Die Gesunden sollten nicht im Weg stehen - demenzjournal.com
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Wichtiges verliert an Bedeutung

Die Gesunden sollten nicht im Weg stehen

Im Verlauf der Erkrankung verliert die Betroffene die Fähigkeit, sich zu orientieren und findet den Weg nach Hause nicht mehr. Bild Dominique Meienberg

Der Mensch ist kein Baum. Wenn er am falschen Platz steht, muss er sich einen anderen suchen: Diese buddhistische Weisheit hat auch bei der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz Gültigkeit.

Eine Demenz stellt vieles auf den Kopf – vor allem für die Gesunden. Vieles, was jahrelang Gültigkeit hatte, wird einseitig aufgekündigt durch den Erkrankten. Vieles, was wichtig war, verliert an Bedeutung.

Die Welt dreht sich in die andere Richtung, und keiner kann es verstehen. Das Verhalten des Betroffenen widerspricht den inneren Bildern, die wir von gesunden und kranken Menschen haben.

Jeder hat ein Bild davon, wie ein Mensch ist, welche Verhaltensauffälligkeiten er hat und wie er seine Umwelt wahrnimmt. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen – zum Beispiel, wie ein Zimmer auszusehen hat, wie eine Umgebung zu gestalten ist, wie der Garten sein muss und wie die Betreuung stattzufinden hat. Jeder weiss dann, wie es zu gehen hat – nämlich dem eigenen inneren Bild entsprechend.

Es kann nicht sein, dass irgendjemand weiss, was Menschen mit Demenz brauchen oder was ihnen gut tut. Es kann aber sein, dass man weiss, was Frau Meier oder Herr Müller gut tut.

Dieser grundsätzliche Betrachtungsfehler verunmöglicht Lösungen, die sich am Menschen orientieren und nicht an der Krankheit. Den Menschen mit Demenz gibt es nicht! Es gibt Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind. Aber der Fokus liegt auf dem Menschen, und nicht auf der Erkrankung.

Und so wie wir Menschen individuelle Bedürfnisse und Eigenheiten haben, so sehr wir überall darauf bestehen, als Menschen wahrgenommen zu werden, so sehr steht dieser Anspruch auch jenen Menschen zu, die an einer Demenz erkrankt sind. 

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Keine Gründe suchen, sondern einfach hinschauen

Mit diesen unterschiedlichen Bedürfnissen setzen wir uns bei der Betreuung von Menschen mit Demenz primär auseinander. Wir müssen hinschauen, hinschauen und nochmals hinschauen. Wir fragen nicht «warum?», wir suchen keinen Grund, sondern schauen einfach hin.

Da der Mensch kein Baum ist, sind keine Lösungen gefragt, die für einen Baum passend sind. Dies bedeutet, dass sich Bedürfnisse im Lauf eines Lebens verändern – was ja auch bei uns Gesunden der Fall ist.

Wir können auf solche Änderungswünsche reagieren, neue Erfahrungen machen und diese wiederum in unseren Alltag integrieren. Zum Beispiel beim Wohnen: Wer lebt noch im gleichen Zimmer und Haus wie als Säugling? Wer hat noch die gleichen Möbel wie früher?

Wir nehmen uns die Freiheit zu verändern, wenn Änderungen notwendig erscheinen – und das ist gut so. Menschen mit Demenz brauchen oft auch Veränderungen ihrer Umgebung, damit ein ihnen angepasster Weg möglich ist.

Um individuelle Möglichkeiten umzusetzen, braucht es dem Individuum angepasste Bedingungen. Erst dann kann es gelingen, dass Menschen einen eigenen Weg gehen können. Menschen sind keine Bäume, die nicht verpflanzt werden sollen und gefällt werden, wenn sie im Weg stehen. Wenn der Mensch Mensch bleiben soll, gelingt dies nur durch einen individuellen Ansatz, der sich daran orientiert, was dem Einzelnen guttut.

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Wir passen unser Wohnen immer wieder an

Die Wahl einer Wohnform und eines Wohnortes steht in direktem Zusammenhang zu unserer Lebenssituation, in der wir aktuell stehen. So kann es durchaus sein, dass jemand in Bern ein Zimmer bewohnt und die Familie in einer Wohnung im Zürcher Oberland lebt, da die berufliche Situation solches Wohnen erfordert.

So ist auch vorstellbar, dass eine einzelne Person vom Land in die Stadt zieht, um ein grösseres oder angepassteres kulturelles Angebot nutzen zu können. Wir wissen auch, dass selbst das idyllischste Einfamilienhaus im Grünen nicht unbedingt die beste aller Wohnformen sein muss.

Zu sehr beeinflussen Beziehung und Partnerschaft unser Wohlbefinden, wenn es ums Wohnen geht. Wir passen unser Wohnen immer wieder an: Damals, als wir weggingen von zu Hause, als wir die ersten WG-Erfahrungen machten, als wir eine Familie gründeten, als die Kinder grösser wurden, als die Trennung kam, als die Kinder ausflogen, als man den Wohnraum reduzierte, da das Haus zu gross wurde, als man in die Alterswohnung einzog, als man im Pflegeheim war, bis man starb.

Es kommt zu vielen Wechseln, bei den einen mehr, bei anderen weniger. Eine buddhistische Weisheit sagt: Der Mensch ist kein Baum, wenn er am falschen Platz steht, muss er sich einen anderen suchen.

Es zeigt sich immer wieder, dass die Veränderung des Wohnortes zu weniger Stress führt, wenn der neue Ort richtiger ist als der alte, oder umgekehrt, wenn der Mensch am neuen Ort weniger falsch steht.

Dieser Spruch stellt eine radikale Abkehr dar von der auf den Menschen bezogenen Aussage, dass man einen alten Baum nicht verpflanzen soll. Es kommt immer darauf an, ob eine Wohnsituation der momentanen Lebenssituation entspricht oder nicht.

Dazu ein Beispiel: Ein Mann, der an einer Demenz erkrankt ist, ist immer noch gut zu Fuss. Er geht gerne nach draussen in die Natur, er läuft sehr lange alleine und findet wieder zurück. Im Verlauf der Erkrankung verliert er die Fähigkeit, sich zu orientieren und findet den Weg nach Hause nicht mehr.

Technische Unterstützung ist nur begrenzt einsetzbar, ebenso erschwert sein Verhalten gegenüber fremden Personen eine externe Begleitung. Dies führt dazu, dass dieser Mann nun zu Hause bleiben muss. Die Ehefrau leidet sehr darunter, dass sie ihren Mann einschliessen muss.

Wie sieht der richtige Wohnort dieses Mannes aus? Wie würde er aussehen, wenn er fremde Hilfe annehmen würde, wie, wenn er sehr aggressiv wäre? Es ist leicht nachvollziehbar, dass es hier nicht eine einzige Lösung gibt, die richtig ist, sondern dass ganz individuelle Lösungen gesucht werden müssen, die vielleicht auch nur für kurze Zeit Gültigkeit haben.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Weniger falsch am neuen Ort

Wir haben die Aufgabe, mitzuhelfen, einen anderen Ort zu suchen, wenn wir sehen, dass der Mensch am falschen Ort steht. Es zeigt sich immer wieder, dass die Veränderung des Wohnortes zu weniger Stress führt, wenn der neue Ort richtiger ist als der alte, oder umgekehrt, wenn der Mensch am neuen Ort weniger falsch steht.

Für Angehörige kann dies sehr schmerzvoll sein, da man bisher immer gemeinsam am richtigen Ort stand – und nun steht man alleine dort.

Diese Situation erschwert den Blick darauf, was der andere, der Erkrankte, in dieser Situation brauchen würde. Menschen treffen sich, um gemeinsam durchs Leben zu gehen, und plötzlich wird dieses Gemeinsame durch den Kranken «aufgekündigt».

Das tut weh. Was über Jahre, Jahrzehnte eindeutig war, wird zerstört. Die Bedürfnisse werden krankheitsbedingt zu unterschiedlich – und nicht, weil die Liebe abhanden kam.

Die Krankheit übergibt dem Gesunden ja dann auch noch die Verantwortung für das Wohlergehen des Kranken. So kann es zu Verwirrungen kommen, welche Bedürfnisse die eigenen oder die fremden sind. Das erschwert einen Blick aus einer etwas distanzierten Position.

Menschen mit einer demenziellen Erkrankung sind in einzelnen Wohn- und Betreuungssystemen immer wieder überfordert. Ist dies der Fall, gilt es, Abschied zu nehmen von einem Ort und einem System – und etwas Neues anzufangen. Für Angehörige ist dieser Abschied oft schwieriger als für den Erkrankten selbst.

Es besteht Gefahr, dass man sich nicht für den Kranken einsetzt, sondern für das Ich, das gefordert ist, anzuerkennen, dass die Krankheit beim Partner, bei der Mutter, beim Vater weitergeht und die Gesunden nicht im Wege stehen sollten, wenn es um das Wohl des Kranken geht.