Demenz, so die gängige Ansicht, ist ein Phänomen des hohen Alters. Für etwa fünf Prozent der Demenzbetroffenen stimmt das nicht: Sie sind unter 65 und haben eine Alzheimer-Erkrankung mit frühem Beginn, eine Lewy-Body-Demenz oder eine Frontotemporale Demenz.
Gemeinsam ist diesen an sich recht unterschiedlichen Formen, dass der Weg zur Diagnose lang ist. «Gerade bei gestressten Menschen im mittleren Lebensalter maskiert sich die Demenz oft», berichtet ein Neurologe. Meist wird in Richtung Burnout untersucht und behandelt. «Wenn beispielsweise räumliche Desorientierung auftritt, haben wir einen ersten Hinweis, dass etwas anderes dahintersteckt.»
Schublade Alter
Junge Menschen beginnen früher mit dem Diagnoseprozess, weil zum Beispiel bei der Arbeit sehr klar wird, dass «etwas nicht stimmt». Aber es dauert bis zu vier Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Der Weg dahin ist von Zufällen und dem Zugang zu Experten (Stichwort «Stadt/Land-Gefälle») geprägt.
Die Alters-Schublade gibt es auch bei vielen Leistungen in Betreuung und Versorgung. Die Altersgrenze dafür liegt oft bei 65 Jahren.
In den meisten europäischen Ländern gilt 65 als Beginn des Rentenalters – sozusagen das ‹vorgesehene› Start-Datum für Alterserkrankungen.
Schublade Arbeit
Mit der Demenzdiagnose geht für junge Betroffene fast automatisch die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses einher. Wer «dement» ist, so die Logik dahinter, vergisst ja immer mehr und kann nicht mehr arbeiten. Diese Argumentation ist vordergründig richtig: «Erst war ich richtig froh aufzuhören», so ein rund 40-Jähriger, der in einem technischen Beruf tätig war. «Es hat mich ja gestresst, dass ich komplexe Aufgaben nicht mehr erledigen konnte.»
Auf die erste Erleichterung folgt oft ein trauriges Erwachen. Durch Behandlung und Begleitung wird wieder Energie frei und es zeigt sich, dass noch viele Ressourcen vorhanden sind. Wer aber erstmal im Ruhestand gelandet ist, findet nicht mehr zurück – bestenfalls, wie im Beispiel des jungen Mannes, in den zweiten, geschützten Arbeitsmarkt.
Die bisher wichtigen Fachkompetenzen lassen sich in der Regel nicht mehr einbringen. Das erleben Betroffene als Kränkung. Dazu kommen die finanziellen Verluste, die existenzgefährdend werden können – vor allem, wenn die Betreuung auch die Berufstätigkeit der Partnerin oder des Partners einschränkt.
Schublade Familie
Die Familiensituation von jungen Menschen mit Demenz unterscheidet sich von älteren Betroffenen in mehreren Aspekten. Ihre Partner sind meist berufstätig, die Kinder klein oder jung, eventuell leben auch noch Eltern.
Zu den erwähnten finanziellen Problemen kommen psychische Belastungen, für die herkömmliche Beratungssettings und Ratgeber wenig anzubieten haben. So gibt es kaum strukturierte Hilfestellung für Kinder, mit den Veränderungen des Elternteils umzugehen.
Bisweilen lässt sich die Situation auch gar nicht mehr im Familiensetting bewältigen.
Schublade betreuen und wohnen
Wohin können sich junge Betroffene wenden, um eine Tagesstruktur oder gar betreute Wohnmöglichkeiten zu finden? Hier ist die Luft dünn, die Angebote sind fast ausschliesslich auf sehr alte Menschen mit hohem Pflegebedarf ausgerichtet.
Sowohl bei den Menschen mit Demenz selbst als auch bei ihren Angehörigen ist die Akzeptanz für solche Einrichtungen verständlicherweise gering. «Dort gehört mein Mann noch nicht hin», heisst es dann treffend.
Spezielle Tageszentren und Wohnmöglichkeiten sind aber rar. In Tirol entsteht derzeit ein Tageszentrum, dessen Angebote für und vor allem zusammen mit Menschen mit Demenz entwickelt werden, die noch viele Ressourcen haben und körperlich aktiv sind. Werkstätten für Handwerk und Kunst soll es dort ebenso geben wie Gartenarbeit und Beschäftigung mit modernen Medien.
Auch in Zürich existiert ein solches Angebot. In Belgien wiederum wird seit Kurzem das Wohnen im stationären Bereich auch vor dem 65. Lebensjahr durch eine Förderung erleichtert. Das Problem der so unterschiedlichen Bedürfnislagen im Heim über mehr als eine Generation hinweg ist mit der Finanzierung allein aber noch nicht gelöst.
Schublade Lebensende
Eine Demenzdiagnose, so sagt man gern, ist wichtig, damit man für die verbleibende und vermutlich kurze Zeit gut vorsorgen kann. «Vor fast 15 Jahren hat man meiner Mutter nach der Diagnose gesagt, sie solle rasch noch ihre Angelegenheiten regeln», erzählt die Tochter von Agnes Houston aus Schottland.
Agnes ist heute nach wie vor in der Selbstvertretung aktiv, hält in ganz Europa Vorträge und schreibt Ratgeber. Für den Alltag mit ihrer Demenz hat man ihr wenig Konkretes angeboten, sagt sie. Obwohl es heute in Schottland für junge Menschen mit Demenz eine persönliche Beratung durch «Link Worker» gibt, ist auch ihre Tätigkeit theoretisch mit dem Erreichen des 65. Lebensjahrs zu Ende (praktisch bleiben sie mit ihren Klienten in Kontakt).
In den meisten anderen Ländern fehlen solche speziellen Begleitangebote. Dass Personen mit Demenz noch arbeiten, reisen, Sport treiben, kurz: aktiv und produktiv sein wollen, ist sozusagen «nicht vorgesehen». Schulungen für Pflege- und Betreuungspersonen legen den Schwerpunkt auf späte Stadien der Demenz, auf Abschiednehmen und Palliativversorgung.
Schicksalsgemeinschaften jenseits des Gewohnten
Wer Lösungen ausserhalb dieser Schubladen braucht, muss für sich selbst oder seine Angehörigen aktiv werden. Um Einzellösungen für die jeweiligen Bedürfnisse zu finden, braucht es aber Kraft, Mut und gute Informationen. Wenige bringen wie Amanda Kopel die Energie für einen jahrelangen Kampf gegen das System auf.
Die Zuschreibungen und die Stigmatisierung sind mächtig und erzeugen Ohnmacht. «Du kommst in die Alzheimer-Kiste und aus ist es», sagt ein Betroffener. Wenn es allein nicht zu schaffen ist, wie kann es also gelingen? Am besten in Schicksalsgemeinschaften mit anderen in der gleichen oder einer ähnlichen Situation.
Die ermutigendsten Beispiele für solche Gemeinschaft sind Selbsthilfegruppen für Menschen mit Frühdemenz und/oder in frühen Phasen.
Inseln der Gemeinsamkeit
In der Schweiz bietet Mosaik Selbsthilfe an, in Deutschland gibt es mehrere Gruppen mit und ohne Einbindung der Partnerinnen und Partner. Bei der Finanzierung zeigt sich in Österreich doch rasch wieder eine Schublade: Unterstützte Gruppen gelten nicht als Selbsthilfe und sind von Unterstützungen abgeschnitten.
Bewährt hat sich auch Peer-to-Peer-Beratung im 1:1-Setting. Nicht nur die innerliche Bewältigung der neuen Lebenssituation, sondern auch ganz konkrete Strategien und Tipps für den Alltag werden hier auf Augenhöhe vermittelt.