Hat hier die Aktivierung versagt oder ist die Entspannung gelungen?
Bild Dominique Meienberg
Bespaßung, Aktivierung und Scheinwelten machen das Leben von Menschen mit Demenz für die anderen weniger traurig. Wenn wir Menschen mit Demenz wirklich ernst nehmen, sollten wir nicht Altersheime in ein Disneyland verwandeln, sondern das Gammeln wieder salonfähig machen.
»Therapeutisches Gammeln« ist an und für sich schon Satire genug. Dass das Gammeln jetzt auch noch als Therapie herhalten soll, scheint auf den ersten und auf den zweiten Blick geradezu grotesk. Die Gammler, das waren früher die Anarchisten, die Nichtstuer, die Nichtsnutze.
Man könnte heute von den »Work-Life-Balancern« sprechen. Die haben uns vorgelebt, wie es sein könnte, wenn, ja was wäre denn, wenn? Wie waren die Gammler, wer hat noch ein Bild von ihnen? Mir kommt das Lied von Franz Josef Degenhardt in den Sinn: »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder, geh doch in die Oberstadt, mach´s wie deine Brüder.«
Tetraplegie
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Die Schmuddelkinder, das waren die jungen Anarchisten, die rumgegammelt sind, die sich dem System verweigert haben. Und als die dann groß wurden, haben sie sich zu Gammlern weiterentwickelt. So stell ich mir das vor. Das Gammeln hat schon eine lange Tradition. Gammeln war der Gegenentwurf zu einer strukturierten, getakteten Welt, wie sie sich uns heute zeigt und in der so viele Menschen sich nicht mehr zurechtfinden.
Das Gammeln im demenziellen Adelsstand
Dass hier nun ein Buch vorgelegt wird, welches das Gammeln sozusagen in den demenziellen Adelsstand erhebt, finde ich frech und notwendig. Es wird immer von neuen Ansätzen gesprochen, die so nötig wären. Und nur wenige verstehen darunter etwas Konkretes.
EIN BUCH ALS GEGENENTWURF ZUR permanenten BESPAßUNG
Der Sozialwissenschaftler, Pfleger und Journalist Stephan Kostrzewa stellte bei seinen Besuchen in Altersheimen fest, dass viele Bewohner wenig Interesse an Aktivierungen zeigen oder nur lustlos daran teilnehmen. Er hatte den Eindruck, dass manche Angebote vor allem die Pflegenden und Angehörigen glücklich machen. Als Gegenentwurf für diese Art von Bespaßung hat er nun das Buch »Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz« veröffentlicht. Das Vorwort, das Sie hier als Artikel lesen, stammt von unserem Redaktor Michael Schmieder.
So wurde beispielsweise der Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz«schon beim Titel wortreich verschwurbelt. Seine Wirkung tendiert gegen null, denn der Alltag ist geprägt von Personalmangel, Zeitstress, Imageproblemen, fremdsprachigen Pflegenden und Niedriglohn. Solche Ansätze helfen weder Menschen mit Demenz noch deren Pflegenden.
Seit vielen Jahren wissen wir wenigstens teilweise, was guttun könnte: einfach bleiben, hinschauen und daraus lernen, ehrliches Begleiten ohne Fakes und Scheinwelten. Aber irgendwie waren wir als Community nicht erfolgreich, alles blieb Stückwerk. Heute wird eine ganze Bespaßungsmaschinerie dafür eingesetzt, dass das andere Leben, das Demenzleben nicht so traurig daherkommt, dass »alles so schön bunt hier« ist, wie Nina Hagen beim Westfernsehglotzen trefflich bemerkt.
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Gammeln ist zu all dem ein Gegenentwurf. Gammeln steht dem Menschen mit einer Demenzdas Recht auf Nichtsnutzigkeit zu, gibt ihm Würde, nicht nur mit Worten, sondern sieht dort seine großen Ressourcen, wo diese tatsächlich sind, eben im Nichtstun. Das aber mit größtem Respekt und größter Sorgfalt durch das begleitende Umfeld.
Interessanterweise geben wir ja sehr viel Geld und Ressourcen dafür her, dass wir das »Gute Nichtstun« auch lernen können. Sinnlos im Infinity-Pool herumhängen, mal die Seele baumeln lassen, mal nur für sich da sein, Meditationen aller Art: All das hat zum Ziel, sich selbst zu spüren, zu finden und der Hektik des Alltags etwas Eigenes entgegenzusetzen. Übersetzt würde ich mal behaupten, es geht darum, Gammeln zu lernen.
Das Nichtstun wirkt bedrohlich
Dass es bedrohlich wirkt, wenn jemand in ungeahnter Konsequenz nichts mehr tut, außer einfach da sein, ist nachvollziehbar. Deshalb muss auf Teufel komm raus aktiviert und bespaßt werden: Aus jeder Demenzstation machen wir ein kleines Disneyland: Bespaßung als Grundbedürfnis und Grundrecht.
Hier geht es zum Podcast mit Stephan Kostrzewa über therapeutisches Gammeln
Dass ein Leben durch Nichtstun dennoch ein gutes Leben sein kann, das lernen wir von Menschen mit einer Demenz vortrefflich. Wenn ich nichts mehr tun kann, weil ich nicht weiß, was das ist, das Tun, dann empfinde ich das Nichtstun als einzige, mir zur Verfügung stehende Form des Tuns. Und deshalb entsteht auch kein anderer Wunsch nach »sinnvoller« Beschäftigung. Etwas kompliziert?
Dann wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim Lesen des Buches von Stefan Kostrzewa und bei den Gedanken, wie Sie »Therapeutisches Gammeln« im Alltag umsetzen können und zwar so, dass es am Ende einfach nur »begleitetes Gammeln« ist.
Ein Ansatz, der den Menschen ernst nimmt
Ich danke dem Autor, dass es ihm gelungen ist, einem Ansatz Sprache zu geben, der den Menschen ernst nimmt, den Kranken und den Gesunden und den Bedürfnissen der Menschen den Raum gibt, den diese benötigen. Menschen mit Demenz zeigen uns täglich, was sie wollen: sich selbst sein. Was sie nicht wollen: bevormundet und überfordert werden. Und da kommt dem Buch eine große Bedeutung zu.
Nebenbei: Nicht von ungefähr scheint mir das Gammeln wieder salonfähig zu werden zu einem Zeitpunkt, an dem die früheren Gammler sich dem demenziellen Zeitalter mit Riesenschritten nähern.
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