»Ich gestehe meiner Mutter ihren Lebensweg zu« - demenzjournal.com

Pflegen ohne Selbstaufgabe

»Ich gestehe meiner Mutter ihren Lebensweg zu«

Gisela von Keyserlingk

Gisela von Keyserlingk ist kein Kind von Traurigkeit. Sie liebt gesellige Gartenfeste und engagierte sich lange in diversen Kulturvereinen. Bild Ulrich Bode

Beatrix Bode kümmert sich liebevoll um ihre an Demenz erkrankte Mutter. Dabei jongliert sie Betreuung, Familie und Beruf. Damit das funktioniert, hat sie gelernt, konsequent auf ihre Grenzen zu achten.

Mit einem strahlenden Lächeln bittet mich Gisela von Keyserlingk in die schöne Villa außerhalb von Leipzig. Als wir schon im Gang stehen und sie mich dann erst fragt, wer ich denn sei, zeigt sich ihr unsichtbares Problem: Frau von Keyserlingk hat Demenz. Betreut wird die 85-Jährige von ihrer Tochter Beatrix, die vor vier Jahren mit ihrer Familie ins Haus der Mutter gezogen ist.

Beatrix Bode stößt zu uns, wir setzen uns ins geräumige Wohnzimmer. Sofas und Sessel bieten vielen Gästen Platz. Die Bücherregale reichen bis unter die Decke und an den Wänden hängen Bilder. Gisela von Keyserlingk bringt Tee und Kekse.

Sie ist gerne Gastgeberin, früher richtete sie regelmäßig Veranstaltungen und Feste aus.

Das ist jetzt nicht mehr möglich. Monatlich dreißig Gäste bewirten, das ist Beatrix Bode zu viel. Die Mittfünfzigerin muss sorgsam mit ihrer Kraft umgehen, denn neben der Betreuung und dem eigenen Familienleben verwaltet sie zusammen mit ihrem Mann Ulrich Immobilien.

Ohne Unterstützung durch ihr Umfeld könnte Beatrix die Betreuung nicht stemmen. Da ist ihr Mieter, der im alten Kutschenhaus auf dem Grundstück wohnt und Frau von Keyserlingk gerne vorliest oder mit ihr Ausstellungen besucht. Da sind Nachbarn und Freundinnen, die mit ihr spazieren gehen. Eine große Stütze ist Ulrich. Die drei Kinder will Beatrix Bode nicht zu sehr einspannen.

Beatrix Bode schaut Fotos mit ihrer Mutter an
Tochter Beatrix ist sorgt für die Mutter, gesteht ihr aber zugleich ihren eigenen Weg zu.Bild Ulrich Bode

Weihnachten 2020 ist Familie Bode von Leipzig in das Haus der Mutter gezogen. Schon 2017 keimte der Verdacht, dass Gisela von Keyserlingk an Demenz erkrankt sein könnte. Sie vergisst wichtige Abmachungen und was der Arzt ihr in der Sprechstunde gesagt hat. Sie legt die Taschenlampe in den Kühlschrank und die Kartoffeln zum Tee, mischt beim Kochen Zutaten, die nicht zusammenpassen.

Bald ist klar, dass Gisela von Keyserlingk nicht mehr allein wohnen kann.

Doch in ein Heim? »Nein, meine Mutter führte ein unkonventionelles Leben und hat sich immer mit Kultur und jungen Leuten umgeben«, sagt Beatrix Bode.

Oma und Enkelin
Gisela von Keyserlingk ist in einem Netz aus helfenden Händen gut aufgehoben.Bild Ulrich Bode

Nach reiflicher Überlegung entscheiden sich die Bodes, die Betreuung der Mutter zu übernehmen – so lange, wie es ihre Kraft erlaubt. »Am Ende kann ich mich nicht selbst opfern, nur damit meine Mutter zuhause bleiben kann«, weiß Beatrix, die die Hauptlast trägt. »Ich gebe, was ich kann, in der Achtung dessen, was ich nicht kann.«

Sich abzugrenzen musste Beatrix Bode schmerzhaft lernen. Lange hatte sie Sichtweisen und Wünsche der Eltern übernommen, geprägt durch eine humanistische und zugleich fordernde Erziehung. Ihre Kindheit verbringt Beatrix in Tansania und Nigeria, wo die Mutter eine Schule gegründet hat. Kunst und Kultur haben in der Familie einen hohen Stellenwert. 1992 gründet der Vater ein Architekturbüro in der Nähe von Leipzig und zieht zwei Jahre später die Familie nach. Beatrix heiratet seinen Mitarbeiter Ulrich.

Ein Schicksalsschlag trifft die Bodes 1996: Der Vater kommt mit nur 56 Jahren bei einem Unfall ums Leben. Fortan lebt Gisela von Keyserlingk allein in dem Haus, nur das Kutschenhaus vermietet sie an Studenten. Sie engagiert sich in Vereinen, wirkt an der Leipziger Jahresausstellung für Nachwuchskunst mit, ist im Förderkreis der Oper und sitzt für die CDU im Stadtrat. Einmal pro Monat lädt sie zum Salon und gibt Musikern, Schriftstellern, Malern und Politikern eine Bühne.

Gartenkonzert
Früher lud Gisela von Keyserlingk jeden Monat zum Kultursalon.Bild Ulrich Bode

»Meine Mutter ist überglücklich, wenn viele Leute da sind«, erklärt Beatrix Bode. »Mich aber kostet das Energie.« Die Unterschiede zwischen Mutter und Tochter und der Rollenwechsel führen mitunter zu Spannungen.

Dass sie ganz anders ist, als sie lange geglaubt hat, hat Beatrix 2016 in eine Depression gestürzt. In der Therapie wurde ihr klar, dass sie vieles »einfach gemacht« hatte – weil es erwartet wurde. Heute erkennt sie die Dynamik toxischer Selbstverständlichkeiten und dem Ausblenden eigener Bedürfnisse. Sie weiß, was sie braucht: »Viel mehr Rückzug. Zeiten, in denen ich niemanden sehe und Dinge tue, die zu nichts nutze sind« – zum Beispiel puzzeln.

Solche Freiräume fordert Beatrix Bode aktiv ein.

Die Abgrenzung fällt nicht immer leicht, ist aber alternativlos: »Es braucht eine bewusste Entscheidung, Verantwortlichkeiten liegenzulassen, die nach Übernahme schreien. Oft kürzt man zuerst bei sich selbst.« Verantwortungsvoll mit sich umgehen heißt eben auch, die Nöte anderer auszuhalten. »Wenn ich meine Mutter im Erdgeschoss schimpfen höre, gehe ich nicht sofort helfen.«

Bei sich bleiben ist wichtig: »Ich kann meiner Mutter beistehen, aber ich kann ihr die Frustration und den Schmerz nicht abnehmen. Es ist ihr Lebensweg.« Für Bode hat diese Haltung – dem Gegenüber seinen Weg zuzugestehen – mit Respekt zu tun. Sie vermeidet es, andere auf die Demenz der Mutter hinzuweisen, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs sind: »So würde ich meiner Mutter die Chance auf einen ernsthaften Austausch nehmen, der ihr so wichtig ist.«

Gisela von Keyserlingk steigt auf einen Stuhl
Machen lassen: Beatrix Bode will der Mutter ein Gefühl von Selbständigkeit bewahren.Bild Ulrich Bode

Die Frustmomente im Alltag von Gisela von Keyserlingk häufen sich. Namen und Begriffe wollen ihr nicht mehr einfallen. Sie sucht Gegenstände oder ärgert sich über den Kleiderschrank, den sie selbst umgeräumt hat. Beatrix Bode beantwortet geduldig dieselben Fragen und nimmt schwierigen Momenten mit Humor die Spitze: »Wir spielen jeden Tag Tabu. Und wenn meine Mutter ihr Nachthemd oder andere Dinge verlegt hat, dann ist der Troll am Werk.«

Diesen lockeren Umgang musste Bode erst lernen. Es ist die für Angehörige wohl schwerste Lektion: Die Person, die man kennt, zu trennen von der Person, die man pflegt. »Es ist nicht mehr die Mutter-Tochter-Beziehung«, sagt Bode. »Ich versuche, meine Mutter so anzunehmen, wie sie in diesem Moment ist.«

Obwohl durch die Demenz vieles schwindet und Bode immer wieder um ihre Mutter trauert: Es ist nicht alles verloren. Gisela von Keyserlingk ist fröhlich, aktiv und zu Späßen aufgelegt. Sie räumt in ihrem Wohnbereich im Erdgeschoss und genießt es, wenn Kater Picolo bei ihr auf dem Liegestuhl döst.

Gisela mit Katze auf dem Arm
Kater Picolo sorgt für Glücksmomente.Bild Ulrich Bode

Wie lange wird das möglich sein? Der Zustand der Mutter verschlechtert sich. Vor allem der Sprachverlust macht der kommunikativen Frau zu schaffen. Auch für Beatrix Bode und ihre Familie stellen sich alte Fragen neu: Wie gehen wir mit der veränderten Situation um? Wie wieviel Kraft haben wir und wo ist Hilfe nötig?

Beatrix und ihr Mann sprechen offen miteinander über ihre Grenzen und Bedürfnisse. Als Ausgleich zum stressigen Alltag unternehmen sie Motorradtouren. Gemeinsam fahren, das ist für sie »das große Glück«. Alles andere vergessen kann Beatrix Bode auch beim Wildwasser-Rafting. Vor zwei Jahren hat sie die Ausbildung zum Guide gemacht. »Der Vorteil ist, dass ich meine Arbeitszeiten selbst einteilen kann. Im Boot bin ich außerdem voll im Moment, weil ich auf die Gäste und Strömungen achten muss.«

Manchmal geht Bode bewusst allein weg. Letzten Sommer hat sie an einer zweiwöchigen Autorallye teilgenommen. In einem 20 Jahre alten Renault Kangoo einmal um die Ostsee hinauf ans Nordkap und über Finnland wieder zurück. Das dabei gesammelte Spendengeld ging an den Verein SelbstBestimmt Leben e.V. Rund um Leipzig bietet der Verein Unterstützung und Beratung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen.

Wildwasserfahren
Beim Wildwasserfahren kann Beatrix Bode hinten ganz abschalten.Bild Ulrich Bode

Auch Beatrix Bode ist Teil dieses Selbsthilfenetzwerks und besucht regelmäßig und mit großem Gewinn eine Angehörigengruppe. 2025 organisiert sie mit dem Verein und Partnern das erste Demenz Meet Leipzig. Zweifellos wird es ein Anlass nach dem Geschmack der Mutter: ein lebendiges, buntes Zusammenkommen von Menschen mit Demenz, Angehörigen und Fachleuten.

👉 Hier findest du alle Daten der Demenz Meets 2024!