Die Problemfelder in der Pflege kannte die 2018 verstorbene Dr. Cora van der Kooij allzu gut. Die Krankenschwester, Historikerin und Pflegewissenschaftlerin aus den Niederlanden sehnte sich nach einer humanistischen Ausrichtung der Pflege.
Auf der Suche nach einer ganzheitlichen, an Lebensvorstellungen und menschlichen Werten orientierten Pflege und Betreuung stösst van der Kooij auf die Mäeutik von Sokrates, auch bekannt als Hebammenkunst.
Was vorerst verwirrend klingt, hat tiefgründige Ansätze, die vor allem eines sind: person-zentriert.
Die Grundannahme ist, dass die Wahrheit in unserer angeborenen Vernunft liegt und durch gezielte Fragen lediglich «entbunden» werden muss.
Um an diesen philosophischen Grundsätzen anzuknüpfen, muss dieser Arbeitsbereich neu gedacht werden. Und genau dies schafft van der Kooij mit ihrem mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell (MPBM).
Pflegen heisst, mit Verantwortung zu handeln und den Alltag der Menschen mit Unterstützungsbedarf zu begleiten.
Hierzu gehört vor allem das Bewusstsein – also bewusst pflegen und betreuen, kommunizieren, dokumentieren und dies ohne das Erleben und die daraus resultierenden Bedürfnisse des Individuums zu vernachlässigen.
Da der Mensch in der Mäeutik im Mittelpunkt steht, gehört sowohl seine gegenwärtige Situation als auch seine Lebensgeschichte zu ihm. Sie sind somit auch entscheidende Elemente des Modells.
Es muss aber nicht nur die pflegebedürftige Person berücksichtigt werden, denn die Mitarbeiterinnen und Angehörigen begleiten und verarbeiten ihren Lebensabschnitt mit.
Auch sie erleben Werte, Interaktionen und Sicherheit auf ihre individuelle Weise. Somit ist das mäeutisch geprägte Modell erlebensorientiert.
In der kleinen Stadt Riedlingen an der Donau liegt das Seniorenzentrum Konrad-Manopp-Stift, eine Einrichtung der Paul Wilhelm von Keppler-Stiftung, dem grössten katholischen Altenhilfeträger in Baden-Württemberg.
Hier ist man seit Jahren auf der Suche nach einem stimmigen Pflegemodell. Der Einrichtungsleiter Ludwig Geißinger und seine Mkitarbeitenden stossen bei Recherchen auf das MPBM.
Sofort ist er vom Ansatz des Modells überzeugt und nimmt Kontakt mit van der Kooij auf, die zu diesem Zeitpunkt bereits das Institut für mäeutische Entwicklung der Pflegepraxis in Holland gegründet hat und später die Akademie für Mäeutik nach Deutschland bringt.
Es kommt die Frage auf: Wie lassen sich diese theoretischen Leitsätze sinnvoll in die Praxis einbetten?
So kommt das Trio im Jahr 2009 zur Entscheidung, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Genau genommen: Das neue Pflege und Betreuungsmodell soll im Konrad-Manopp-Stift angewandt und gelebt werden.
Eine Steuerungsgruppe aus Wohnbereichsleitern, Pflegedienstleiterinnen und internen Mitarbeitenden sind für die Planung, Umsetzung und Überwachung der Projektziele sowie für die Dokumentation des Ablaufs zuständig. Geplant ist, das Modell in den drei Wohnbereichen des Stifts zeitlich versetzt einzuführen, um später Vergleiche zwischen ihnen ziehen zu können.
2011 finden die ersten Kurse für die Mitarbeitenden des Seniorenzentrums statt. Alle Pflegekräfte lernen in den Einführungs- und Basiskurstagen die Grundlagen der Mäeutik kennen und setzen sich mit den Bausteinen des Modells auseinander.