In den nächsten Jahren wird der Personalbedarf in der Pflege stetig steigen. Einerseits bedingt durch eine immer älter werdende Bevölkerung, anderseits durch die Zunahme von chronischen Erkrankungen – etwa jeder vierte Schweizer wird in 20 Jahren älter als 65 sein.
Gleichzeitig wird eine beträchtliche Anzahl Pflegende in Rente gehen, wobei die Fluktuations- und Berufsausstiegsraten ungebrochen hoch bleiben werden. Die Zahl der 2014 ausgebildeten Pflegefachpersonen entspricht nur 43 Prozent des geschätzten jährlichen Nachwuchsbedarfs für das Jahr 2025.
Die Komplexität der Patientenbetreuung, zum Beispiel durch altersbedingte Begleitkrankheiten, belastet den pflegerischen Arbeitsalltag sehr. Eine Studie stellte zudem fest, dass Pflegefachpersonen, die unter emotionaler Erschöpfung leiden, doppelt so häufig aus dem Beruf aussteigen als andere.
Pflegefachpersonen pflegen vulnerable Menschen, die sich in einer komplexen Krankheits- und Lebenssituation befinden. Bei chronischen Erkrankungen kann eine langjährige Beziehung mit Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörigen entstehen.
Das Betreuungsteam kommt vor allem bei ungünstigen Prognosen häufig in Berührung mit Gefühlen wie Hoffnung, Ungewissheit, Angst, Trauer oder Verlust, mit traumatischen Ereignissen, oder gar dem Tod.
Unter solchen Bedingungen überrascht es nicht, dass viele Pflegefachpersonen unter emotionalen Belastungen im Arbeitsalltag leiden.
Im Rahmen einer Bachelor-Arbeit Pflege an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) wurde mittels einer Datenbanksuche folgender Frage nachgegangen:
Welche Risikofaktoren beeinflussen die Entstehung von Compassion Fatigue (CF) und wie können sich Pflegefachpersonen davor schützen?
Fallbeispiel
Die 35-jährige Frau Gerber, Mutter von zwei Kleinkindern, erkrankte vor drei Jahren an einem metastasierenden Mammakarzinom der linken Brust. Nach diversen Therapien wird sie aufgrund einer Verschlechterung ihres Allgemeinzustands sowie ausgeprägter Nausea auf der onkologischen Bettenstation von Tanja, einer 59-jährigen erfahrenen Pflegefachfrau, hospitalisiert.
Bereits kurz nach der Erstdiagnose hatten sich die Beiden dort kennengelernt. Seit einigen Tagen leidet Tanja an einer unüblichen Abgeschlagenheit. Ihre Stimmung wird zunehmend gedrückter. Sie kommt am Morgen kaum noch aus dem Bett. Frau Gerbers arg verschlechterter Gesundheitszustand belastet sie. Nach dem Arbeitstag drehen sich ihre Gedanken häufig um Frau Gerber. Tanja findet kaum Schlaf, sie fragt sich ständig, wie sie Frau Gerber besser unterstützen könne und wieso Menschen solche Schicksalsschläge erleiden müssen.
Das erste Mal bemerkt Tanja heute im Frühdienst, dass sie das Zimmer von Frau Gerber bewusst zu vermeiden versucht. Sie hat das Gefühl, sie halte dem Leidensdruck von Frau Gerber und ihrer Familie nicht mehr Stand und könne die ganze Situation von Frau Gerber nicht länger ertragen. Tanja findet keine Erklärung, wieso diese Situation sie so berührt und belastet.
Risiken und Interventionen
Die Resultate der Literatursuche zeigten einerseits, dass sowohl institutionelle als auch persönliche Faktoren einen Einfluss auf die Entstehung von CF haben. Andererseits zeigten sie, dass CF bei Pflegefachpersonen kaum bekannt ist.
Compassion Fatigue CF
CF ist umgangssprachlich als «Mitleidsmüdigkeit» bekannt. Zu den Symptomen gehören emotionale, physische und spirituelle Erschöpfung sowie die Unfähigkeit, emotionalen Stress zu verarbeiten. Betroffene haben Mühe, Beziehungen zu den Patienten und Patientinnen aufzubauen und den Sinn ihrer Arbeit zu erkennen. Bei CF setzen die Symptome meist akut ein, während ein Burnout schleichend beginnt.
Das private Umfeld sowie die persönliche Charakterzüge der Pflegenden begünstigen oder verringern das Risiko an CF zu erkranken. Eine tragende Rolle spielt dabei das Ausmass an Selbstpflege – will heissen das Wahrnehmen und Pflegen der eigenen psychischen, physischen und spirituellen Gesundheit.
Die Selbstpflege der Pflegefachpersonen wird durch folgende Faktoren gefördert und gestärkt:
- Zeit nehmen für sich selbst, den eigenen Gefühlen Raum geben und diese akzeptieren, ohne sie zu werten, z.B. mittels kurzzeitiger Meditation mit Fokus auf Selbstwahrnehmung und Stressreduktion. Wichtig ist, dass die Meditation wenig Zeit in Anspruch nimmt und in den Arbeits-, bzw. privaten Alltag angenehm integriert werden kann.
- Aktiv Strategien erlernen und anwenden, um mit Stresssituationen besser umzugehen.
- Ein gesundes Nähe-Distanz-Verhältnis zu den Patientinnen und Patienten wahren.
- Auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance achten.
Um die Risikofaktoren für die Mitleidsmüdigkeit zu senken, sind auch die medizinischen und pflegerischen Institutionen gefordert. Für sie gelten folgende Empfehlungen:
- Einen Ruheraum für das Personal zur Verfügung stellen.
- Supervision, Intervision etc. – regelmässiger Austausch im interprofessionellen Team, wo belastende Situationen besprochen werden können.
- Unterstützung des Teamzusammenhalts, auch im interprofessionellen Team.
- Den Personalschlüssel erhöhen, um eine holistische Betreuung zu gewährleisten, damit Raum für den Beziehungsaufbau bleibt.
- Begleitung der Mitarbeitenden in ihrem Trauerprozess durch den Betrieb und diesbezügliche Schulungen.
- Schulungen zur Selbstpflege und Achtsamkeit-Förderung: Bewusste Atmung, Stärkung des Körpergefühls und des Selbst-Mitgefühls. Dadurch kann der Umgang mit den eigenen psychischen Bedürfnissen bewusster erlernt werden.