Angesichts des stetig wachsenden Tourismus ist es wohl zeitgeistig, einen Text über Menschen mit Demenz als Reiseführer zu gestalten. So lädt Erich Schützendorf gemeinsam mit Ko-Autor Jürgen Datum in seinem Buch nach Anderland ein – so nennt er das «Land, in dem Menschen mit Demenz leben.»
In dem abwechslungsreich gestalteten Band mit Erklärungen, Geschichten, Tipps und Gedichten stellt er ein breites Spektrum an Verhaltensweisen und Emotionen vor. Während ein klassischer Reiseführer aber nur die attraktiven Ziele anführt – hier wären das etwa «Lächeln, Geniessen, Freude» – führt uns Schützendorf auch in dunklere Täler namens «Tabus, Aggressionen, Peinlichkeiten, Sinnlosigkeiten».
Die Haltung, die sich der Autor von den Lesenden (= Reisenden) wünscht, ist Toleranz, Offenheit und Wertschätzung.
Sein Anliegen ist, die Verhaltensweisen der Menschen mit Demenz so darzustellen, dass der darin verborgene Sinn, die Logik aus ihrem Erleben, die anders gelagerte «Wahrheit» sichtbar werden. Dies gelingt ihm durch viele konkrete Beispiele, an die er jeweils auch Tipps zu hilfreichem Verhalten anschliesst.
Schützendorf versteht sich weniger als Fremdenführer denn vielmehr als Ethnologe, und zu dieser Perspektive will er auch die Leser einladen. Nicht rechthaberisch, nicht überlegen, nicht wertend (konkret weder «Entwicklungshelfer noch Missionar») sollen sie Anderland betreten, sondern als unvoreingenommene Entdecker.
Die Situationen, die er dabei schildert, betreffen Alltägliches: Essen und Trinken, Körperpflege und Kleidung, Bewegung und Freizeit. Allerdings bergen die Erzählungen eine Dramatik, die jeweils in einem handfesten Konflikt oder in dessen bewusster Vermeidung mündet.
Von Diebstahl, Aggression, Inkontinenz und Beleidigung ist da etwa die Rede, wobei das immer die Sicht der «Normalier» ist, der Schützendorf die ganz andere Logik von Anderland gegenüberstellt.
Das Wertvolle des Textes liegt genau darin: Dass der Autor noch das scheinbar unsinnigste und verstörendste Verhalten von Menschen mit Demenz in einen grösseren Zusammenhang stellt und um Verständnis wirbt. Dabei weiss er um die Belastung von Pflegenden und Angehörigen und fordert von ihnen zwar Geduld und Entgegenkommen, aber auch Selbstfürsorge und Entlastung.
Er zeigt Möglichkeiten auf, kritische Situationen zu entspannen und wirbt für eine Begegnung auf Gefühlsebene statt auf rationalem Parkett.
Die Wurzel von Konflikten und Abwertung von Menschen mit Demenz insgesamt sieht Schützendorf in den Prinzipien des «Dionysischen» (Genuss, Spiel, Gefühl) und des «Apollinischen» (Verstand, Nutzen, Funktionalität).
Durch die Überbetonung des Letzteren in unserer Gesellschaft, so meint er, fällt es uns so schwer, Menschen mit Demenz in ihrem emotional geprägten (Er)Leben zu akzeptieren. Schützendorfs Anliegen ist es, ein Gleichgewicht herzustellen, in dem weder das Eine noch das Andere (nur) richtig und gut ist und in dem der Mensch mit Demenz anders handelt, aber nicht unterlegen ist.
Was man in diesem Buch vergeblich suchen wird, sind medizinische Informationen über Demenz als Krankheit (so sieht sie der Autor nämlich nicht) oder Beschreibungen verschiedener Formen und Phasen. Stattdessen gibt es zahlreiche «Tipps und Tricks», die manchmal etwas naiv daherkommen («Bleiben Sie so gelassen wie möglich»), oft im Unbestimmten bleiben («Seien Sie offen», «Seien Sie kreativ»), aber immer auf ein verstehendes Miteinander abzielen.
Erich Schützendorf wählt als Gattung für sein Demenzbuch den Reiseführer. Aber wer sind die künftigen Touristen, die dieses Buch zur Hand nehmen sollten? Betreuende Angehörige leben ja unmittelbar mit den Menschen mit Demenz, und auch professionell Pflegende sollten bereits Ortskenntnis des Anderlands haben.
Am ehesten werden wohl jene Angehörige diesen Reiseführer brauchen und davon profitieren, die nicht in der täglichen Betreuung involviert sind.
Und tatsächlich ranken sich auch viele der Geschichten im Buch um Verwandte, die zu Besuch in ein Pflegeheim kommen und die Erlebnisse dort nicht gleich einordnen können.
Kritisch zu hinterfragen ist jedenfalls der Titel: «Anderland» – wie ernst ist diese Vorstellung zu nehmen? Gibt es wirklich so etwas wie «Normalien» und daneben eine andere Welt, in der nach Schützendorfs Darstellung «die Menschen mit Demenz leben»?