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Gärten für Menschen mit Demenz (1)

Wie die Natur Menschen mit Demenz stärkt

Ein Garten wirkt therapeutisch. Schon ein wenig Natur im Alltag kann das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz steigern und fördert die Selbstwirksamkeit. Welche Pflanzen sind besonders geeignet? Wie gelingt der erste Schritt hinaus ins Freie?

Von Ulrike Kreuer

Mensch und Garten sind seit Beginn der Menschheitsgeschichte eng miteinander verbunden. Gärten berühren uns, sie wecken Hoffnungen und Erinnerungen und erfüllen elementare Bedürfnisse. Jedes Stückchen Grün – unabhängig von der Größe – hat das Potential, therapeutisch und sozial genutzt zu werden. Wie, das werde ich Ihnen in dieser Reihe zeigen.

Gärtnern ist gesund und selbstwirksam

Gärten sprechen unsere Existenz-, Individual- und Sozialbedürfnisse an. Denn wir treffen hier auf Gleichgesinnte und erleben gemeinsam eine schöne Zeit. Im Kreise lieber Menschen und an einem reich gedeckten Erntetisch zeigt sich das Leben von seiner sonnigen Seite.

Ulrike kreuer

Seit 20 Jahren entwickelt Ulrike Kreuer therapeutisch wirksame Gärten für und mit Senioren. Ihr Unternehmen »Der Dritte Frühling – Gärten für Menschen mit Demenz« wurde 2005 mit dem Innovationspreis von NRW ausgezeichnet. Sie ist Referentin für Gartentherapie und führt Workshops für Einrichtungen und Angehörige durch. Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Gartentherapie (IGGT).

Unabhängig vom kulturellen, sozialen und sprachlichen Hintergrund können sich Menschen diese Bedürfnisse erfüllen – ob sie sich nun einfach im Garten aufhalten oder aktiv gärtnern.

Die Beschäftigung mit Pflanzen und anderen Gartengewächsen bietet ein breites Spektrum an Tätigkeiten, die sich positiv auf die körperliche und geistige Gesundheit auswirken.

Denn beim Gärtnern kann man sich aktiv und angepasst an die eigenen Ressourcen betätigen. Gesundheit, insbesondere die psychische Gesundheit, entsteht durch die Fähigkeit, sich als selbstbestimmt handelnde Person wahrzunehmen, deren Handeln auch Auswirkungen hat.

Der Garten stellt einen Ort dar, in dem Menschen mit Demenz handeln können. Die Veränderung von Pflanzen in ihrem Lebenszyklus und ihre Pflege sind symbolisch für viele Bereiche des menschlichen Lebens. Gerade für Menschen mit Demenz sind das Beobachten und Be-Greifen von natürlichen Prozessen ein wichtiger Teil des Lebens.

Ein Garten stiftet Beziehungen

Der Handlungsspielraum eines an Demenz erkrankten Menschen wird zunehmend enger. Deshalb braucht es andere Wege, damit er seine Identität so lange wie möglich leben kann. Ein zentraler Weg sind Beziehungen. Nimmt die Handlungsfähigkeit ab, erfährt ein Mensch sich weiterhin in seinem Verhältnis zu anderen Menschen.

»Beziehung kann bestehen, auch wenn der Mensch, zu dem ich Du sage, in seiner Erfahrung es nicht vernimmt.«

Martin Buber (Religionsphilosoph, 1878 -1965)

Beziehungen sind wie Reiseführer in einem unbekannten Land. Sie führen mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen behutsam durch eine fremde Welt. Ein Reiseführer weiß, dass Kontakt nicht nur über verbale Kommunikation möglich ist, und dass über die Sprache nur ein Bruchteil an Kontakt vermittelt wird.

Viel wichtiger sind die Körpersprache und der Ausdruck von Gefühlen. Sie sind eine Abfolge kleiner Interaktionen, die manchmal so winzig erscheinen, dass wir sie zu wenig wertschätzen.

Tom Kitwood (Psychogerontologe, 1937-1998) nannte diese Abfolge an Interaktionen die »Perlen auf einer Schnur«. Ein kurzer Blick, ein in die Augen schauen, und die Welt ist nicht mehr ganz so fremd. Eine Summe an kleinen Perlen, die wie eine Kette einen Anker bilden.

Einen Weg durch den Garten gemeinsam gehen oder nebeneinander auf einer Bank im Grünen sitzen.
Sich die Sonne auf die Nase scheinen lassen und über die Größe des Erdbeerkuchens verhandeln.
Mit dem Wasser eines Brunnens spielen oder gemeinsam dem Regen lauschen.
Mit den Händen in der Erde wühlen und gemeinsam Kartoffeln setzen.
Sich an den Düften des Gartens durch seine Kindheit schnüffeln oder auf den Frühling warten.

Es braucht keine Worte, um gemeinsam zu sein. In Beziehungen von Mensch zu Mensch können sich Herzen begegnen, unabhängig von der Schwere einer Demenz.

Praxistipp: »Kuschelpflanzen« oder Stauden »begreifen«

🌿 Sogenannte »Kuschelpflanzen« sprechen besonders die Wahrnehmung an. Sie wollen »begriffen« werden, das heißt mit Tasten erfahren werden. Die Berührung beispielsweise des Weichen Frauenmantels (Alchemilla mollis) oder der Apfelminze (Mentha suavoelens) ist eine sensorische Stimulation, wie sie gerade für bettlägerige Menschen wichtig ist

🌿 Bettlägerig werden bringt oft einen Mangel an stimulierenden Umweltreizen mit sich, der dazu führen kann, dass Menschen mit Demenz diesen durch Selbststimulation zu kompensieren versuchen. Selbststimulation wie ständiges Rufen, Schaukelbewegungen oder Halluzinationen sind nicht allein dem Fehlen von Umweltreizen geschuldet, sie lassen sich auch nicht immer verhindern. Reizmangel kann aber Verwirrtheitssymptome triggern.

🌿 Reizüberflutung kann allerdings die gleichen Symptome hervorrufen. Deshalb ist es wichtig, das Reizangebot an den individuellen Reizbedarf eines Menschen mit Demenz anzupassen.

🌿 Weitere geeignete Pflanzen sind unter anderem Silber-Salbei (Salvia argentea), Woll-Ziest (Stachys byzantina), Hauswurz (Sempervivum-Arten) und Goldenes Frauenhaarmoos (Polytrichum commune).

Der Schritt in den Garten

»Der größte Schritt ist der aus der Tür«, sagt ein altes Sprichwort. So ist auch der erste Schritt in den Garten ein entscheidender Schritt. Nur er ermöglicht, dass weitere folgen können.

Wie diese Schwelle in den Garten überwunden wird, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Manch einer ist verhalten und vorsichtig, ein anderer schreitet neugierig und offensiv hinaus, ein dritter nimmt gar keine Schwelle wahr.

Die scheinbar so einfache Handlung, nach draußen zu gehen, kann für Menschen mit Demenz eine unüberwindbare Hürde darstellen.

Geräusche und Düfte verändern sich. Mal ist es kalt und windig, dann wieder warm oder heiß. Der Bodenbelag verändert sich und das Gehen fühlt sich anders an, manchmal sogar beschwerlicher auf hartem Beton.

Für einen Menschen, der an Demenz erkrankt ist, kann ein Farb- und Materialwechsel des Bodenbelags eine unüberwindbare Barriere darstellen. Der Boden, gerade noch hell und freundlich, wird plötzlich nicht mehr als sicherer Untergrund wahrgenommen. Zum Beispiel werden Fugen, Rillen oder Querstreifen in einem dunklen Betonpflaster als Stufen oder Abgrund erlebt und bremsen den Weg nach draußen.

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Menschen mit Demenz brauchen an der Schwelle nach draußen eine Spur, der sie folgen können. Schon oft konnte ich erleben, wie einer einfachen Linienführung im Bodenbelag vertrauensvoll gefolgt wurde. Einmal beobachtete ich einen Herrn, der mit strahlendem Gesicht und offensichtlicher Freude einen Kantenstein entlangbalancierte.

Nicht, dass der Kantenstein einem Schwebebalken geglichen hätte, ganz im Gegenteil: Er war ebenerdig angelegt. Aber entlang dieser Spur hatte dieser Mann riesigen Spaß. Die Betreuerin erzählte mir, dass er sich ausschließlich entlang des Kantensteins im Garten bewegt.

Und nicht nur Menschen mit Demenz fühlen sich entlang einer Linienführung sicher. Beobachten Sie einmal Ihr eigenes Verhalten. Woran orientieren Sie sich? (Fortsetzung folgt …)


Bücher

Ulrike Kreuer, »Gartengestaltung für Menschen mit Demenz« (Haupt 2020)

Ulrike Kreuer,  »Das Gartenjahr für Menschen mit Demenz« (Reinhardt 2022)