schafft es Frau Kehrli immer öfter, wertvolle Zeit für sich selbst zu nehmen, ohne gleich ein schlechtes Gewissen zu haben.

28. Oktober 2013 – übernimm DU

Drei Termine, zwei davon mit Paul. Das verschobene Geburtstagsessen, offeriert vom Pflegeheim. Eingeladen sind drei Personen. Verschoben auf heute, weil Paul am Geburtstag Fieber hatte. Heute bedeutet es eher puren Stress statt Freude. Ob er sich führen lässt?

Die letzten Tage war er schwierig, widersetzte sich dem Wechseln der Pants, die Gehhose triefte, sogar die Schuhe waren durchnässt. Paul schämte sich, ließ sich nicht helfen. Jede der Pflegenden versuchte es immer wieder, keine konnte ihn dazu bringen. Paul schnauzte auch mich an, schimpfte, irrte unruhig überall umher.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Heute höre ich ihn von weitem. Er schimpft laut, zwischendurch mit weinerlicher Stimme, jammert. Nun macht es keinen Sinn in sein Zimmer zu gehen, dadurch wird er zusätzlich abgelenkt. Die Pflegende versucht ihn auf die Toilette zu geleiten, damit wir dann pünktlich um halb zwölf ins andere Gebäude zum Geburtstagstisch gehen können.

Nach einer Viertelstunde ist »Schichtwechsel«. Die erste Pflegende gibt auf, Paul regt sich immer mehr auf, lässt sich nicht helfen. Sophie, eine Lernende, schafft es nach weiteren zwanzig Minuten. Endlich. Er kommt den Gang entlang, mit viel Geduld und klaren Anweisungen ist er endlich im Lift. Schimpft. Man hört es am Ton. Die Worte sind nicht zu verstehen.

Das Auto habe ich vor dem Eingang parkiert. Nach langem Zureden steigt er ein für die paar Meter vor das andere Gebäude. Meine Nerven liegen blank. Andy und Fräne warten vor dem Eingang, nehmen Paul in Empfang, ich suche einen Parkplatz. Atme tief durch. Wir sind ja erst am Anfang der Herausforderungen.

Paul lässt sich geleiten, der Tisch ist wunderbar gedeckt, endlich Entspannung. Doch wahre Freude kommt dennoch nicht auf. Es ist zu heiß im Speisesaal, die Gespräche kommen nur schwer in Gang, man soll nicht über den Kopf von Paul hinweg reden. Suppe, dann Kaninchen an feiner Sauce, Kartoffelstock, drahtige Zuckererbsen mit Fäden, Karotten. Dann das Beste: zum Dessert feinste Schokoladenmousse.

Der Koch gratuliert Paul zum Geburtstag, wir rühmen seine Kochkünste. Endlich gehts zurück, mit viel Geschimpfe von Paul, der unbedingt wieder mit dem Auto zurückfahren will. Er erspäht es tatsächlich auf dem Parkplatz, will die paar Meter fahren. Wir verabschieden uns von Andy und Fräne.

Lernvideo – Rufen und Schreien

Was ist zu tun, wenn er plötzlich anfängt rumzuschreien? demenzjournal/Marcus May

Endlich etwas Ruhe im Zimmer, selbst Paul lässt sich nieder im Sessel, schließt für ein paar Minuten die Augen. Ich stricke, das beruhigt mich, das Schwierigste liegt noch vor uns: Fahrdienst in die Stadt, Termin bei der Podologin. Heute steigen die Temperaturen über 20 Grad, es ist föhnig.

Um drei Uhr kommt Frau W., die uns begleiten wird. Sie ist auch etwas angespannt, wir bemühen uns um Gelassenheit. Mit viel Zureden bringen wir Paul in den Lift. Brummelnd steigt er ins Auto des Fahrdienstes, dann ein Wutanfall: Der Fahrer will ihm seinen Gehstock wegnehmen, weil er ihn zwischen den Knien platziert, Gefahr bei Notbremsung. Wir wehren ab, ist egal, Hauptsache, Paul regt sich nicht noch zusätzlich auf. Zu spät, Paul ist auf Hundert, endlich fahren wir los, Entspannung allerseits.

Die größte Schwierigkeit: Paul zum Aussteigen bewegen in der stark befahrenen Straße mitten in der Stadt. Widerwillig geht er an meinem Arm, ein Passant kommt links auf uns zu, überrennt uns beinahe. Bald kommt eine Gruppe Jugendlicher, rücksichtslos rempeln sie uns an, Platz hätte es genug, unsere Nerven sind strapaziert. Paul schimpft erneut, will nicht zum Lift. Endlich oben, er setzt sich hin, langsam können wir durchatmen.

Das hört sich seltsam an beim Lesen. Kaum verständlich für Leute in der Mitte ihres Lebens, ohne Behinderung. Da läuft alles reibungslos ab. Keine Hindernisse, solche Termine laufen ab ohne Kraftaufwand. Ich denke auch an Behinderte im Rollstuhl oder an Krücken. Da wird alles zu einem Problem.

Silvia begrüßt Paul wie einen guten Freund. Er ist total entspannt, erkennt sie, genießt die Fußbehandlung. Kann auch erstaunlich gut sprechen, wirkt glücklich, obwohl ab und zu ein Aua! zu hören ist. Offensichtlich tut ihm die vertraute Umgebung gut, er war schon etliche Male bei Silvia, die es versteht, seine Hühneraugen zu behandeln, was ihm wirklich Hilfe bringt.

Auf einer Bank warten wir auf den Fahrdienst, mit Blick aufs Bundeshaus. Paul freut sich am Wasserspiel, an den kleinen Kindern, die jauchzend zwischen den Fontänen herumspringen. Ein Hund versucht am Strahl Wasser zu trinken – erschreckt springt er hoch. Es ist kühl geworden, ich schmiege mich an Paul, auch er hat keine Jacke dabei, endlich kommt der Fahrer, winkt uns. Paul ist entspannt, erfreut sich an der Fahrt, gibt wie gewohnt Anweisungen.

Geschafft. Aussteigen, mit Paul zurück in sein Zimmer. Bald verabschiede ich mich. Für den dritten Termin habe ich mich schon fünf Minuten verspätet, Gabi und Anni warten auf mich. Vor dem Vortrag gehen wir in den Tea Room eine Kleinigkeit essen.

Vortrag des Heimarztes über Demenz. Ich bin müde, höre kaum Neues, wir drei Angehörige von dementen Partnern sind schon »Fortgeschrittene« bei diesem Thema. Uns wird bewusst, welch mühevollen Weg wir doch schon zurückgelegt haben, vom Wahrnehmen der Vorzeichen, den herausfordernden Zeiten zuhause, dem qualvollen Entscheid fürs Pflegeheim, nahe am Zusammenbruch.

Das Schlimmste waren die ersten Wochen nach der Trennung, die Besuche im Heim, das sich Gewöhnen, allein zu sein, Vorwürfe zu hören vom Partner, dass wir ihn alleine zurücklassen. Ein langer Weg liegt hinter uns, das Schlimmste kommt noch. Der endgültige Abschied, das kann man nicht einüben, wie viele denken.

Die Qual der Selbstvorwürfe ist immer präsent. Habe ich meinen Partner zu früh ins Heim gebracht? Erst das erneute Auflisten all der Probleme, mit realistischen Augen gesehen, erinnert an die Unmöglichkeit, Tag und Nacht da zu sein. Selbst wenn man sich das von Herzen wünschte, es ist nicht zu bewältigen. Da reicht die treuste Liebe nicht aus, wenn die körperlichen Kräfte versagen. Das sehnsüchtige Wünschen allein genügt nicht.

Der Tag ist gut gelaufen, dennoch. Mein Gebet ist angekommen. Obwohl viele Hindernisse zu bewältigen waren, wurden wir durchgetragen. Mein Gott, ich danke Dir.

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Heimeintritt

Die Betreuung von Menschen mit Demenz ist anspruchsvoll. Wenn es zu Hause nicht mehr geht, lässt sich ein Heimeintritt oft nicht vermeiden. weiterlesen

1. November 2013 – Böses zum Guten wenden?

Pauls Krankheit ist das Böse. Ich sehe überhaupt nichts Gutes daran. Sie zerstört unsere Beziehung, nimmt ihm, uns, den gemeinsamen Lebensabend, beraubt uns der Kommunikation, ist entwürdigend und einfach »merde«. Wie soll daraus Gutes werden? Was kann Positives aus einer solchen scheußlichen Krankheit fließen? Undenkbar.

Da ist die Geschichte von Josef, der nach Ägypten verkauft wurde, ungerecht im Gefängnis landete – doch schließlich endete alles in großem Segen.

Was mich betrifft, hat Gott alles Böse, das ihr geplant habt, zum Guten gewendet. Auf diese Weise wollte er das Leben vieler Menschen retten. (1. Mose 50,20(NLB))

Wenn ich länger über die letzten drei Jahre nachdenke, sehe ich dennoch positive Veränderungen. Im Charakter, in der Lebensweise, im Verhältnis zu Gott und den Menschen. Obwohl ich meistens am Limit meiner Kräfte bin, versiegen meine Tränen immer wieder, ich finde Trost durch Menschen – ein Zeichen, dass ich nicht verlassen bin.

Stets kam Hilfe, wenn ich sie brauchte, wenn auch erst in letzter Minute und wenn ich am Abgrund der Verzweiflung war.

Ich wagte Neues, packte es an und ich bekam auch Hilfe. Sie kam nicht, wenn ich einfach dasaß und darauf hoffte. Sie kam, sobald ich das Neue anpackte.

Doch, ja, es ist auch Gutes geworden. Doch »merde« bleibt. Für Paul sehe ich kaum Gutes in dieser scheußlichen Krankheit. Doch kann ich es beurteilen? Paul hatte immer eine Distanz zu invaliden Menschen. Er machte lieber Umwege um Menschen im Rollstuhl. Die Klinik Waldau war für ihn ein Schreckgespenst, selbst Besuche im Pflegeheim mied er möglichst.

Und nun ist gerade er voller Mitgefühl für den bettlägerigen Philipp, umsorgt ihn freundlich. Oder schiebt draußen einen Bewohner im Rollstuhl. Er selbst lebt nun inmitten von Pflegefällen und geht recht gut mit all den Bewohnern in seiner Wohngruppe um. Ist nicht auch hier »Gutes« verborgen? Was weiß ich, was in seiner Seele abläuft?

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Unruhe

Erregung und Bewegungsdrang können viele Gründe haben. Die gesteigerte Aktivität eines Menschen mit Demenz kann für Angehörige und Pflegepersonal anstrengend sein. Doch es … weiterlesen

Heute, Allerseelen, sollten eigentlich die Gräber geschmückt sein. Da mein Bruder in der Regel spärlich, ja spartanisch schmückt, wollte ich heute hingehen, schauen, wie es aussieht. Kontrolle ist besser als Vertrauen. Dann wurde ich gemahnt, Bauchgefühl. Statt kontrollieren aushalten lernen, auch wenn es nicht nach meinem Kopf geht, nach meinen Vorstellungen. Ihn machen lassen, loslassen lernen.

Was ist wichtiger? Mein Verhältnis zu Bruder und Schwägerin oder der Schmuck auf den Gräbern meiner Eltern? Ich entscheide mich fürs Aushaltenlernen. Selbst wenn im Dorf Unverständnis herrscht über diese spärliche Art der Grabpflege. Man ließ es mich wissen, doch ich kann es stehen lassen. Oder lerne es wenigstens. Ich will die Liebe und den Frieden siegen lassen. Vergeben, loslassen lernen.

12. November 2013 – Auftanken

Ausbrechen aus du sollst, du musst, das darfst du doch nicht. Heute ist mein Ego-Tag! Und den genieße ich in vollen Zügen. Vorläufiges Ziel ist eine Konditorei im Gwatt, dann weiter nach Seftigen, um das Abonnement von Emma zu deponieren.

Hauptsache, ich genieße das Leben, das Jetzt. Das lerne ich zu packen, aber ich lerne auch das Loslassen. Einfach fröhlich in den Tag gehen.

Gümligen, wir fahren am Pflegeheim vorbei, wo Paul nun seit über zwei Jahren wohnt. Tut so weh. Ach, er ist da und doch nicht mehr da. Alles, was uns als Paar ausmachte, was wir waren, ist nicht mehr. Dieser Teil von Paul ist nicht mehr. Ich verarme. Muss mich neu orientieren, neue Kontakte suchen, mein Leben neu gestalten lernen, allein gehen.

Ich muss neue Zuflüsse suchen, die mich auffüllen. Tankstellen, wo ich Nachschub finde für all die Kräfte, die ich verbrauche mit den Besuchen bei Paul. Fünf Mal die Woche gehe ich zu ihm, zwei Tage gönne ich mir allein. Ich möchte wieder einmal überfließende Energie auftanken können, mal wieder satt werden. Möchte dieses Gefühl des Zukurzkommens wegschwemmen, es ertränken! Muss mal versuchen, mir drei Tage frei zu nehmen …

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Thun. Schiffsanlegestelle. Warum nicht mal aufs Schiff? Das Gespräch mit der Psychologin trägt Früchte. Keine Kosten wälzen, nun bin ich mal dran, darf mir auch mal was Schönes gönnen. Ein neues, gutes Gefühl. Ein Wohlfühltag für mich. Trink o Auge was die Wimper hält … (Gottfried Keller).

Endlich Türöffnung. Noch ist ein kleiner Tisch frei. Ich setze mich fröhlich hin, studiere die Menükarte, bestelle ein Glas Rotwein, genieße den Augenblick, auch wenn ich mich einsam fühle. Zum Glück steht der Tisch in einer Ecke.

Dankbarkeit erfüllt mich. Glücklich schaue ich mir die vorbeiziehende Landschaft an, Oberhofen, Merligen, Gunten – überall flechten sich Erinnerungen ein, gute Zeiten noch mit den Eltern, oder mit Paul. Ein wunderbarer Tag, tiefblauer Himmel, es hängen noch farbige Blätter an den Bäumen, schon frisch beschneite Bergspitzen.

Solche Tage helfen, das Leben auch allein zu meistern, Positives erkennen und nicht dem Vergangenen nachzutrauern. Jetzt lebe ich, lebe noch und ich kann lernen, allein unterwegs zu sein. Nicht immer ist es möglich, jemanden zu finden, der mitgeht. Ich schaff das schon. Braves Mädchen! (Fortsetzung folgt …)