«Von einem Tag auf den andern hat sich mein Leben verändert. So verändert, dass ich es nicht mehr kenne. Ohne Vorbereitung, ohne Vorwarnung. Es kam aus heiterem Himmel. Um mich herum ist alles fremd. Ich lebe jetzt im Pflegeheim.»
Leonie S. musste unerwartet ins Pflegeheim eintreten. In ihrem Brieftagebuch1 dokumentiert sie das Leben im Heim. Krankheit, Einsamkeit, das Zusammenleben mit fremden Menschen und der nahende Tod sind Herausforderungen, die oft unterschätzt werden. Leonie S. formuliert es so:
«Wenn ich im Dunkeln die Sterne sehe, kommt die Sehnsucht. Nach allen lieben Verstorbenen: Friedrich, meinen Eltern, meinen Freunden und Geschwistern, nach dir Sophie. Auch das gehört zum Heim-Weh: Dieses Hin- und Hergerissensein, zwischen drüben und hier, weder bleiben wollen noch gehen können.»
Für die meisten von uns ist Heimweh ein bekanntes Gefühl, dem wir vor allem in der Kindheit begegnen. «Das Heimweh kroch in der Nacht zu mir ins fremde Bett» – mit diesem Bild beschrieb Simone Bertogg, Präsidentin von LangzeitSchweiz dieses «aufsteigende Weh», das uns an fremden Orten erfassen kann an der Tagung «HeimWeh – Bedeutung für die Pflege und Betreuung»2.
Heimweh
Gemäss Wikipedia ist Heimweh die Sehnsucht in der Fremde, wieder in der Heimat zu sein. Zahlreiche Kunstwerke, Lieder und Bücher aus allen Jahrhunderten berichten vom schmerzenden Gefühl, fernab der Heimat zu sein. Das Wort «Heimweh» steht im wörtlichen Gegensatz zu Fernweh, der Sehnsucht nach der Ferne. Heimweh äussert sich emotional sehr unterschiedlich. Betroffene sind melancholisch und schwermütig oder traurig, manche werden passiv oder sogar ernsthaft krank.
In geradezu idealtypischer Weise beschreibt Johanna Spyri das Gefühl Heimweh mit ihrer Romanfigur Heidi: Das fröhliche Naturkind beginnt in der fremden Stadt Frankfurt vor lauter Heimweh zu schlafwandeln und weint still ins Kissen.
Heidis Glück ist, dass der Arzt der Familie Sesemann Heimweh als potenziell tödliche Krankheit diagnostiziert. Die einzige Kur: Sofort zurück in die Schweizer Berge zum Alpöhi und zum Geissenpeter.
Von dieser Sehnsucht nach dem Daheim, das auch körperlich krank machen kann, sind aber nicht nur Kinder betroffen. Heimweh kann jeden und jede erwischen, jederzeit. Oft taucht der Schmerz erst im Alter auf, zum Beispiel nach dem Eintritt ins Pflegeheim.
In dieser Situation könne die verklärte Erinnerung an den Ort der Kindheit dieses Heimweh-Gefühl verstärken, sagt die Soziologin Nina Clara Tiesler: Damals war alles in Ordnung, es gab nur kleine Sorgen. Als Kind lebten viele der heutigen Heimbewohnerinnen und -bewohner noch in Übereinstimmung mit ihrem sozialen Umfeld – im Heim hingegen ist alles und jeder fremd.
Schweizerkrankheit
Das Krankheitsbild Nostalgia (griechisch: Rückkehr‚ Traurigkeit, Schmerz, Leiden) wurde unter diesem Namen erstmals im Jahre 1688 in Basel vom elsässischen Arzt Johannes Hofer beschrieben. Bekannt ist auch die Bezeichnung «Schweizerkrankheit» (morbus helveticus), entstanden durch im Ausland stationierte Schweizer Söldner, die unter Heimweh litten. Der Zürcher Arzt Johann J. Scheuchzer notierte 1718: «Dieses Übel ist am allermeisten unter den Schweitzern gemein, und man nennt solches daher La Maladie du Pais.» Scheuchzer rapportierte, was ihm aus den Lagern der Schweizer Söldner zu Ohren gekommen war. Stimmten Rekruten dort den Kuhreihen (Ranz des Vaches) an, wie man ihn auf jeder Alp fürs Vieh sang, erkrankten sie «ohne Halten» an Heimweh oder desertierten, weshalb die Offiziere den Jodel unter Androhung «ernstlicher Straffe» verboten hätten.
Melissa Schärer ist Stationsleiterin im Pflegezentrum der Stiftung Amalie Widmer in Horgen am Zürichsee. Sie ist mit einer Umfrage den Gründen nachgegangen, weshalb sich viele Bewohnerinnen und Bewohner im Heim nicht mehr daheim fühlen.
Ihr Fazit: «Mit dem Eintritt ins Heim kann man nicht mehr sich selbst sein, man steht ständig unter Beobachtung.» Melissa Schärer illustriert mit folgenden Beispielen, was Bewohnerinnen und Bewohner im Heim plötzlich nicht mehr können:
- in der Nacht in der Küche stehen und nach Süssigkeiten suchen
- nur das Weiche vom Brot essen und den Rest den Enten füttern
- beim Wunschkonzert laut mitsingen, ohne dass es jemand hört
- unter der Dampfabzug-Haube heimlich rauchen
- sehr lange mit der Tochter telefonieren und über andere Leute lästern
- selbst auswählen, wen und wann man jemanden sehen will
Oder zusammengefasst: Im Heim ist es nicht mehr möglich, allein oder zusammen mit einem Partner jene Heimlichkeiten auszuleben, die die Öffentlichkeit nichts angehen. Das «echte Ich» gehe verloren.
Deshalb, so waren sich die Teilnehmenden eines Workshops an der HeimWeh-Tagung einig, müsse alles unternommen werden, damit Frauen und Männer beim Eintritt in ein Heim ihre Autonomie nicht komplett abgeben müssen.
Es braucht Orte des Rückzugs – in erster Linie Einzel- statt Mehrbettzimmer – mit der Möglichkeit, ein Bitte-nicht-stören-Schild aufzuhängen. Organisatorisch sollte ein individueller Tagesablauf ermöglicht werden. Nötig sind zudem regelmässige Gespräche mit den Bewohnern, um zu erfahren, was sie brauchen.
Oft stellt sich die Frage, ob ein Daheimbleiben als Option zum Heimeintritt möglich ist. Esther Indermaur, Pflegeexpertin APN bei der Spitex Zürich Limmat AG, erläuterte dieses «Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge» anhand von Fallbeispielen.
Wenn zum Beispiel ein allein lebender, immobiler Mann mit einem Alkoholproblem wenig familiäre Unterstützung und kein tragfähiges soziales Netz hat, wird es schwierig. In solchen Fällen sollten sich die Pflegefachpersonen (in Absprache mit den Betroffenen und ihren Angehörigen) folgende Fragen stellen:
- Liegt das, was die betroffene Person braucht, im Aufgabenbereich der Pflege?
- Ist es möglich, daheim eine sichere und würdige Situation zu gewährleisten? Wenn nicht, was sind die Alternativen? Wer entscheidet über die Tragbarkeit?
- Wo und wie machen welche Interventionen Sinn? Wo und wie können sie geleistet werden?
Die Entscheidungsspielräume und Alternativen, so Esther Indermaur, müssten genau definiert, die Wertvorstellungen geklärt und formuliert werden. Bewährt hätten sich die CHIME Prinzipien, mit denen sich Belastungssituationen erkennen lassen und die psychische Gesundheit gefördert werden kann:
C = Connectedness: Zugehörigkeit fördern
H = Hope: Hoffnung und Zuversicht fördern
I = Positive Identity: positive Rollen und Identität finden
M = Meaning in Life: sinnhafte Tätigkeiten und Aufgaben finden
E = Empowerment: Befähigen
Besonders ausgeprägt äussert sich das Heimweh-Gefühl bei Menschen mit Demenz – mit der wieder und wieder geäusserten Sehnsucht, nach Hause zu gehen. Sie leiden oft unter dem Gefühl, fremd und verlassen zu sein, getrennt von den Menschen zu leben, die sie lieben.
Demenz bedeute ein ständiges Loslassen und zwar für beide Seiten, die Betroffenen und die Angehörigen, sagt Irene Bopp-Kistler, leitende Ärztin Akutgeriatrie im Zürcher Stadtspital Waid. Loszulassen bedeute zudem, mehr auf sich selber zurückgeworfen zu werden.
Doch auch dieses Selbst verändere sich mit dem «Loslassen von der Erinnerung, dem Loslassen vom Denken an die Zukunft».
Menschen auf diesem Weg professionell zu begleiten, sei wichtig, aber auch sehr anspruchsvoll. Ein Grundprinzip ist für Irene Bopp-Kistler, dass man mit und nicht über die Patienten spricht, ihnen Vertrauen und Wertschätzung vermittelt, ihre Gefühle und Bedürfnisse spiegelt.
«Die Würde kann keinem Menschen genommen werden, auch nicht einem Menschen mit Demenz, solange ihn das Gegenüber in seinem veränderten Sein annimmt und versteht.»
Es kommt die Zeit, in der die Menschen mit Demenz den möglichen zukünftigen Verlauf der Krankheit weniger bewusst wahrnehmen. Die Angehörigen dafür umso mehr, was sie oft zutiefst verunsichert.
Sie leiden unter dem Heimweh nach der gemeinsamen Vergangenheit, nach dem Vertrauten und erleben eine «Trauer ohne Ende», einen «Abschied in Raten» und ein «Wechselbad der Gefühle».
Irene Bopp-Kistler fragt sich, ob sich Menschen mit Demenz ab einem gewissen Stadium in ihren eigenen vier Wänden wirklich noch zu Hause fühlen. Steht der Eintritt ins Heim an, seien es in der Regel die Angehörigen, die besondere Fürsorge benötigen, denn sie müssen sich plötzlich ohne Partner in der eigenen Wohnung zurechtfinden.
Eine betroffene Angehörige beschreibt die neue Situation so: «Mein Mann ist im Heim angekommen. Er hat sein neues Zuhause gefunden. Ich bin froh, dass er sich im Heim wohlfühlt. Für ihn ist es, wie wenn er schon immer dort gewesen wäre.»
Es tröste sie, dass es für ihren Mann der richtige Ort ist, an dem er bis zum Tod zu Hause sein soll. Einen besonderen Stellenwert haben die Sehnsucht nach Heimat und die Zugehörigkeit auch bei Migrantinnen und Migranten. Ob sie zu Hause oder im Heim leben – die Wurzeln, die Heimat sind immer präsent. (s. unten)