Mein Vater hat seine Lebensfreude zurückgewonnen

Wandern mit Demenz

»Mein Vater hat seine Lebensfreude zurückgewonnen«

Mia und Otmar Hoffmann wandern durch Deutschland.

Mia und ihr dementer Vater Otmar Hoffmann wandern durch Deutschland. Bild privat

Sie reisen gemeinsam, mit Rucksack auf dem Rücken, oder gehen auch mal zusammen auf eine Demo. Die ungewöhnliche Geschichte von Mia Hoffmann und ihrem an Demenz erkrankten Vater.

Gerade haben sie wieder eine ihrer spontanen Reisen gemacht: Einfach los, ohne viel zu planen, sechs Tage lang mit dem günstigen Deutschland-Ticket quer durch die Republik. Hamburg, Frankfurt, Mainz, dann an den Rhein, an die Mosel, Trier und wieder zurück nach Hamburg.

Meist haben sie wenig Gepäck dabei, nur einen Rucksack auf dem Rücken, die Unterkünfte sind einfach, mitunter ist aber auch ein gehobenes Hotel mit Schwimmbad dabei. Oft entscheidet Mia Hoffmann kurzfristig, wo sie die nächste Nacht verbringen. Die Regionalzüge sind mitunter voll, aber das macht ihnen nichts aus, sie haben Zeit und nehmen notfalls die nächste Bahn.

Eigentlich, das weiß auch Mia, sind solche Reisen nichts für Menschen mit Demenz.

Sie brauchen feste Abläufe, eine überschaubare Umgebung. Jede Nacht ein anderes Bett, eine unbekannte Toilette, neue Türen, durch die man gehen muss, neue Schlüssel – Gift für Menschen, die darunter leiden, dass auf ihr Kurzzeitgedächtnis kein Verlass mehr ist.

Otmar Hoffmann sitzt auf einer Bank am Bahnhof.
Auch mit 80 sehr fit: Otmar Hoffmann.Bild privat

Doch Otmar Hoffmann ist anders, obwohl auch er ganz viel vergisst. Er genießt diese Reisen, fühlt sich dabei lebendig. »Natürlich ist es anstrengend für mich, alles zu organisieren«, sagt die Tochter, »aber wenn er mir zeigt, dass er unterwegs glücklich ist, dann bin ich es auch. Wir haben ein enges Verhältnis, das war schon in meiner Kindheit so.« Dass der Vater mit seinen 80 Jahren körperlich erstaunlich fit ist, problemlos 15 Kilometer am Tag wandern kann, gibt den Fahrten eine zusätzliche Leichtigkeit.

Wir sitzen in Mia Hoffmanns kleiner gemütlicher Wohnung, etwas entfernt vom Hamburger Stadtzentrum. Die 46-Jährige ist eine extrovertierte Frau, die gern lacht und so wirkt, als habe sie unendliche Energiereserven.

Seit fast einem Jahr wohnt ihr Vater im selben Haus, seine Wohnung liegt unter ihrer und ist ähnlich geschnitten. Dass er sie überhaupt bekommen hat, war einer dieser glücklichen Zufälle, die das Leben manchmal bereithält. »Er fühlt sich hier sehr wohl und genießt es, dass ich in seiner Nähe bin«, sagt die Tochter. Das Parkett hat sie selbst abgeschliffen und die Wohnung für ihn eingerichtet.

Vor zweieinhalb Jahren ist seine Frau, Mias Mutter, an Krebs gestorben, mehr als 40 Jahre dauerte die Ehe. Sie waren, meint die Tochter, ein gutes Team, hatten eine enge Beziehung. Über ein Jahr lang war sie krank gewesen, währenddessen hat ihr Mann sie intensiv gepflegt, zusammen mit Mia.

Damals schon gab es erste Anzeichen, dass sich in seinem Kopf etwas verändert hatte. Er schrieb ständig Zettel, die ihn an etwas erinnern sollten, meint die Tochter, sie habe sich aber nicht viel dabei gedacht.

Nach dem Tod seiner Frau baute der Vater dann komplett ab, klingelte am Tag der Beerdigung schon morgens um sechs Uhr bei Mia, obwohl die Trauerfeier erst mittags war.

Ende November 2022 bekam er dann die Diagnose: fortgeschrittener Alzheimer. »Für mich war das ein Schock, obwohl ich es geahnt hatte«, sagt Mia. »Mein Vater wollte von der Diagnose nicht wissen und meinte: ,Nö, glaube ich nicht, mir geht es doch gut.’«

Damals wohnte ihr Vater, der als Polizist in Hamburg tätig gewesen war und mit 60 in Rente ging, noch am Hamburger Stadtrand. Als die Demenz immer stärker durchschlug, telefonierte Mia jeden Tag mit ihm, fragte nach, ob er etwas gegessen, den Herd ausgestellt habe.

Den Rollenwechsel, dass jetzt sie ihren Vater ermahnen, ihm sagen musste, was er zu tun hatte, mochte sie am Anfang gar nicht, gesteht sie. Auch er habe sich zunächst dagegen gewehrt, schließlich war er immer der Vater gewesen, der die Verantwortung übernommen hatte. Nur ganz allmählich konnte er akzeptieren, dass seine Tochter jetzt das Sagen hatte, für ihn entschied, wer der beste Facharzt oder welche Einrichtung für ihn am besten war.

Otmar Hoffmann wandert im Wattenmeer.
Vater Otmar übernahm sein Leben lang Verantwortung. Der Rollenwechsel durch die Demenz fiel Vater und Tochter nicht leicht.Bild privat

Das Alleinleben und die Erfahrung, immer weniger zu können und zu schaffen, setzten ihm zu. Otmar verfiel immer mehr, verzichtete auf alles, was ihm früher Spaß gemacht hatte: malen, zeichnen, Gitarre spielen, kochen, im Garten arbeiten, seinem Ehrenamt in einem Hamburger Botanischen Garten nachgehen. Ihr Vater sei immer künstlerisch aktiv gewesen, so die Tochter, mit der Demenz blieb die Kreativität auf der Strecke. Auch der Garten verdorrte, die Pflanzen, die er früher sorgfältig gehegt hatte, gingen ein.

Für die Tochter fühlte es sich so an, als sei auch das Leben des Vaters verblüht.

Fast schlimmer aber war, dass Otmar jetzt regelmäßig von zu Hause weglief. In einer Nacht im Januar 2023 bekam Mia plötzlich einen Anruf von der Polizei: Beamte hatten ihren Vater aufgegriffen, der allein durch die Gegend geirrt war. Die Tochter war geschockt und fuhr sofort zu ihm. Der Vater spielte seinen nächtlichen Ausflug herunter, es ginge ihm doch gut, kein Grund zur Aufregung.

Auch danach passierte es häufig, dass die Tochter ihn suchen musste, mitunter stundenlang. »Wenn ich ihn dann in irgendeiner Pampa gefunden habe, war er bestens drauf, überhaupt nicht müde, er hat ja eine super Kondition.« Der Vater konnte überhaupt nicht verstehen, warum die Tochter müde und sauer auf ihn war.

Sie musste sich ein ums andere Mal klar machen, dass sie ihm nicht mit Vernunft kommen konnte. Ihre Argumente, dass es gefährlich sein kann, stundenlang nachts herumzulaufen, noch dazu ohne etwas zu essen und zu trinken, verfingen bei ihm nicht. Mittlerweile hat sie einen Tracker und kann ihren Vater meist orten, wenn er wegläuft – vorausgesetzt, er hat seinen Schlüssel dabei, an dem der Tracker hängt.

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Menschen mit Demenz haben meist weder Ziele noch Absichten – und sind trotzdem in Bewegung. Wenn sie sich dabei in Gefahr begeben oder ihre Mitmenschen stören, wird die Ressource zum Problem. Die neue Ausgabe der Demenz-Zeitschrift das Heft und die Plattform alzheimer.ch beleuchten das Thema von verschiedenen Seiten.

Mia wurde bald klar, dass der Vater nicht mehr allein in seiner Wohnung bleiben konnte. Obwohl jeden Tag ein Pflegedienst kam, um sicherzustellen, dass er seine Medikamente nahm, obwohl er regelmäßig zum Tagestreff der Hamburger Alzheimer Gesellschaft ging, wo er sich gut aufgehoben fühlte. Obwohl sie mehrmals am Tag mit ihm telefonierte oder ihn besuchte.

Hat sie damals daran gedacht, den Vater in ein Heim zu geben? Nein, meint Mia, sie habe früher mal in einem Pflegeheim in einer Demenzstation gejobbt und gesehen, wie es dort zugehen kann, wie wenig mitunter auf die Bedürfnisse der Patienten eingegangen wird, weil die Pflegekräfte zu wenig Zeit haben. »Ich sehe meinen Vater nicht dort, eher in einer WG für Menschen mit Demenz.«

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Auch Mia litt immer mehr unter der Situation. Schon nach dem Tod der Mutter ging es ihr sehr schlecht, die ausgebildete Ergotherapeutin wurde wegen Burnout für längere Zeit krankgeschrieben. Dazu kam die zunehmende Sorge um den Vater, die sie auch gesundheitlich mitnahm. Eine Kur für pflegende Angehörige, die sie machte, half – aber nur für begrenzte Zeit.

Heute geht es Mia Hoffmann deutlich besser. Sie ist froh, dass ihr Papa in der Nähe ist, sie sich leichter um ihn kümmern kann. Dreimal in der Woche geht Otmar in eine Tagespflege, und die Tochter hat ein bisschen Zeit für sich.

Ist es nicht ungewöhnlich, dass sich die Tochter so intensiv um ihren erkrankten Vater kümmert, ihr eigenes Leben soweit zurückstellt?

»Einerseits ja«, meint Mia, »aber es macht mich unendlich froh, dass er so aufgeblüht ist, seit er in meiner Nähe lebt. Er ist unternehmenslustig und energiegeladen wie ein Jugendlicher. Ich genieße diese Phase und dass ich mit ihm reisen, Zeit verbringen kann, wer weiß, wie lange das noch möglich ist.«

Sicher spielt auch eine Rolle, dass sich Vater und Tochter in vielem ähnlich sind: Beide sind kreativ, machen gern mal unkonventionelle »verrückte Sachen«, wie Mia sagt. Zum Beispiel? »Eine Nacht in einem Strohhotel verbringen und mit dem Schlafsack im Heu schlafen.« Sie lacht, als sie davon erzählt. Oder sie gehen zusammen auf eine Demo gegen rechte Gewalt und der Vater skandiert auch mal ein paar Sprüche mit, genießt die lebendige Atmosphäre.

Vater und Tochter strahlen in die Kamera.
Seit Otmar in Mias Nähe wohnt, ist er aufgeblüht.Bild privat

Und trotzdem: Mittelfristig sucht Mia eine Pflegekraft, die beim Vater in die Wohnung einzieht, damit sie selbst noch mehr entlastet ist.

Jetzt sei es aber an der Zeit, nach ihm zu schauen, meint die Tochter. Als wir dann zu ihm in die Wohnung kommen, sitzt Otmar Hoffmann am Küchentisch. Er steht sofort auf, um uns zu begrüßen, ein schlanker Mann mit einem feinen Lächeln. Die Tochter fasst ihn an die Schulter, fragt ihn mehrfach, wie es ihm geht, er nickt zufrieden.

Dann machen wir einen Rundgang durch die Wohnung, überall an den Wänden hängen Bilder, die er früher gemalt hat, Akte und Städteansichten mit kleingewürfelten Häusern. Auf einem Landschaftsbild ist vorn Mia zu sehen, mit einer roten Mütze auf dem Kopf. Otmar lächelt schüchtern, als er die Bilder zeigt, aber auch ein bisschen Stolz schwingt mit.

Gemälde mit Stadtlandschaft und einer Frau mit roter Mütze.
Auch seine Tochter gehörte zu den Sujets, die Otmar gerne malte.Bild privat

Zurück in der Küche zeigt Mia auf eine Wand, an der viele Fotos hängen, sie und ihr Vater auf Reisen. Auf einem Bild sieht man die beiden auf dem Harzer Hexenstieg, auf einem anderen, wie sie gemeinsam barfuß durch das Watt wandern. Beide mögen diese Wattwanderungen, zum Beispiel in Büsum an der Nordsee.

»Natürlich habe ich immer den Gezeitenkalender im Kopf«, sagt sie. Der Vater, der den Kalender vermutlich gleich wieder vergessen hat, kann sich darauf verlassen. Die Tochter ist sein Leuchtturm, er weiß, dass er mit ihr an der Seite niemals von einer Flut überrascht werden würde.