Kreativität fängt dort an, wo man etwas anders macht
Je nach Biografie gestalten sich die Lebensthemen im Alter bei Frauen und Männern unterschiedlich.
Bild Unsplash
Über Kreativität und ihre Bedeutung hat unsere Autorin Ruth Wetzel häufig nachgedacht. Sie hat sich gefragt, ob und wann sie kreativ ist. Dabei stellte sie fest, dass dies von der Situation abhängig ist. Lässt sie sich emotional auf kreatives Tun ein, bewertet sie es nicht rational.
Von Ruth Wetzel
Eine einheitliche Definition für Kreativität verneinen viele Wissenschaftler, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Ursprünglich stammt der Begriff vom lateinischen creare und bedeutet erschaffen und hervorbringen.
Wie funktioniert diese kreative Lebensgestaltung bei einem Menschen mit Demenz, der zunehmend seine Selbständigkeit und kognitiven Fähigkeiten verliert? Das ist ja das Spannende. Im ersten Augenblick denkt man, das kann ja nicht mehr funktionieren.
Kreativität bedeutet nicht unbedingt, dass Sie sich künstlerisch betätigen, singen oder etwas darstellen. Im weitesten Sinn fängt Kreativität dort an, wo man etwas anders macht als auf die übliche Art, um neue Möglichkeiten zu entdecken oder zu entwickeln.1
Dies ist eine sehr berührende Beschreibung. Sie lädt ein zu der Kunst, im Kontakt mit dem Menschen mit Demenz, diesen sein Eigenes, Anderes entdecken und entwickeln zu lassen. Ihn seine Realität leben und genießen zu lassen. Sich in eine Person hineinzuversetzen und – wenn es passt! – mit ihr in ihrer Welt das zu tun, was sie in ihrem momentanen Bewusstsein an Impulsen wahrnimmt, auch ohne Worte. So kann vieles, was wir für alltäglich erachten, für den an Demenz erkrankten Menschen Kreativität und Kunst sein.
Kreativität ist ein motivierendes Element der Lebensgestaltung in jedem Alter. Sie fördert lebenslang die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen.
Diese kreative Grundhaltung führt bei den Betroffenen zu folgenden sinnvollen personzentrierten Ergebnissen: Durch ein offenes, wertfreies Miteinander entsteht eine gute Beziehung, in der sich mehr Vertrauen aufbaut. Verbale oder nonverbale Kommunikation wird möglich und fördert die Eigeninitiative und Aufmerksamkeit der betroffenen Person.
Wie bleibe ich trotz Demenz möglichst lange selbständig?
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Sie zeigt Interesse, probiert aus, macht mit, hält längere Phasen von Klarheit und Sicherheit. Beide Seiten haben im Idealfall Freude am kreativen Kontakt. Vergleichen Sie diese Ergebnisse mit den psychischen Bedürfnissen nach Tom Kitwood, so erscheint mir diese kreative Haltung lohnenswert. Eine kreative Haltung und Kreativ-Angebote wirken in vielen Facetten auf unseren Organismus, wie der folgende Überblick zeigt.
Physiologische Aspekte von Kreativität
💬 Entwicklung, Erhalt und Verbesserung der Motorik 💬 Koordination und Gleichgewicht 💬 Anregung der sinnlichen Wahrnehmung
Kognitive Aspekte von Kreativität
💬 Entfaltung von Kreativität 💬 Zeitliche, räumliche und situative Orientierung 💬 Nachahmung 💬 Sprachverständnis und Sprachausdruck 💬 Lesen und Schreiben
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💬 Kontaktfähigkeit 💬 Freude 💬 Identität 💬 Stabilität und Flexibilität 💬 Selbstachtung und Selbstvertrauen 💬 Interesse an der Zukunft 💬 vom Betreuten zum Betreuer werden (wenn jemand andere unterstützt) 💬 sich als Gestalter und Gebender erleben
Soziale Aspekte von Kreativität
💬 Interaktion mit bekannten Materialien fördert Kontakt und Kommunikation 💬 Identifikation mit der Gruppe und der Umgebung 💬 das Tun für sich und für andere
Die Wirkung von kreativem Tun auf das Selbstbild und Umgang mit dem Ich
💬 Wahrnehmung der eigenen Wirksamkeit 💬 gebraucht werden 💬 offensichtlich sinnvolles Tun Motivation, Engagement
Ich sehe Kreativität zusammenfassend als Anteil der Lebensqualität von Menschen mit Demenz, denn drei zentrale Merkmale davon sind das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, zu etwas nütze zu sein und in positiven Beziehungen mit anderen zu stehen. Wie nun Kreativität in der praktischen, personzentrierten Betreuung gelingen kann, beschreiben die nächsten beiden Abschnitte Schritt für Schritt, unter Berücksichtigung der weiblichen und männlichen Lebensthemen.
Methodischer Ansatz: Kreativität für Frauen
Überblick über die Schwerpunkte bzw. häufigen Lebensthemen in Biografien hochaltriger Frauen
Fallbeispiele wecken Emotionen und verbinden die Praxis mit der Theorie. Sie helfen mit, das Verhalten von Menschen mit Demenz zu verstehen. weiterlesen
Fallbeispiel
Phase 1 – Sammeln von Informationen
Frau Weiß lebt seit einem halben Jahr auf einer integrativen Pflegestation. Sie ist ledig; eine Nichte kommt sie regelmäßig besuchen. Sonst hat sie keine Kontaktpersonen mehr. Der Besuch tut der unruhigen, aber stillen Frau Weiß gut. Sie findet in der Zeit Ruhe. Sonst läuft sie sehr viel allein ihre bekannten Runden durchs Haus und durch den Garten.
Sie ist an der Alzheimer-Demenz erkrankt und befindet sich im Moment in der mittleren Phase. Angepasste, langsame Kommunikation kann sie noch zum größten Teil verarbeiten und auch kurz auf Fragen antworten.
Aus der Biografie wissen wir, dass sie sehr gern im Verkauf einer Bäckerei gearbeitet hat. Die Nichte erzählte mir, dass sie sehr strukturiert und ordentlich ist; ihr Haushalt war immer picobello, und genauso wirkt auch ihr Zimmer auf der Station.
Sie war eine Einzelgängerin, deren Kontakte zu Menschen sich weitgehend auf die Bäckerei beschränkten. Wenn ich ihr auf ihren täglichen Runden begegnete, hielt sie inne und blieb kurz stehen. Sie konnte mich wohl nicht mit meinem Namen begrüßen, aber die Beziehung passte trotzdem.
Eines Tages lud ich sie zu einer neuen Kreativgruppe ein: »Ich habe etwas ganz Besonderes vorbereitet und möchte Ihnen das gern zeigen.«
Sie ging mit mir mit. Ich hatte den Eindruck, sie freute sich darauf. Im Therapieraum hatte ich für vier Bewohner den Tisch mit Fingermalfarben, Wassermalfarben, Papier, Pinsel, alten Trägerschürzen und Wassergläsern vorbereitet. Sie kam als erste Bewohnerin an, und ich bat sie, sich einen Platz auszusuchen.
Sie schaute neugierig auf den Tisch und hatte schnell ihren Platz gefunden. Ich informierte sie, dass ich noch drei Bewohnerinnen abholen müsse, und bat sie um etwas Geduld. Sie könne sich die Sachen auf den Tisch schon mal anschauen. Etwa fünf Minuten später kam ich mit den drei Damen in den Therapieraum zurück. Was sah ich da?
Frau Weiß hatte die Schürze umgebunden, den Wassermalkasten zu ihrem Platz geholt und mit Malen begonnen. Auf ihrem Blatt konnte ich in einer Linie gleichmäßige, zart und fein gemalte Blumen sehen, wie eine Umrahmung des Blattes. Sie war so konzentriert dabei, dass Umhergehen im Moment gar nicht mehr wichtig war.
Durch die angebotenen, nonverbalen Reize und die Utensilien hatte sie ihre Kreativität wiederentdeckt.
Phase 2 – Ressourcen und Probleme
Welche Ressourcen stehen Frau Weiß noch zur Verfügung und mit welchen Problemen ist sie konfrontiert?
Ressourcen: 🌺 Sie hat eine Bindung/Beziehung und Vertrauen zu mir als Therapeutin 🌺 ihre Mobilität ist ohne Hilfsmittel gewährleistet 🌺 sie hat eine Nichte, die sie regelmäßig besucht 🌺 sie ist ordentlich und strukturiert in dem ihr bekannten Umfeld 🌺 sie liebte ihren Beruf in der Bäckerei 🌺 Feinmotorik noch vorhanden
Probleme: 💮 beginnende eingeschränkte Alltagskompetenz 💮 sie vergisst, Pausen einzulegen 💮 es können vermehrt überfordernde Situationen entstehen
Phase 3 – Ziele
📌 Frau Weiß lebt ihre Kreativität
📌 Frau Weiß erlebt Reize durch vielfältige Stimulation
📌 Frau Weiß erlebt und spürt (Selbst-)Vertrauen durch bekannte Materialien
📌 Frau Weiß erlebt Beschäftigung
📌 Frau Weiß erlebt Gemeinschaft
Phase 4 – Angebot mit Interventionsbeispiel
Ich ermutige Frau Weiß, einer Kreativgruppe beizutreten.
Die Einladung basiert auf unserer guten Beziehung: »Ich möchte Ihnen etwas neues Zeigen«. Dazu habe ich einen Tisch mit Malutensilien vorbereitet und eine Trägerschürze bereitgelegt. Im Therapieraum ist ungestörtes arbeiten einmal wöchentlich möglich. Die Dauer der Sitzungen beträgt je nach Konzentrationsfähigkeit 40 bis 50 Minuten.
Phase 5 – Durchführung
Dieses Fallbeispiel zeigt, wie nonverbale Stimulation Ressourcen weckt und die Selbständigkeit fördert. Frau Weiß erlebte Eigeninitiative durch vertraute Elemente. Was auf dem Blatt entstand, zeigte ihre Kreativität und Kunst. Sie lebte und arbeitete in ihrer Realität.
Wie bisher gezeigt, gehören Begrüßung und Verabschiedung sowohl in der Einzelaktivierung als auch in der Kleingruppe dazu.
In Kleingruppen mit Menschen mit einer fortgeschrittener Demenz kann es auch vorkommen, dass Sie bezogen auf die Biografie der Person vielleicht den ersten Schritt durch Führung der Hand anleiten müssen, egal mit welchem Medium. Wichtig ist nur, dass die Führung durch selbständiges Tun abgelöst wird, so dass die Kreativität des Betroffenen leben kann.
Je bekannter der Schlüsselreiz ist, desto kreativer und selbständiger kann die bekannte Beschäftigung geschehen. Der Wäschekorb mit frisch gewaschenen Geschirrtüchern weckt die Erinnerung und ermöglicht Selbständigkeit und Kreativität beim Falten der Wäsche.
Jeder hat seine eigene Art, diese zusammenzulegen und zu stapeln. Die gefaltete Wäsche sieht wie ein gleichmäßiger, kunstvoller Stapel aus – und wenn eher der »schiefe Turm« von Pisa herausgekommen ist, darf das genauso sein. Auch ein unordentlicher Wollknäuel kann Kreativität auslösen.
Wichtig dabei ist es, auf die Lebenswelt der Biografie des Menschen Bezug zu nehmen.
Phase 6 – Dokumentation
🖌 Frau Weiß hat selbständig die Utensilien zum Malen des Bildes herausgesucht, die sie strukturiert vor sich hinlegte.
🖌 Frau Weiß war dabei hochkonzentriert.
🖌 Frau Weiß malte feine, gleichmäßige Blumen als Umrahmung ihres Blattes.
Planungshilfe – Weitere kreative Angebote für Frauen
✍ Tisch decken am Sonntag mit einer besonderen Tischdecke; Falten von Servietten ✍ Blumenvasen mit jahreszeitlichen Blumen richten ✍ Wäsche falten und in den Schrank räumen ✍ Schatzkiste gestalten ✍ Erinnerungsbuch gestalten ✍ jahreszeitliche Dekoration im privaten Zimmer ✍ bei Blumenfreundinnen die Fensterbank nutzen
Ruth Wetzel aus Balzheim; Krankenschwester, Altentherapeutin, Gerontopsychiatrische Fachkraft, Gedächtnistrainerin, Referentin für Generationen- und Altenarbeit. Frau Wetzel ist freiberuflich tätig als Dozentin und Referentin mit dem Schwerpunkt Demenz in Aus-, Weiter- und Fortbildungen.
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