Kleine Menschen mit (zu) grossen Aufgaben - demenzjournal.com
chatbot

Young Carers

Kleine Menschen mit (zu) grossen Aufgaben

Wenn Jugendliche mit der Pflege überfordert sind, ziehen sie sich oft zurück und haben kaum mehr Kontakt zu Gleichaltrigen. Bild PD

In jeder Schulklasse gibt es ein bis zwei Kinder oder Jugendliche, die zu Hause für ein krankes Familienmitglied sorgen. In einem schwierigen Umfeld werden diese jungen Helfer schnell überfordert.

Die 50-jährige Regula* hat ihre Stelle verloren, weil sie nicht mehr zuverlässig arbeitete. Ihre Demenz schreitet rasch voran, die kleine Familie – Regula hat eine Tochter und ist alleinerziehend – gerät in soziale und finanzielle Not.

Regula geht kaum mehr aus dem Haus und trinkt viel. Die Angehörigen, die untereinander zerstritten sind, haben der Tochter Anna gesagt, es sei kein Geld für Pflege da, sie müsse ihrer Mutter helfen.

Jetzt pflegt, wäscht und kocht die zwölfjährige Anna.

Ihre Leistungen in der Schule sind schlecht. Sie hat kaum mehr Kontakt zu Gleichaltrigen und traut sich nicht, mit Aussenstehenden über ihre Not zu sprechen.

Erst seit wenigen Jahren auf dem Radar

Anna ist nicht allein. Sie gehört zu einer Gruppe von Jugendlichen und Kindern, von denen man bei uns bis vor Kurzem nicht viel mehr wusste, als dass es sie gibt. Erst seit wenigen Jahren ist das Thema der sogenannten Young Carers im deutschsprachigen Raum auf dem Radar von Forschern und Fachleuten.

Forschungen der Careum Hochschule in Zürich ergaben überraschende Resultate: In der Schweiz pflegen fast 8 Prozent aller 10- bis 15-Jährigen zu Hause ein krankes Familienmitglied. Das sind 51 000 Kinder und Jugendliche. Meist sorgen diese jungen Menschen für einen Elternteil, manchmal auch für Grosseltern oder Geschwister.

Eine Untersuchung im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen ergab einen Anteil von 6,1 Prozent Young Carers. Das heisst: Es gibt in jeder Schulklasse ein bis zwei pflegende Kinder/Jugendliche.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

Jetzt spenden

Dass sich junge Menschen um Kranke kümmern, muss nicht schlecht sein. Da ist zum Beispiel der 15-jährige Jan, der in seiner Freizeit oft seinen an Trisomie 21 erkrankten Bruder betreut und unterstützt. Er macht das gerne und tauscht sich mit seinen Eltern und seinem weiteren Umfeld darüber aus.

Ähnliches gilt für die 14-jährige Jasmin, die für ihre an MS erkrankte Mutter sorgt. Auch sie reflektiert ihre Rolle und sagt ihren Mitmenschen, wenn sie das Pflegen, Kochen, Einkaufen und Waschen überlasten oder wenn sie negative Gefühle hat. In solchen Zeiten bekommt sie mehr Unterstützung von ihrer Grossmutter oder ihrem Vater.

Kind und Mutter in einem

Weniger positiv hat die heute erwachsene Esther ihre Rolle als Young Carer erlebt: Sie pflegte ihre an Hepatitis erkrankte, depressive und trinkende Mutter. Dazu sorgte sie für ihre jüngere Schwester und pflegte den krebskranken, von der Mutter geschiedenen Vater.

Erst nach dem Tod ihres Vaters erkannte sie, dass sie Unterstützung brauchte. Die war nicht einfach zu bekommen: Als Esther eine psychiatrische Klinik um Hilfe bat, sagte man ihr, sie solle einfach die Polizei rufen, wenn es mit der Mutter nicht mehr gehe.

Es fällt vielen Young Carers schwer, Unterstützung und Hilfe anzufordern. Einerseits finden es viele normal und verpflichtend, ihren Eltern beizustehen. Andererseits fürchten sie sich davor, ihre Familie «zu verraten». Aussenstehende (Mitglieder der erweiterten Familie oder Behörden) könnten die Familie auseinanderreissen. Zudem fehlen geeignete niederschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote.

Ein sechsjähriges Mädchen, das der kranken Mutter eine Salbe bringt, erlebt sich als nützlich. Wenn aber dieses Mädchen der am Boden liegenden Mutter ein überlebenswichtiges Medikament geben muss, wird die Nützlichkeit zur Überforderung.

Die chronische Erkrankung eines Elternteils ist auch für ein Kind ohne pflegerische Verantwortung eine Belastung.

Wenn das Kind auch noch hauptverantwortlich ist für das Wohlbefinden und Überleben des Elternteils, ist dies traumatisierend. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich solche Kinder und Jugendliche psychisch ungünstig entwickeln. Ungünstig ist auch, wenn ein krankes Geschwister oder ein kranker Elternteil die ganze Aufmerksamkeit der restlichen Familie auf sich zieht.

Konzentrationsschwächen, Rückzug und Schlafmanko

Studien haben aufgezeigt, dass psychische Überlastungssymptome bei Young Carers doppelt so häufig auftreten wie bei anderen Kindern und Jugendlichen. Häufige Symptome sind nachlassende Leistungen in Schule oder Lehre, Konzentrationsschwächen, Rückzug und Schlafmanko.

Eine Gruppe von Fachleuten um die Careum-Professorin Agnes Leu arbeitet nun an der Sensibilisierung von Privatpersonen und Institutionen (Schulen, Spitex, Sozialdienste, Interessenverbände, Beratungsstellen etc.). Sie hat Gruppen ins Leben gerufen, in denen sich Young Carers in ungezwungenem Rahmen austauschen können.

Auch auf politischer Ebene tut sich etwas.

In der Schweiz will der Bund pflegende Angehörige mit verschiedenen Massnahmen unterstützen (unter anderem durch bessere Entlastungsangebote und bezahlte Pflegeurlaube).

Auf Drängen von Interessenverbänden sind auch Jugendliche und Kinder in diesen Aktionsplan aufgenommen worden. Im neuen Regierungsplan Österreichs ist eine «präventive Entlastung für pflegende Angehörige, insbesondere der Young Carers» vorgesehen.

Netzwerk und Anlaufstellen

Careum fördert nun den Aufbau eines Netzwerkes mit Anlaufstellen, Entlastungsdiensten und Plattformen zum Austausch. Dieses Netzwerk soll auch bestehende Strukturen nutzen – wie zum Beispiel jene von Alzheimer Schweiz.

→ Hier gehts zum Interview mit der Careum-Professorin Agnes Leu

Die Datenlage zu Young Carers, die in der Schweiz Menschen mit Demenz betreuen, ist allerdings sehr knapp. Aus einer Angehörigenbefragung von Alzheimer Schweiz (2012) geht hervor, dass nur sieben Prozent der betreuenden Angehörigen unter 30 Jahre alt sind.

«Es könnte gut sein, dass es heute mehr sind», sagt Karine Begey, stellvertretende Geschäftsleiterin von Alzheimer Schweiz. «Unser nationales Alzheimer-Telefon bekommt regelmässig Anrufe von Young Carers. Sie haben ähnliche Fragen wie andere betreuende Angehörige. Es sind in der Regel Enkel von Menschen mit Demenz, die nicht unbedingt unter dem Rentenalter sind.»

In den Sektionen Zürich und Waadt gibt es bereits Gesprächsgruppen für junge Angehörige. Weil Alzheimer Schweiz immer mehr Anfragen in diese Richtung bekommt, sind nun Überlegungen zu noch mehr spezifischen Angeboten im Gang.

* Alle Namen der erkrankten und pflegenden Menschen wurden von der Redaktion geändert.