Dies hat auch die Schweizerische Nationale Ethikkommission 2011 in einer entsprechenden Stellungnahme zum Thema Patientenverfügung und Demenz festgehalten:
Nach Ansicht der Kommission ist es unstrittig, dass es Bereiche gibt, über die man in einer Patientenverfügung nicht verbindlich verfügen darf. So darf man z. B. weder strafbare Handlungen einfordern noch nicht indizierte, medizinisch therapeutische oder pflegerische Massnahmen beanspruchen, noch Massnahmen ablehnen, die eine schwere Verwahrlosung der Person oder unerträgliche Schmerzen verhindern sollen. (…) Generell gilt, dass invasive Massnahmen, die die körperliche oder psychische Integrität verletzen, immer abgelehnt werden dürfen.
Daraus ergeben sich für die Ethikkommission zwei Konsequenzen:
- «Ein Angebot von patientengewohnter Nahrung, Körperpflege, Bewegung und Beschäftigung ist stets zu erbringen. Eine Patientenverfügung darf nicht verfügen, dies zu unterlassen.»
- «Massnahmen für die ‹Aktivitäten des täglichen Lebens› dürfen jedoch nicht mit Zwang durchgesetzt werden. Ein Mensch mit Demenz hat immer noch das Recht, beispielsweise Nahrung zu verweigern. Es ist jedoch zu prüfen, ob organische Ursachen oder irrationale Ängste für das Patientenverhalten vorliegen, die dann zunächst behoben werden müssen.»
Das Sterbefasten ist generell selten und darf nicht mit dem viel häufigeren Vorkommen einer verminderten Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme bei allgemeinem Versiegen der Lebenskräfte verwechselt werden.
Auch die Demenz führt typischerweise in weit fortgeschrittenen Stadien zu einem solchen Zustand. Viele Patient:innen reagieren beim Angebot von Nahrung und Flüssigkeit immer häufiger desinteressiert oder aktiv ablehnend.
Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden diesen Patient:innen Magensonden gelegt, typischerweise PEG-Sonden, die direkt durch die Bauchdecke zum Magen führen. Heute hat man hier zum Glück dazugelernt. Die SAMW hält fest:
Die Anlage einer PEG-Sonde ist bei einer fortgeschrittenen Demenz generell nicht sinnvoll. Studien zeigen, dass in diesem Stadium der Demenz die Überlebenszeit des Patienten nicht verbessert werden kann. Dagegen kommt es nicht selten zu Nebenwirkungen und Komplikationen (z. B. Aufstoßen der zugeführten Nahrung, Gestörtsein durch die Sonde mit damit einhergehenden Angst- und Unruhezuständen, erhöhtes Dekubitusrisiko), die die Lebensqualität der Patientin schwer beeinträchtigen können.
Ist das hohe Alter eine Falle?
Oft ist es nicht möglich, langwierige Demenzverläufe zu vermeiden. Der niederländische Arzt und Philosoph Bert Keizer hat über viele Jahre schwer kranke und sterbende Patient:innen betreut. Er schreibt:
Das Grausame am Alter und besonders am hohen Alter ist, dass es eine Falle ist, in die man unbemerkt reinspaziert. Wenn man sich umdrehen will, um ihr zu entfliehen, ist sie längst zugeschnappt. Die Frage, wann man sein Leben beenden muss, um nicht in die Falle zu geraten, kann niemand beantworten. Muss man sein Leben zum Beispiel zehn Minuten bevor einen die verstümmelnde Hirnblutung ereilt, beenden, oder ein Jahr, bevor man so dement ist, dass man nicht mehr weiss, was man beenden will? Kurzum, man kann den richtigen Moment erst feststellen, wenn es zu spät ist.
(Keizer: Das ist das Letzte! Erfahrungen eines Arztes mit Sterben und Tod, 1997)
Keizer schildert auch, wie er stets damit konfrontiert wird, dass beim Eintritt ins Heim von den Angehörigen in vorwurfsvollem Ton geäussert wird, dass ihre Mutter oder ihr Onkel nie in ein Pflegeheim gewollt hätte. In dem für ihn typisch unsentimentalen sarkastischen Stil schreibt er:
Ich ärgere mich immer wieder über den Ton, in dem die Leute das sagen. Was sie meinen, ist: So ein armer Teufel ist mein Onkel nämlich nicht. Dazu passt dann ein mitleidiges Lächeln in Richtung der anderen 36’000 Pflegeheimpatienten, die es so weit haben kommen lassen.
Auch Keizer betont also die faktische Unvermeidbarkeit von Abhängigkeit und Zerfall am Lebensende in manchen Fällen, gerade im hohen Alter. Und er kritisiert die Haltung mancher Menschen, dass das Pflegeheim eigentlich vermeidbar sein müsste, wenn man es nur richtig anstellt.
Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass diese Haltung nicht selten ist. Sie geht oft einher mit einer gewissen Missbilligung gegenüber Pflegeheimbewohnenden und nicht selten auch gegenüber den Mitarbeitenden in den Heimen. Hinter dieser Haltung steht meines Erachtens eine abgewehrte Angst. Ich glaube, in einer solchen Situation lohnt es sich, vertieft darüber nachzudenken, was genau denn am Endverlauf einer Demenz so angsterregend ist.
Angst vor Abhängigkeit und Zerfall
Krebspatient:innen am Lebensende fürchten sich am meisten vor unkontrollierbaren Schmerzen und Symptomen wie Atemnot. Beim Blick auf den Endverlauf einer Demenz stehen meist ganz andere Befürchtungen im Vordergrund. Eine davon ist die Angst vor Abhängigkeit.
Tatsächlich nehmen mit dem Fortschreiten einer Demenz die Abhängigkeit von fremder Hilfe und schliesslich die Pflegebedürftigkeit rasch zu.
Gerade Menschen, die es gewohnt waren, ein weitgehend unabhängiges Leben zu führen, haben mit einer solchen Vorstellung oft grösste Mühe. Das ist verständlich. Manchmal wird dabei aber übersehen, was die Notwendigkeit, Hilfe von anderen Menschen anzunehmen, an positiven Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen haben kann.
Im günstigen Falle kann eine Demenzerkrankung in einer Familie Entwicklungen in Gang setzen, die anders nicht möglich gewesen wären. Eine Tochter einer fortgeschritten dementen Patientin erwähnte mir gegenüber einmal:
Meine Mutter musste immer sehr hart arbeiten, um durchzukommen. Das hat sie geprägt. Erst in den letzten Jahren im Pflegeheim hat sie ihre weiche Seite nach außen gekehrt, und ich habe mit ihr noch eine Form der Beziehung erleben dürfen, die früher so nie möglich gewesen wäre.
Eine weitere Angst betrifft den Verlust der Persönlichkeit. Hierbei geht es nicht so sehr um die zu erwartende eigene Lebensqualität. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage: Welche Erinnerung werde ich meinen Angehörigen hinterlassen, wenn ich in meiner letzten Lebensphase gar nicht mehr diejenige Persönlichkeit zeigen sollte, die ich jetzt bin und mit der ich mich identifiziere? Auch diese Befürchtung ist verständlich, denn tatsächlich ist eine demenzielle Entwicklung fast immer mit einer Wesensveränderung verbunden.
Ich will solche Entwicklungen nicht beschönigen. Dennoch denke ich, dass die Betrachtungsweise eines Verlusts der Persönlichkeit grundsätzlich falsch ist.
Was vorliegt, ist vielmehr eine Veränderung der Persönlichkeit. Diese ist aber nicht zwangsläufig negativ. Vielmehr kann die Krankheit auch positive Seiten der Persönlichkeit freilegen, die bisher verschüttet waren, wie Herzlichkeit, Humor oder Ausgelassenheit. Ein Sohn eines Patienten:
Mein Vater war früher ein eher gehemmter, ja verklemmter Mensch. Die Demenz hat ihn grundlegend verändert. In letzter Zeit habe ich ihn erstmals in meinem Leben gelöst und herzlich erlebt. Ich glaube tatsächlich, dass er im Moment eine der besten Zeiten seines Lebens hat.
Den anderen nicht zur Last fallen wollen
Seinen Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen ist ein weiteres Motiv, das bei medizinischen Entscheidungen am Lebensende von Demenzbetroffenen oftmals eine Rolle spielt. Dabei kann es bei der empfundenen «Last» um die Pflegebedürftigkeit als solche oder durchaus auch ganz konkret um Finanzielles gehen. Das spielt gerade in der Schweiz, wo Langzeitpflege stärker aus privaten Taschen finanziert wird als in jedem anderen europäischen Land, eine ganz erhebliche Rolle.
Dieses Motiv ist in hohem Masse tabuisiert, und entsprechend selten kommt es zur Sprache.
Am ehesten noch wagen es Familien, in denen ein hoher Zusammenhalt und eine positive zwischenmenschliche Dynamik herrschen, das sonst Tabuisierte doch anzusprechen. Auch in der ethischen Diskussion gilt dieses Motiv gemeinhin als problematisch, nicht selten wird es als Ausdruck davon gesehen, dass die betroffene Person von ihrer Umgebung Signale erhalte, dass man sie eigentlich gerne loswerden möchte.