«Inklusion? Egal, wie man das nennt» - demenzjournal.com
chatbot

Rosen-Resli Kultur

«Inklusion? Egal, wie man das nennt»

Kunst regt die Sinne an und ist Balsam für die Seele. Michael Hagedorn

Eine Initiative von Vater und Sohn führt Menschen mit Demenz auf ungewöhnlichen Wegen in die Welt der Kunst.

Was für ein seltsames Paar: Hans-Robert Schlecht, 72, stützt sich schwer auf seinen Stock, Bart und Haare schlohweiß, wie ein Bär Balu, der in die Jahre gekommen ist. Neben ihm: Sohn Florian, 49, schlank und gespannt wie eine Feder, die Mähne hängt bis auf die Schultern.

Beide stehen im Foyer der Staatsgalerie von Stuttgart, um sie herum acht demenzkranke Menschen mit ihren Betreuern. Ein Grüppchen, das in der postmodernen Architektur des britischen Architekten James Stirling wirkt, als hätte es sich zwischen grellgrünen Fensterrahmen und pinkfarbenen Handläufen, zwischen Travertin und Sandstein verlaufen und müsste nun ratlos auf dem grasgrünen Linoleum ausharren.

Aber sie haben sich nicht verlaufen, sondern sind mit der Kunsthistorikerin Sabine Lutzeier verabredet, die sie über eine Rampe in die erste Etage führt. In Zeitlupe folgt das Grüppchen und setzt sich auf mitgebrachte Klapphocker vor das Pop Art Bild von Roy Lichtenstein, das eine Hand mit einer Spraydose zeigt.

«Ist das Sahne, was da aus der Dose kommt?», fragt eine Dame mit wallendem Weisshaar und beugt sich bis auf Nasenbreite dem Bild entgegen. Da ist auch schon die Aufpasserin im Anmarsch.

«Könnte sein», meint Florian Schlecht, während sich die ersten schon wieder abwenden. Nächste Station ist das Bild «Monturi in Rot und Blau» von Willi Baumeister. Hocker aufklappen, sitzen, schauen.

«Moderne Malerei», sagt Sabine Lutzeier. «So so», sagt eine zierliche Frau im Rollstuhl. «Und was soll das sein? Eine Landkarte? Vielleicht Ägypten?»

Alle zehn Minuten tippelt und rollt die Gruppe weiter. Als sie die Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck erreicht, schwenkt Hans Robert Schlecht seinen Krückstock auf eine Figur, die den Titel «Der Gestürzte» trägt und einen nackten Mann zeigt, der auf allen Vieren über den Boden kriecht.

«Ich werde nie vergessen», erzählt er, «wie wir einmal bei einem Museumsbesuch vor dieser Skulptur sassen und meine demenzkranke Mutter laut und deutlich rief: ’Was für ein geiler Arsch!’ Dabei war sie ihr Leben lang eine durch und durch prüde Person».

Interview

«Wir brauchen Neudenker»

Der deutsche Peter Wißmann wettert in seinem neuen Buch «Nebelwelten» gegen den Therapiewahn und fordert mehr Normalität im Umgang mit demenzkranken Menschen. Im Interview … weiterlesen

Kulturarbeit, nicht Sozialarbeit

Seit zehn Jahren führen Hans Robert Schlecht und Sohn Florian demenzkranke Menschen in Theater und Oper, Museen und Zirkus, zu Lesungen und Gottesdiensten. Sie haben dafür einen Verein gegründet und ihn «Rosen-Resli» genannt.

Der Name ist einer Schmonzette von 1954 entlehnt, in der Christine Kaufmann eine neunjährige Waise spielt, die sich rührend um ihre herzkranke Pflegemutter kümmert. Ziel des Engagements von Vater und Sohn ist es, die Lebensqualität dementer Menschen zu steigern. Deswegen verstehen sie sich als Entertainer. «Wir leisten Kulturarbeit, keine Sozialarbeit.»

Ist das Inklusion, wenn man eine Gruppe dementer Menschen durch die Stuttgarter Staatsgalerie oder ins Opernhaus führt? «Egal, wie man das nennt», sagt Vater Schlecht.

«Es geht um die Schönheit der Kunst, und kranke Menschen empfinden die ebenso wie gesunde. Das geht ins Herz.»

Manchmal. Manchmal auch nicht. «Das ist doch keine Kunst», raunt der Herr, der neben der zierlichen Frau im Rollstuhl steht und legt seine Hand auf ihre. Die anderen stimmen ein: «Nein, das ist keine Kunst!» Kopfschütteln, wegdrehen, weitergehen.

«In solchen Momenten juble ich im Stillen», freut sich Vater Schlecht. «Auf solche Kommentare warte ich.» Die Menschen anregen, darum gehe es ihm. «Wer Tag für Tag von morgens bis abends eine weisse Wand im Heim anstarrt, verstummt. Hier blühen sie auf, haben einen Grund zu reden.»

Hans Robert Schlecht war nicht immer Kulturbegleiter für demenzkranke Menschen. Er fing damit erst vor elf Jahren an, dafür aber mit mehr Energie und Ausdauer als für andere Etappen seines Lebens. Das Gymnasium brach er schon mit vierzehn Jahren ab.

Er zog mit Gitarre als Strassenmusiker quer durch Frankreich, bis das Stromern langweilte und das Geld ausging.

Zurück in Stuttgart jobbte er in einer Druckerei, leistete Zivildienst, heiratete, wurde Vater, verdingte sich als Chauffeur mit Schlips und Kragen, Kurier und landete schliesslich in einer Werbeagentur.

«Irgendwann fing ich an zu texten, machte mich selbständig und verdiente mehr Geld – in Süddeutschland, in Norddeutschland, eine Zeitlang in Italien. Bis meine Ex-Frau anrief und sagte, ich solle kommen, wenn ich Florian noch mal sehen möchte.»

Der Sohn, inzwischen achtzehn Jahre alt, hatte einen schweren Motorradunfall gehabt. «Er hat knapp überlebt», sagt der Vater.

Hans Robert Schlecht suchte sich Aufträge in Stuttgart, wo auch seine Eltern lebten, und blieb bei dem Sohn, der seinen Beruf als Bürokaufmann zunächst nicht mehr ausüben konnte. Auf der Beerdigung von Florians Grossvater im Jahr 2003 merkten beide, dass mit der Oma was nicht stimmte.

«Ich hatte keine Ahnung von Demenz, bis meine Mutter erkrankte», bekennt Hans Robert Schlecht. Als sie nicht mehr zurechtkam, zog er zu ihr. «Eigentlich wollte ich helfen. Aber ich machte alles falsch». Sohn Florian nickt.

«Wir haben sie eingesperrt, bevormundet, belehrt, vom Tisch weggesetzt und aus dem Zimmer gejagt.»

Nach zwei Jahren waren beide am Ende mit ihrer Kraft und fast pleite.

«Wir hatten monatelang keine Aufträge angenommen, meine Mutter brauchte Betreuung rund um die Uhr, sie war nachtaktiv. Fiel aus dem Bett, aus der Badewanne, stellte sich nachts unter die Dusche.»

Hans Robert Schlecht ging zur Demenz-Beratung der evangelischen Gesellschaft. «Ich brauchte Hilfe. Wir waren total erschöpft.» Diese empfahl eine neu gegründete Wohngemeinschaft für demenzkranke Menschen, die erste in Stuttgart, und dort fand Grossmutter Schlecht einen Platz im Pflegeheim «Haus Veronika».

Zwei Schreibtische und eine Idee

Die kranke Mutter war untergebracht, aber Sohn und Enkel standen ohne Geld, Wohnung und Arbeit da. Da hatte der Heimleiter eine Idee. Das Krankenhaus, das zum Heim gehörte, sollte abgerissen werden, der ehemalige Operationssaal stand jetzt schon leer.

Dort zogen Vater und Sohn mit zwei Schreibtischen und einer Idee ein: «In einer Kunstzeitung hatte ich einen Artikel über Kunstvermittlung für Menschen mit Demenz in New York gelesen, das faszinierte mich auf Anhieb.»

Hans Robert Schlecht schaffte es den Initiator des Projektes zu kontaktieren, einen John Zeisel, Soziologe und ehemaligen Professor der Harvard Universität, der neue Wege im Umgang mit Demenzkranken beschreibt, zum Beispiel, indem er sie ins «Museum of Modern Art» in New York führte.

Er war überzeugt, dass Alzheimer nicht Erinnerungen im Gehirn lösche, sondern nur den Zugang zu ihnen verschliesse. Als wären sie in einer Schublade gefangen. Kunst sei der Schlüssel, diese Schublade zu öffnen.

Es gelang den Professor nach Stuttgart zu locken, wo sie sich das Kulturangebot der Stadt anschauten. Zeisel war begeistert von Stuttgart. «Wir sollten die Leute überall mit hinnehmen: ins Staatstheater, in die großen Konzerthallen, ins Museum von Porsche und Mercedes, in die Staatsgalerie und in den Zirkus.»

So inspiriert, bauten Vater und Sohn Schlecht ein Netzwerk auf. Sie organisierten einen runden Tisch mit Vertretern der Alzheimergesellschaft, der Memory Klinik, des Demenz Supports und mehreren Heimleitern. Nicht alle Experten zeigten sich von der Idee begeistert.

Was drängten denn diese zwei Ahnungslosen in ihren Bereich? Die hatten doch keinen blassen Schimmer!

«Aber wir liessen nicht locker.» Das war 2006. Beide lebten von Hartz IV, was sie nicht hinderte, Briefe an alle möglichen Instanzen zu schreiben, zu telefonieren, zu überzeugen. «Hasko Weber, Intendant des Schauspielhauses, fand die Idee gut. Auch das Staatstheater wollte uns Plätze in der Oper verschaffen.»

Ebenso das Radiosymphonieorchester des SWR und die Konzertagentur Russ. Es konnte losgehen. Mit Alzheimer-Patienten aus dem Haus Veronika, in dem auch Mutter Schlecht wohnte.

Das erste Konzert fand mit Andreas Grau und Götz Schumacher an zwei Flügeln in der Liederhalle satt. Die Musiker hatten die Gruppe zur Generalprobe eingeladen. «Wir wussten ja nicht, wie sich unsere Schützlinge verhalten würden», erinnert sich Vater Schlecht.

Würden sie aufstehen und tanzen, mitsingen, auf die Bühne steigen oder sich zum Pianisten setzen?

Doch es ging von Anfang an gut. «Die Pianisten waren am Ende fast enttäuscht, dass wir nach einer Stunde den Saal verlassen haben.» Doch eine Stunde stillsitzen reicht für Menschen mit Demenz.

Beim Hinausgehen sagte eine der alten Damen: «Es war schön, aber warum waren nur so wenig Leute da?» Eine naheliegende Frage, wenn sich zwei Dutzend Besucher in einem Saal verlieren, der mehr als 2000 Menschen fasst.

Aber auch ein Indiz dafür, dass Demenz kein Synonym für Dummheit ist. Aus der gelungenen Generalprobe wurde die Idee der Konzertreihe «Open House» geboren, ein Modellversuch der Stuttgarter Philharmoniker, gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, der auch Demenzkranken Konzertbesuche ermöglicht.

«Wir holen Menschen aus ihrer inneren Immigration, raus aus dem Wohnzimmer oder Pflegeheim, rein in die Kulturtempel ihrer Region. Das ist Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.» 

Eben doch Inklusion. Aber mehr noch ein emotionales Erlebnis, gemeinsam mit Angehörigen oder Betreuenden. Dabei ist es egal, ob der alzheimerkranke Mensch früher Heino, die Beatles oder Mozart hörte. «Die Biografie interessiert uns nicht.»

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

Jetzt spenden

Aus unzähligen Altenheimen in Baden-Württemberg haben in den vergangenen elf Jahren mindestens 500 Menschen mit Demenz namhafte Orchester gehört und Galerien besucht, Lesungen, Gottesdienste, den Zirkus und das Varieté.

Hans Robert Schlecht ist dafür unermüdlich am Organisieren und Konzipieren, fällt den Wohlfahrtsverbänden, Pflegeheimträgern und auch Kirchen so lange auf die Nerven, bis sie mitmachen.

Für die Pflegekräfte in den Heimen ist das oft zusätzlicher Aufwand. Es gibt hundert vermeintliche Hürden, der fixe Tagesablauf mit festgelegten Essenszeiten ist eine davon. Hans Robert Schlecht und seine Ideen stören diesen Ablauf.

«Abendessen um 17 Uhr, ins Bett um 20 Uhr. Wie soll man da Konzerte besuchen?»

Aber auch das geht. Die Stuttgarter Philharmoniker spielen regelmäßig auch nachmittags auf.

Irgendwann mussten die beiden aus dem OP des Heims ausziehen, weil das Gebäude abgerissen wurde. Sie fanden Wohnungen und ein Büro und machten ehrenamtlich weiter. Mit Erfolg: Mal spendet Porsche 2000 Euro, mal der Thieme Verlag, eine evangelische Kirche rückt regelmässig Geld aus der Opferkasse raus.

Seit sechs Jahren bekommen sie einen Zuschuss der Stadt Stuttgart, 15’000 im Jahr. 2016 wurden die beiden für ihr Engagement mit dem Paul-Lechler-Preis ausgezeichnet. Er wird für beispielhaftes Engagement auf dem Gebiet der Inklusion verliehen. Ihr Verein «Rosen-Resli» erhielt 20’000 Euro für die Umsetzung einer neuen Idee:

Wir möchten in acht Städten in Baden-Württemberg die Philharmonischen Orchester mit einem Demenznetzwerk verbinden. Eine Struktur aufbauen, so dass in Stuttgart, Konstanz, Freiburg, Heilbronn, Mannheim, Pforzheim, Heidelberg und Reutlingen regelmäßig hunderte, nein tausende demenzkranke Menschen ins Konzert gehen.

Allein in Stuttgart leben 7000 Menschen mit Demenz. «Schon diese beeindruckenden Räume!» schwärmt Vater Schlecht. «Wenn ich dort Pucchini oder Mahler höre, kommen mir die Tränen.»

Manchmal bringen sie die Musik ins Museum

Wie neulich in der Staatsgalerie, als die Kunsthistorikerin die Gruppe zu einem Ölgemälde von Max Slevogt geführt hat. Es zeigt Don Giovanni, den berühmt berüchtigten Frauenverführer der Mozart-Oper. Hans Robert Schlecht hatte eine Überraschung organisiert.

«Wir standen vor dem Bild und sprachen über Schönheit und Liebe. Und wir hatten einen Opernsänger engagiert, der die Champagnerarie des Verführers singen sollte.» Als es soweit war, hatte er plötzlich Bedenken, ob das nicht die Alten von ihren Klappstühlen kippen würde. Aber nein: «Sie tanzten im Sitzen und schrien vor Begeisterung. Es war eine Sternstunde der Emotionen.»

Jetzt soll das Stuttgarter Pilotprojekt also landesweit in acht Städte ausgerollt werden. Hans Robert Schlecht macht sich an die Arbeit, telefoniert, schreibt Briefe und Mails, verfasst einen Newsletter für den Verteiler, 300 Adressen hat er schon, denn für dieses Projekt reichen die 20’000 der Lechler Stiftung nicht, da braucht es 200’000.

Wissenstransfer und Netzwerk

«Ohne Austausch bewegt man sich in Parallelwelten»

Das Netzwerk Demenz beider Basel vermittelt Wissen und vernetzt Institutionen und Berufsleute. alzheimer.ch sprach mit Aimée Fehr-Spring über vielbeschäftigte Hausärzte, interne Weiterbildungen und … weiterlesen

Die beiden sitzen in ihrem kargen Büro in der Nähe vom Hauptbahnhof und hacken in ihre gespendeten, schon etwas betagten Computer. Alle sollen vernetzt werden, Kommunen und Landkreise, Kulturschaffende, Sozialträger der Kirchen, Seniorenräte, Krankenkassen, Ärzte- und Apothekerverbände, Ehrenamtliche, mögliche Stifter und Förderer.

Die Idee, zunächst aus der Not geboren, ist zur Herzensangelegenheit geworden. Beide unterhalten sich inzwischen auf Augenhöhe mit Gerontologen, besuchen Seminare, lesen alles, was sie über Demenz in die Hände bekommen. Trotzdem:

«Wir sehen nur den Menschen, nicht die Demenz. Der muss nichts leisten, sondern nur reingehen und sich freuen. Das ist alles.»

Hans Robert Schlecht ist herzkrank, hat Bluthochdruck und zwei kaputte Knie. Und er macht immer weiter. «Ich habe den halben Weg schon zurückgelegt. Das war der schwierige Teil, der steinige. Jetzt geht es leicht bergab. Das ist besser als in der Weinstube hocken oder im Park.»

Auch die Ideen gehen nicht aus. Grade hat er den Dachverband der Chöre und Gesangsvereine in Baden-Württemberg kontaktiert. «Es muss doch möglich sein, dass Demenzkranke wieder zu ihren Proben kommen und mitsingen dürfen, mit ihren Ehepartnern und Freunden.»

In der Staatsgalerie schart sich die Gruppe inzwischen um das Gemälde «Mittagsgebet bei der Ernte», das Theodor Christoph Schütz im Jahr 1861 gemalt hat.

«Das ist schön! Das ist Kunst!», sagt die zierliche Frau im Rollstuhl. Alles schön zu erkennen. Die Familie sitzt unterm Apfelbaum, die Hände gefaltet, das Vesper auf der Decke ausgebreitet, im Hintergrund der Kirchturm von Herrenberg.

«Schön, ja.», meint auch die Dame mit wallendem Weisshaar und beugt sich dem Bild entgegen, während sich der Rest der Gruppe in die Idylle hinein zu träumen scheint.