12. September 2010 – Apfelbaum
Endlich wieder mal unter dem Apfelbaum. Die Äpfel sind reif. Rotbackig, pausbackig an den untersten Ästen eng gedrängt leuchten sie in der Sonne. Ich krieche unter den Zweigen durch, stelle zum ersten Mal in diesem Jahr mein Liegebett in den Rasen und träume vor mich hin.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Mein Gärtchen ist verwildert und doch hat es Blumen, die von selbst spriessen: Astern, Tagetes und Cosmeen. Im Frühjahr hatte ich bloss Unkraut ausgezupft, die Blumen etwas gelichtet und das weitere der Natur überlassen. Keine Lust zum Jäten, keine Lust hier oben zu sein. Einmal war es viel zu heiss, dann hatte ich keine Energie.
Oh, die Schwalben sind noch da, obwohl in den Alpen vor zwei Wochen der Schnee bis auf 1300 Meter hinunter gefallen ist. Heute an der Sonne ist es zwar warm, aber im Schatten braucht es Jacke und warme Socken.
Bin ich glücklich? Bin ich zufrieden? Ich frag mal nach. Obwohl ich mich nicht um mich selbst drehen will, ist diese Frage dennoch angebracht. Was erfüllt mein Leben? Bin ich dankbar?
Mein Notebook ist mir zum Gesprächspartner geworden, damit ich nicht die Freunde mit meinem vielen Reden totschwatze. Vielmehr will ich mich jeweils öffnen für deren Anliegen, das bereichert wiederum meinen Alltag. Und hilft, von mir selbst wegzusehen.
Ja, ich bin meistens zufrieden. Mein Alltag ist ausgefüllt und gestern Abend im Kreise der Kirchgemeinde konnte ich voll auftanken; es war Erholung, Stärkung, Erfrischung.
Wie hatte ich mich zuvor vor den vielen Menschen gefürchtet, wie bangte ich um die notwendige Kraft fürs Cellospielen. Ich kam mit mehr Kraft nach Hause als ich sie vorher hatte!
Es wird langsam ungemütlich unter dem Apfelbaum. Ein kräftiger, kühler Westwind bläst. Nicht mal ein paar Blumen mag ich schneiden. Was ist mit mir los, ist nicht einmal mehr genug Freude da, um Blumen in der Wohnung aufzustellen?
Heute Morgen gab ich unserer Neuenburger Pendule einen Schubs. «So, hopp hopp, lauf mal wieder! Nach fast einem Jahr Stillstand könntest du dich wieder mal bewegen.» Das Pendel schwang hin und her, hin und her … .
Wie ich vom Garten zurückkomme, staune ich nicht schlecht: Die Uhrzeit stimmt! Die Pendule läuft! Paul strahlt: «Sie läuft wieder, ich habe sie eingestellt, sie läuft!» Ich schmunzle nur. Bin ich nun eine Uhrenflüsterin?
13. September 2010 – Kommunikation
Mittagessen: Paul scheint recht gut drauf zu sein, ich habe wieder einmal die Illusion, ihn wie früher vor mir zu haben. Ich möchte plappern und alles, was mich bewegt, heraussprudeln lassen.
Habe ich eigentlich immer noch nicht begriffen, dass ich das nicht kann und darf, dass ich ihn damit überfordere und ins Leere rede?
«Du hast deine Schwester Ruth schon lange nicht mehr gesehen, wäre das eine Idee, wenn ich dich in Biel bei ihr lasse und inzwischen nach St. Imier fahren würde? Ich könnte dich dann auf dem Heimweg wieder mitnehmen. So hättet ihr doch wieder mal Zeit füreinander.»