Mit einem strahlenden Lächeln bittet mich Gisela von Keyserlingk in die schöne Villa außerhalb von Leipzig. Als wir schon im Gang stehen und sie mich dann erst fragt, wer ich denn sei, zeigt sich ihr unsichtbares Problem: Frau von Keyserlingk hat Demenz. Betreut wird die 85-Jährige von ihrer Tochter Beatrix, die vor vier Jahren mit ihrer Familie ins Haus der Mutter gezogen ist.
Beatrix Bode stößt zu uns, wir setzen uns ins geräumige Wohnzimmer. Sofas und Sessel bieten vielen Gästen Platz. Die Bücherregale reichen bis unter die Decke und an den Wänden hängen Bilder. Gisela von Keyserlingk bringt Tee und Kekse.
Sie ist gerne Gastgeberin, früher richtete sie regelmäßig Veranstaltungen und Feste aus.
Das ist jetzt nicht mehr möglich. Monatlich dreißig Gäste bewirten, das ist Beatrix Bode zu viel. Die Mittfünfzigerin muss sorgsam mit ihrer Kraft umgehen, denn neben der Betreuung und dem eigenen Familienleben verwaltet sie zusammen mit ihrem Mann Ulrich Immobilien.
Ohne Unterstützung durch ihr Umfeld könnte Beatrix die Betreuung nicht stemmen. Da ist ihr Mieter, der im alten Kutschenhaus auf dem Grundstück wohnt und Frau von Keyserlingk gerne vorliest oder mit ihr Ausstellungen besucht. Da sind Nachbarn und Freundinnen, die mit ihr spazieren gehen. Eine große Stütze ist Ulrich. Die drei Kinder will Beatrix Bode nicht zu sehr einspannen.
Weihnachten 2020 ist Familie Bode von Leipzig in das Haus der Mutter gezogen. Schon 2017 keimte der Verdacht, dass Gisela von Keyserlingk an Demenz erkrankt sein könnte. Sie vergisst wichtige Abmachungen und was der Arzt ihr in der Sprechstunde gesagt hat. Sie legt die Taschenlampe in den Kühlschrank und die Kartoffeln zum Tee, mischt beim Kochen Zutaten, die nicht zusammenpassen.
Bald ist klar, dass Gisela von Keyserlingk nicht mehr allein wohnen kann.
Doch in ein Heim? »Nein, meine Mutter führte ein unkonventionelles Leben und hat sich immer mit Kultur und jungen Leuten umgeben«, sagt Beatrix Bode.
Nach reiflicher Überlegung entscheiden sich die Bodes, die Betreuung der Mutter zu übernehmen – so lange, wie es ihre Kraft erlaubt. »Am Ende kann ich mich nicht selbst opfern, nur damit meine Mutter zuhause bleiben kann«, weiß Beatrix, die die Hauptlast trägt. »Ich gebe, was ich kann, in der Achtung dessen, was ich nicht kann.«
Sich abzugrenzen musste Beatrix Bode schmerzhaft lernen. Lange hatte sie Sichtweisen und Wünsche der Eltern übernommen, geprägt durch eine humanistische und zugleich fordernde Erziehung. Ihre Kindheit verbringt Beatrix in Tansania und Nigeria, wo die Mutter eine Schule gegründet hat. Kunst und Kultur haben in der Familie einen hohen Stellenwert. 1992 gründet der Vater ein Architekturbüro in der Nähe von Leipzig und zieht zwei Jahre später die Familie nach. Beatrix heiratet seinen Mitarbeiter Ulrich.
Ein Schicksalsschlag trifft die Bodes 1996: Der Vater kommt mit nur 56 Jahren bei einem Unfall ums Leben. Fortan lebt Gisela von Keyserlingk allein in dem Haus, nur das Kutschenhaus vermietet sie an Studenten. Sie engagiert sich in Vereinen, wirkt an der Leipziger Jahresausstellung für Nachwuchskunst mit, ist im Förderkreis der Oper und sitzt für die CDU im Stadtrat. Einmal pro Monat lädt sie zum Salon und gibt Musikern, Schriftstellern, Malern und Politikern eine Bühne.
»Meine Mutter ist überglücklich, wenn viele Leute da sind«, erklärt Beatrix Bode. »Mich aber kostet das Energie.« Die Unterschiede zwischen Mutter und Tochter und der Rollenwechsel führen mitunter zu Spannungen.
Dass sie ganz anders ist, als sie lange geglaubt hat, hat Beatrix 2016 in eine Depression gestürzt. In der Therapie wurde ihr klar, dass sie vieles »einfach gemacht« hatte – weil es erwartet wurde. Heute erkennt sie die Dynamik toxischer Selbstverständlichkeiten und dem Ausblenden eigener Bedürfnisse. Sie weiß, was sie braucht: »Viel mehr Rückzug. Zeiten, in denen ich niemanden sehe und Dinge tue, die zu nichts nutze sind« – zum Beispiel puzzeln.
Solche Freiräume fordert Beatrix Bode aktiv ein.
Die Abgrenzung fällt nicht immer leicht, ist aber alternativlos: »Es braucht eine bewusste Entscheidung, Verantwortlichkeiten liegenzulassen, die nach Übernahme schreien. Oft kürzt man zuerst bei sich selbst.« Verantwortungsvoll mit sich umgehen heißt eben auch, die Nöte anderer auszuhalten. »Wenn ich meine Mutter im Erdgeschoss schimpfen höre, gehe ich nicht sofort helfen.«