Medizinische Entscheidungen am Lebensende - demenzjournal.com

Fortgeschrittene Demenz

Medizinische Entscheidungen am Lebensende

Liegender Mann wird von Hand fürsorglich berührt.

Das Lebensende mit Demenz ist nur begrenzt beeinflussbar. Véronique Hoegger

Anders als bei anderen Krankheiten kann man das Sterben mit Demenz kaum kontrollieren. Der Mensch mit Demenz verändert sich, die Urteilsfähigkeit ist irgendwann nicht mehr gegeben. Welche Überlegungen sollten sich Demenzbetroffene und Angehörige machen?

Von Georg Bosshard

In diesem Beitrag soll das Sterben mit Demenz näher beleuchtet und die Frage gestellt werden, wie wir damit am besten umgehen können.

Wenn die Menschen die Krankheit wählen könnten, die ihr Leben beendet, so würde die Wahl nur selten auf die Demenz fallen. Die meisten Menschen würden eine Krankheit wählen, die zu einem raschen und schmerzlosen Tod führt. Selbst Krebs würde in der Wahl wohl weiter oben stehen, bietet dieser doch die Möglichkeit, den eigenen Abschied bewusst mitzuerleben und möglicherweise mitzugestalten. Eine Demenz dagegen entzieht den Sterbeprozess unserer Kontrolle.

Inhalt

> Palliativmedizin, Spitalaufenthalt und Demenz
> Wie sterben Menschen mit Demenz?
> Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen
> Wie verbindlich ist eine Patientenverfügung?
> Exit und Sterbehilfe bei Demenz
> Demenz und Sterbefasten
> Ist das hohe Alter eine Falle?
> Angst vor Abhängigkeit und Zerfall
> Den anderen nicht zur Last fallen wollen

Palliativmedizin, Spitalaufenthalt und Demenz

Die Palliativmedizin (Palliative Care) als die Betreuung und Behandlung von Menschen mit unheilbarbaren, lebensbedrohlichen und/oder fortschreitenden Krankheiten hat sich über lange Zeit auf Krebspatient:innen konzentriert und in diesem Bereich auch grosse Fortschritte erzielt.

Erst seit einigen Jahren setzt sich die Einsicht durch, dass auch andere Patientengruppen nach den Ansätzen der Palliative Care betreut werden sollten: interprofessionelle medizinische, pflegerische und psychosoziale Betreuung, Gewährleisten einer der Situation angepassten optimalen Lebensqualität, Unterstützung von Bezugspersonen, vernetzte Versorgungsstrukturen.

Tatsächlich fehlen bis heute demenzgerechte Entscheidungspfade noch weitgehend.

Im Spitalbereich erscheint hier der Nachholbedarf sogar noch grösser als im ambulanten Bereich und in den Pflegeheimen. Die oft gehörte Faustregel, dass man fortgeschritten demenzerkrankte Patient:innen nicht mehr hospitalisieren sollte, hat weniger mit den Bedürfnissen von Demenzerkrankten zu tun (sie leiden nicht weniger häufig an spitalbedürftigen Krankheiten als andere) als mit der Erfahrung, dass die Spitalstrukturen für sie derart ungeeignet sind, dass der dadurch angerichtete Schaden oft grösser ist als der Nutzen.

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Die in den letzten Jahren entwickelten akutgeriatrischen Abteilungen in manchen Akutspitälern bieten hier ein gewisses Korrektiv. Allerdings war im Rahmen des Systemwechsels zur Fallkostenpauschale in der Spitalgeriatrie eine Fokussierung auf rehabilitative Massnahmen zu beobachten, weil nur in diesem Bereich der geriatrische Mehraufwand mit einer spezifischen Fallpauschale wirklich adäquat entschädigt wird. Hier muss darauf geachtet werden, dass diese Entwicklung nicht zulasten derjenigen Patient:innen geht, bei denen rehabilitative Massnahmen nicht mehr möglich sind, allen voran bei jenen mit einer fortgeschrittenen Demenz.

So oder so wird auch in Zukunft ein grosser Teil der Palliativmedizin in ambulanten Strukturen und in den Alters- und Pflegeheimen geleistet werden. Das ist für die ärztliche Diagnostik eine Herausforderung, da die verbalen Äusserungen der Patient:innen unzuverlässig sind und Laboruntersuchungen oder bildgebende Verfahren nicht verfügbar oder für die Patient:innen zu belastend sind. Und auch nach erfolgter Diagnostik gehen die Therapieziele nicht so unmittelbar aus der Diagnose hervor wie bei jüngeren, nicht polymorbiden Patient:innen, sondern müssen diskutiert und an die individuelle Situation angepasst werden.

Manchmal ist eine Hospitalisierung nicht zu umgehen, insbesondere wenn Frakturen vorliegen.

Andere Krankheitsbilder wie Infektionen der Luft- oder Harnwege oder phasenweise Verschlechterungen von Herz- oder Lungenerkrankungen könnten ebenso im Pflegeheim behandelt werden. Dies aber nur, wenn geschultes Pflegepersonal, ärztliche Betreuung und eine minimale Infrastruktur vorhanden sind. Hier bleibt noch viel zu tun, um Verbesserungen zu erzielen oder einmal Erreichtes nicht zu gefährden.

Wie sterben Menschen mit Demenz?

Um für Patient:innen im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz eine adäquate Entscheidung treffen zu können, ist die Kenntnis des natürlichen Verlaufs dieser Krankheit zentral. Dieses Wissen kann bei den Angehörigen nicht vorausgesetzt werden, aber auch bei Weitem nicht bei allen Gesundheitsfachpersonen.

Es kommt immer wieder vor, dass fortgeschrittene Demenzstadien nicht als solche erkannt werden.

Das kann dazu führen, dass die schlechte Prognose bei schwerer Demenz nicht in den Behandlungsplan mit einfliesst und somit Massnahmen der Diagnostik und Therapie durchgeführt werden, die keinen Sinn mehr machen. Umgekehrt kann es vorkommen, dass zum Beispiel ein schweres Delir vorschnell als fortgeschrittene Demenz eingeordnet wird, womit die Prognose zu pessimistisch ausfällt und auf sinnvolle Massnahmen von vorneherein verzichtet wird.

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Im Stadium einer fortgeschrittenen Demenz haben fast alle Betroffenen in irgendeiner Form Probleme mit der Ernährung, und es kommt mit zunehmender Häufigkeit zu Infektionen. Die Komplikationen führen zum Tod und können durch medizinische Massnahmen wie Antibiotika allenfalls hinausgezögert, nicht aber verhindert werden. Studien zeigen, dass ab dem Stadium, in dem nur noch eine minimale verbale Kommunikation möglich ist und eine vollständige Pflegebedürftigkeit besteht, ein Viertel der Patient:innen in den folgenden sechs Monaten und die Hälfte im folgenden Jahr versterben.

Die fortgeschrittene Demenz ist somit eine klassische Palliativsituation, und in diesem Kontext sollten medizinische Entscheidungen getroffen werden.

Das bedeutet vor allem, dass individuell entschieden werden muss und nicht nur auf einen allgemeingültigen medizinischen Algorithmus zurückgegriffen werden kann. Dem (mutmasslichen) Willen der Patient:innen und ihrer Lebensqualität kommt hier eine entscheidende Bedeutung zu.

Dabei muss die Beurteilung der Lebensqualität aus der subjektiven Sicht des Betroffenen erfolgen. Aussenstehende fokussieren oftmals zu stark auf die eingeschränkten äusseren Lebensbedingungen, auf ihre eingeschränkte Mobilität und Abhängigkeit von fremder Hilfe. Dabei wird die Anpassungsfähigkeit an Zustände zunehmender Abhängigkeit und die Fähigkeit, trotz dieser Einbussen eine bejahende Lebenseinstellung aufrechtzuerhalten, stark unterschätzt.

Es ist aber auch eine Tatsache, dass die letzte Lebensphase von Demenzpatient:innen oft von zahlreichen Leid verursachenden Symptomen belastet ist. In einer Studie der Zürcher Hochschule Winterthur fand sich bei Demenzpatient:innen in den letzten drei Lebensmonaten ein wiederholtes Auftreten der folgenden Symptome: Probleme mit der Mobilisation (81 %), Schmerzen (71 %), Schlafprobleme (63 %), Verhaltensstörungen (62 %), Ernährungsprobleme (62 %), Unruhe (39 %), Atemprobleme (29 %), Apathie (25 %); Ängstlichkeit (22 %), depressive Symptome (14 %).

Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz kann es zu schweren, teils über Monate oder gar Jahre anhaltenden Verhaltensstörungen kommen (Aggression, Schreien etc.), die therapeutisch schwer angegangen werden können und für die Angehörigen sehr belastend sind.

Eine zu positive Sichtweise oder gar Idealisierung des hohen Alters und der Demenz im Speziellen ist ebenso wenig angebracht wie eine zu negative.

Deshalb ist es gut nachvollziehbar und keinesfalls irrational, wenn manche Menschen, gerade auch solche, die aus ihrem Umfeld konkrete Erfahrungen mit dem ganzen Verlauf einer Demenzerkrankung gemacht haben, für sich selber einen solchen Zustand vermeiden oder abkürzen möchten.

Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen

Vor dem genannten Hintergrund ist der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen im Zustand einer fortgeschrittenen Demenz ein häufiges Thema. Manche sehen in einem solchen Verzicht ein Zulassen des natürlichen Sterbeprozesses, und in vielen Situationen ist dem tatsächlich zuzustimmen. Das gilt insbesondere dann, wenn das Endstadium der Demenz erreicht ist, bei dem solche Komplikationen fast regelhaft auftreten.

Der Verzicht beispielsweise auf die antibiotische Behandlung einer Lungenentzündung und die Beschränkung auf rein palliative Massnahmen ist dann richtig, wenn dies dem mutmasslichen Willen der Patientin entspricht. Tatsächlich würde die antibiotische Behandlung möglicherweise an der Prognose gar nicht so viel ändern. Denn nicht selten versterben solche Patient:innen, bedingt durch das Spätstadium der Krankheit, trotz antibiotischer Therapie. Umgekehrt kommt es auch immer wieder vor, dass bei Verzicht auf eine Antibiotikatherapie die Lungenentzündung dennoch überlebt wird – die Medizin lässt sich eben in kein Schema pressen.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Etwas anders präsentiert sich die Situation, wenn ein Patient noch nicht das Endstadium der Demenz erreicht hat, aber zusätzlich an verschiedenen anderen Krankheiten leidet. Dann kann eine dieser anderen Krankheiten zu einer lebensbedrohlichen Situation führen (z. B. bei einem Herzinfarkt), und die Demenz ist dann der ausschlaggebende Faktor, um auf eine Hospitalisierung zu verzichten.

Auch das sind oft nachvollziehbare Verzichtsentscheidungen, wenn sie dem mutmasslichen Willen entsprechen. Allerdings sind hier die möglichen Situationen sehr vielfältig, und gelegentlich verlangt nur schon die Diagnostik eine Hospitalisierung, womit dann gelegentlich eine Kaskade von Massnahmen ausgelöst wird, die man sich möglicherweise im Nachhinein, nach Kenntnis der verursachenden Diagnose, so nicht gewünscht hätte.

Oft vergessen wird aber in dieser Diskussion, dass die Demenz ohne das Vorliegen zusätzlicher schwerer Krankheiten über Jahre ohne medizinische Komplikationen verläuft, sodass sich hier die Möglichkeit eines Verzichts auf lebensverlängernde Massnahmen gar nicht erst ergibt.

Wie verbindlich ist eine Patientenverfügung?

Die Demenz kann als eine typische Situation betrachtet werden, in der es empfehlenswert ist, rechtzeitig eine Patientenverfügung zu verfassen. Denn im fortgeschrittenen Demenzstadium kommt es fast sicher zur Urteilsunfähigkeit, sodass auf Patientenverfügungen und Stellvertreterentscheidungen zurückgegriffen werden muss. Auch erfüllt die Krankheit fast exemplarisch eine der oft in den Verfügungen genannten Bedingungen, um den Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen einzufordern, nämlich den irreversiblen Verlust der geistigen Fähigkeiten.

Dennoch ist die Bedeutung einer Verfügung in der konkreten Situation bei fortgeschrittener Demenz bei Weitem nicht so klar, wie man denken könnte.

So betont zwar die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in ihren Richtlinien zur Patientenverfügung mehrfach deren Verbindlichkeit. In den gleichen Richtlinien wird aber diese Verbindlichkeit im Kontext der fortgeschrittenen Demenz mit folgender Formulierung relativiert:

Wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Patientenverfügung nicht mehr dem Willen des Patienten entspricht, müssen diese unter Einbezug der Vertretungspersonen und Angehörigen sorgfältig abgeklärt werden […]. Insbesondere bei Patienten mit Demenz können ernsthafte Zweifel aufkommen, ob der in der Patientenverfügung geäußerte Wille dem mutmasslichen Willen entspricht.

Persönlich halte ich aus eigener Erfahrung als Arzt diese Formulierung für richtig und wichtig, weil sich über den meist jahrelangen Verlauf einer Demenz die Situation tatsächlich ändern kann. Ich kann aber gut nachvollziehen, wenn diese Haltung als eine nicht akzeptable Aufweichung des Grundgedankens einer Patientenverfügung, den eigenen Willen voraus verfügen zu können, abgelehnt wird.

So sind denn gelegentlich in den Patientenverfügungen der letzten Jahre Formulierungen wie die folgende aufgetaucht – man könnte quasi von «scharfen» Patientenverfügungen sprechen:

Sollte der behandelnde Arzt, die betreuende Pflegekraft oder das Behandlungsteam aufgrund meiner Gesten, Blicke oder Äusserungen die Auffassung vertreten, dass ich entgegen den Festlegungen dieser Patientenverfügung doch behandelt oder nicht behandelt werden möchte […] so wünsche ich nicht, dass mir in der konkreten Anwendungssituation eine Änderung meines Willens unterstellt wird, es sei denn, mein Patientenvertreter erkläre ausdrücklich und unmissverständlich, dass ich meinen Willen geändert habe.

Zum Glück kommt es aber selten so weit, sondern es können fast immer Entscheidungen gefunden werden, die von allen Involvierten mitgetragen werden können.

demenzwiki

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Exit und Sterbehilfe bei Demenz

Die Schweiz gehört weltweit zu den wenigen Ländern, in denen die Beihilfe zum Suizid erlaubt ist und offen praktiziert wird. Die Suizidbeihilfe in frühen Stadien einer Demenz wird dabei als zulässig erachtet, solange die Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Person erhalten ist.

Allerdings wird in solchen Situationen eine ärztliche Zweitmeinung und ein fachärztliches Gutachten von einem Geriater, einer Neurologin oder einem Psychiater verlangt. Selbstverständlich ist aber ab einem gewissen Punkt der Demenzerkrankung die Urteilsfähigkeit nicht mehr gegeben, sodass auch in der Schweiz keine Suizidbeihilfe mehr möglich ist.

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Das bedeutet, dass ab einem gewissen Zeitpunkt lediglich passive Sterbehilfe, also der Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen im Fall einer medizinischen Komplikation durch die Demenz selber oder aber durch eine internistische Begleiterkrankung, infrage kommen.

Im Gegensatz zur Schweiz ist in den Beneluxländern nicht nur die Beihilfe zum Suizid, sondern auch die aktive Sterbehilfe auf Verlangen (Euthanasie) erlaubt. Auch die Euthanasie bei fortgeschrittener Demenz rein basierend auf einer Patientenverfügung ist grundsätzlich legal. Bemerkenswerterweise wird diese allerdings nur selten praktiziert:

Eine Analyse von 75 Fällen von Euthanasie von Menschen mit Demenz in den Niederlanden ergab, dass die Euthanasie nur in 16 dieser Fälle rein basierend auf einer Patientenverfügung vorgenommen worden war. In den anderen 59 Fälle wurde die Sterbehilfe primär mit einem zum aktuellen Zeitpunkt geäusserten Sterbewunsch begründet. Allerdings zeigte eine vertiefte Analyse dieser 59 Fälle, dass die Urteilsfähigkeit in neun Fällen von mindestens einem involvierten Arzt Zweifel gezogen worden war, und dass in 14 Fällen die Körpersprache oder früher geäusserte Sterbewünsche zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit herangezogen worden waren. Diese Befunde weisen darauf hin, dass die Trennung zwischen aktuellem Sterbewunsch und Sterbewunsch basierend auf einer Patientenverfügung in der Realität keineswegs immer klar ist.

> Hier erfahren Sie mehr zur Sterbehilfe

Demenz und Sterbefasten

In den letzten Jahren hat das Sterbefasten in der Öffentlichkeit immer mehr Aufmerksamkeit gewonnen. Dabei handelt es sich um eine mit dem Suizid verwandte Entscheidung, das eigene Leben vorzeitig zu beenden, indem freiwillig und bewusst auf die Einnahme von Nahrung und Flüssigkeit verzichtet wird.

Das Sterbefasten verlangt aktuelle Urteilsfähigkeit, ja sogar einen starken und konstanten Willen, um diese Entscheidung gegebenenfalls über einen Zeitraum von mehreren Wochen bis zum Schluss durchziehen zu können. Weil aber das Sterbefasten zwingend an eine aktuelle Urteilsfähigkeit gekoppelt ist, kann dieses analog zur Beihilfe zum Suizid nicht in einer Patientenverfügung eingefordert werden. Es ist also nicht möglich, in einer Patientenverfügung zu verlangen, dass einem im Zustand einer fortgeschrittenen Demenz keine Nahrung und Flüssigkeit mehr angeboten werden solle.

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Dies hat auch die Schweizerische Nationale Ethikkommission 2011 in einer entsprechenden Stellungnahme zum Thema Patientenverfügung und Demenz festgehalten:

Nach Ansicht der Kommission ist es unstrittig, dass es Bereiche gibt, über die man in einer Patientenverfügung nicht verbindlich verfügen darf. So darf man z. B. weder strafbare Handlungen einfordern noch nicht indizierte, medizinisch therapeutische oder pflegerische Massnahmen beanspruchen, noch Massnahmen ablehnen, die eine schwere Verwahrlosung der Person oder unerträgliche Schmerzen verhindern sollen. (…) Generell gilt, dass invasive Massnahmen, die die körperliche oder psychische Integrität verletzen, immer abgelehnt werden dürfen.

Daraus ergeben sich für die Ethikkommission zwei Konsequenzen:

  • «Ein Angebot von patientengewohnter Nahrung, Körperpflege, Bewegung und Beschäftigung ist stets zu erbringen. Eine Patientenverfügung darf nicht verfügen, dies zu unterlassen.»
  • «Massnahmen für die ‹Aktivitäten des täglichen Lebens› dürfen jedoch nicht mit Zwang durchgesetzt werden. Ein Mensch mit Demenz hat immer noch das Recht, beispielsweise Nahrung zu verweigern. Es ist jedoch zu prüfen, ob organische Ursachen oder irrationale Ängste für das Patientenverhalten vorliegen, die dann zunächst behoben werden müssen.»

Das Sterbefasten ist generell selten und darf nicht mit dem viel häufigeren Vorkommen einer verminderten Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme bei allgemeinem Versiegen der Lebenskräfte verwechselt werden.

Auch die Demenz führt typischerweise in weit fortgeschrittenen Stadien zu einem solchen Zustand. Viele Patient:innen reagieren beim Angebot von Nahrung und Flüssigkeit immer häufiger desinteressiert oder aktiv ablehnend.

Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden diesen Patient:innen Magensonden gelegt, typischerweise PEG-Sonden, die direkt durch die Bauchdecke zum Magen führen. Heute hat man hier zum Glück dazugelernt. Die SAMW hält fest:

Die Anlage einer PEG-Sonde ist bei einer fortgeschrittenen Demenz generell nicht sinnvoll. Studien zeigen, dass in diesem Stadium der Demenz die Überlebenszeit des Patienten nicht verbessert werden kann. Dagegen kommt es nicht selten zu Nebenwirkungen und Komplikationen (z. B. Aufstoßen der zugeführten Nahrung, Gestörtsein durch die Sonde mit damit einhergehenden Angst- und Unruhezuständen, erhöhtes Dekubitusrisiko), die die Lebensqualität der Patientin schwer beeinträchtigen können.

Ist das hohe Alter eine Falle?

Oft ist es nicht möglich, langwierige Demenzverläufe zu vermeiden. Der niederländische Arzt und Philosoph Bert Keizer hat über viele Jahre schwer kranke und sterbende Patient:innen betreut. Er schreibt:

Das Grausame am Alter und besonders am hohen Alter ist, dass es eine Falle ist, in die man unbemerkt reinspaziert. Wenn man sich umdrehen will, um ihr zu entfliehen, ist sie längst zugeschnappt. Die Frage, wann man sein Leben beenden muss, um nicht in die Falle zu geraten, kann niemand beantworten. Muss man sein Leben zum Beispiel zehn Minuten bevor einen die verstümmelnde Hirnblutung ereilt, beenden, oder ein Jahr, bevor man so dement ist, dass man nicht mehr weiss, was man beenden will? Kurzum, man kann den richtigen Moment erst feststellen, wenn es zu spät ist.
(Keizer: Das ist das Letzte! Erfahrungen eines Arztes mit Sterben und Tod, 1997)

Keizer schildert auch, wie er stets damit konfrontiert wird, dass beim Eintritt ins Heim von den Angehörigen in vorwurfsvollem Ton geäussert wird, dass ihre Mutter oder ihr Onkel nie in ein Pflegeheim gewollt hätte. In dem für ihn typisch unsentimentalen sarkastischen Stil schreibt er:

Ich ärgere mich immer wieder über den Ton, in dem die Leute das sagen. Was sie meinen, ist: So ein armer Teufel ist mein Onkel nämlich nicht. Dazu passt dann ein mitleidiges Lächeln in Richtung der anderen 36’000 Pflegeheimpatienten, die es so weit haben kommen lassen.

Auch Keizer betont also die faktische Unvermeidbarkeit von Abhängigkeit und Zerfall am Lebensende in manchen Fällen, gerade im hohen Alter. Und er kritisiert die Haltung mancher Menschen, dass das Pflegeheim eigentlich vermeidbar sein müsste, wenn man es nur richtig anstellt.

Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass diese Haltung nicht selten ist. Sie geht oft einher mit einer gewissen Missbilligung gegenüber Pflegeheimbewohnenden und nicht selten auch gegenüber den Mitarbeitenden in den Heimen. Hinter dieser Haltung steht meines Erachtens eine abgewehrte Angst. Ich glaube, in einer solchen Situation lohnt es sich, vertieft darüber nachzudenken, was genau denn am Endverlauf einer Demenz so angsterregend ist.

Angst vor Abhängigkeit und Zerfall

Krebspatient:innen am Lebensende fürchten sich am meisten vor unkontrollierbaren Schmerzen und Symptomen wie Atemnot. Beim Blick auf den Endverlauf einer Demenz stehen meist ganz andere Befürchtungen im Vordergrund. Eine davon ist die Angst vor Abhängigkeit.

Tatsächlich nehmen mit dem Fortschreiten einer Demenz die Abhängigkeit von fremder Hilfe und schliesslich die Pflegebedürftigkeit rasch zu.

Gerade Menschen, die es gewohnt waren, ein weitgehend unabhängiges Leben zu führen, haben mit einer solchen Vorstellung oft grösste Mühe. Das ist verständlich. Manchmal wird dabei aber übersehen, was die Notwendigkeit, Hilfe von anderen Menschen anzunehmen, an positiven Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen haben kann.

Im günstigen Falle kann eine Demenzerkrankung in einer Familie Entwicklungen in Gang setzen, die anders nicht möglich gewesen wären. Eine Tochter einer fortgeschritten dementen Patientin erwähnte mir gegenüber einmal:

Meine Mutter musste immer sehr hart arbeiten, um durchzukommen. Das hat sie geprägt. Erst in den letzten Jahren im Pflegeheim hat sie ihre weiche Seite nach außen gekehrt, und ich habe mit ihr noch eine Form der Beziehung erleben dürfen, die früher so nie möglich gewesen wäre.

Eine weitere Angst betrifft den Verlust der Persönlichkeit. Hierbei geht es nicht so sehr um die zu erwartende eigene Lebensqualität. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage: Welche Erinnerung werde ich meinen Angehörigen hinterlassen, wenn ich in meiner letzten Lebensphase gar nicht mehr diejenige Persönlichkeit zeigen sollte, die ich jetzt bin und mit der ich mich identifiziere? Auch diese Befürchtung ist verständlich, denn tatsächlich ist eine demenzielle Entwicklung fast immer mit einer Wesensveränderung verbunden.

Ich will solche Entwicklungen nicht beschönigen. Dennoch denke ich, dass die Betrachtungsweise eines Verlusts der Persönlichkeit grundsätzlich falsch ist.

Was vorliegt, ist vielmehr eine Veränderung der Persönlichkeit. Diese ist aber nicht zwangsläufig negativ. Vielmehr kann die Krankheit auch positive Seiten der Persönlichkeit freilegen, die bisher verschüttet waren, wie Herzlichkeit, Humor oder Ausgelassenheit. Ein Sohn eines Patienten:

Mein Vater war früher ein eher gehemmter, ja verklemmter Mensch. Die Demenz hat ihn grundlegend verändert. In letzter Zeit habe ich ihn erstmals in meinem Leben gelöst und herzlich erlebt. Ich glaube tatsächlich, dass er im Moment eine der besten Zeiten seines Lebens hat.

Den anderen nicht zur Last fallen wollen

Seinen Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen ist ein weiteres Motiv, das bei medizinischen Entscheidungen am Lebensende von Demenzbetroffenen oftmals eine Rolle spielt. Dabei kann es bei der empfundenen «Last» um die Pflegebedürftigkeit als solche oder durchaus auch ganz konkret um Finanzielles gehen. Das spielt gerade in der Schweiz, wo Langzeitpflege stärker aus privaten Taschen finanziert wird als in jedem anderen europäischen Land, eine ganz erhebliche Rolle.

Dieses Motiv ist in hohem Masse tabuisiert, und entsprechend selten kommt es zur Sprache.

Am ehesten noch wagen es Familien, in denen ein hoher Zusammenhalt und eine positive zwischenmenschliche Dynamik herrschen, das sonst Tabuisierte doch anzusprechen. Auch in der ethischen Diskussion gilt dieses Motiv gemeinhin als problematisch, nicht selten wird es als Ausdruck davon gesehen, dass die betroffene Person von ihrer Umgebung Signale erhalte, dass man sie eigentlich gerne loswerden möchte.

Patient liegt im Bett.

Begleitung am Lebensende

Umgang mit moralischem Stress

Die Vielfalt der individuellen Vorstellungen, was gutes Sterben ausmacht sowie die Konfrontation mit realen Sterbesituationen sind für Pflegende eine Belastung. Die Ethikkommission des SBK … weiterlesen

Demgegenüber hat die bekannte britische Philosophin Mary Warnock unter dem provokanten Titel «A duty to die?» («Die Verpflichtung zu sterben?») ein ebenso eindrückliches wie hoch umstrittenes Plädoyer dafür formuliert, den anderen nicht zur Last fallen zu wollen, als gültiges Motiv für Sterbehilfe zu akzeptieren.

Warnock verweist dabei auf die Bedeutung des biografischen Lebens gegenüber der rein biologischen Lebenszeit:

Es ist das biografische, nicht bloß das biologische Leben, worauf es ankommt. Es kann im besten Interesse eines Menschen sein, ihm zu erlauben, sein biografisches Leben in einer Art zu Ende zu führen, die konsistent ist mit seinen Werten. (…) Für jemanden, der im ganzen Leben bei seinen Entscheidungen immer auch das Wohlergehen der Familie und der weiteren Gemeinschaft im Auge hatte (…) für so jemanden ist es die Verneinung des Grundtenors seines ganzen Lebens, wenn man ihn am Lebensende daran hindern will, die Interessen der anderen vor die eigenen zu stellen.
(Warnock, A Duty to Die; übersetzt durch den Autor)

Ich teile grundsätzlich Warnocks Ansicht, dass den anderen nicht zur Last fallen zu wollen ein respektables Motiv für Entscheidungen am Lebensende inklusive Behandlungsverzicht und Suizidbeihilfe sein kann. In der Realität stellt sich allerdings die Frage, wie viele Menschen ein so hohes Mass an innerer Freiheit erreicht haben, wie es Mary Warnock offenbar voraussetzt.


Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen bei rüffer & rub. Wir danken dem Verlag für die Gelegenheit zur Veröffentlichung auf unserer Plattform.
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