Worum geht es?
Demenzkranke wollen als Menschen wahrgenommen werden. Aber wir «Gesunden» können nicht ertragen, einen geliebten Angehörigen ins Vergessen gleiten zu sehen – wir therapieren, beschäftigen und medikamentieren, damit wir uns nicht hilflos fühlen. Doch hilft das den Dementen? Nein, im Gegenteil. Die Kranken möchten in ihrem So-Sein angenommen werden.
Was ist besonders? Michael Schmieder ist ein Mann der Praxis: Er lebt das, was er schreibt. Er nimmt die Demenzkranken und ihre Bedürfnisse ernst und behandelt jeden Kranken als Individuum. Die Dementen bestimmen die Bedingungen, unter denen sie leben möchten. Wenn das bedeutet, dass eine Patientin nur noch Torte isst und ein anderer am besten im Flur schläft, so ist das in Ordnung. Hauptsache, es geht ihnen gut.
«Wer mit demenzkranken Menschen und für sie lebt, erfährt sehr intensiv, dass sie alles andere als wandelnde Hüllen sind. Nichts an ihnen ist aufgesetzt, nichts unter Höflichkeit und Konventionen verborgen. Sie sind sensibel, liebevoll, charmant, offen, ehrlich, direkt, ungeschminkt. Menschen, die uns fordern, mit allen Schattierungen, die ein Menschenleben bietet.
Die Verwirrtheit gibt ihnen die Chance, sich selbst ohne Hemmschwelle zu erleben. Sie haben jetzt die Möglichkeit, das lebenslang Ungesagte zu sagen, das Ungelebte zu leben. Erst die Verwirrtheit schafft Zugang zu sich selbst. Sie birgt ein großes Potential an Freiheit. Es ist alles erlaubt, Zwänge bestehen nur für die anderen.
Demente Menschen brauchen sich keinen Normen zu unterwerfen, brauchen nicht zu arbeiten, stehen auf und essen, wann sie wollen, Geld interessiert sie nicht, sie haben keine familiären Sorgen, auch, weil sie vielleicht ihre Kinder nicht mehr kennen.
Auch wenn die Übergänge von einer Phase zur nächsten sehr schmerzlich sein können, von einem bestimmten Punkt an ist Verwirrtheit meist nur noch ein Problem für die Mitwelt, nicht für den Betroffenen selbst.» (Seite 56f.)
«Der Mensch besitzt Würde und hat damit das Recht auf Schutz eben dieser Würde, einfach weil er Mensch ist. Sie unterliegt keinerlei Bedingungen. Sie ist nicht abhängig davon, ob er autonome Entscheidungen treffen oder rational denken kann.»
«Es kommt nicht allzu oft vor, dass Peter Dolder mich besucht, eher schaue ich selber mal in einer unserer Wohngruppen vorbei, die er seit zwanzig Jahren betreut. Aber vor ein paar Tagen stand er auf einmal vor mir. «Könnte sein, dass da nachher jemand anruft und sich beschwert», sagte er in seinem behäbigen Schweizerdeutsch.
«Was ist denn passiert?», fragte ich. «Ich musste kurz ein wenig laut werden in dem Laden, wo ich mit den Frauen eingekauft habe», antwortete er. «Erzähl!», sagte ich, eher neugierig als besorgt, denn wenn Peter Dolder dabei ist, passiert nie etwas Schlimmes … » (S. 57f.)
«… Zum Einkauf im Supermarkt an diesem Morgen bot sich keine Alternative. Selbst wenn sie in einen anderen Laden ausgewichen wären, hätten sich die drei Frauen wohl in die Haare gekriegt. Auslöser war Frau Löhr, die sich einen Becher Joghurt nach dem anderen aus dem Kühlregal schnappte, den Deckel aufriss, den Zeigefinger hineinstach und ihn ableckte.Bild 1
Noch kein Grund, sich aufzuregen, obgleich es schon etwas lästig war, all die angebrochenen Becher bezahlen zu müssen. So etwas kommt vor, wenn wir mit Dementen unterwegs sind, selbst im Fall unserer Frau Löhr, die noch vor ein paar Jahren als Hauswirtschaftslehrerin gearbeitet hatte … » (S. 59)
«… Vielleicht schlummerte in Frau Löhr noch ein Gedanke an die berufliche Pflicht, jedes Nahrungsmittel vor dem Verzehr zu prüfen. Keiner weiß es. Zwecklos, sie daran zu hindern, also nahm ihr Peter Dolder behutsam und mit Dank den angebrochenen Joghurt aus der Hand und schob ihr den Becher zu, den sie gerade zuvor angestochen hatte. Auf diese Weise hätte er sie Schritt für Schritt, Becher für Becher zur Kasse bugsieren können, wenn sich nicht Frau Bachmann eingemischt hätte.
«Jetzt kriegt die noch einen Joghurt, wo sie doch zum Frühstück schon einen hatte!», dröhnte sie mit einer Stimme, die verriet, dass sie einst als Sängerin die Opernhäuser der Welt beschallt hatte. Die Kunden erstarrten vor Schreck – und Frau Löhr fing lauthals an zu weinen. Peter Dolder wusste, wie sie zu beruhigen wäre. Frau Löhr weint oft, besonders oft nach dem Aufstehen. In solchen Fällen helfen meist eine warme Dusche und ein Pflaster im Nacken, das die Depressionssymptome ein wenig mildern soll.
Eine Dusche hatte der Supermarkt nicht zu bieten, und zu allem Überfluss mischte sich jetzt auch noch die dritte im Bunde ein. «Nun weint sie. Immerzu weint sie!», rief Frau Dudek, was den Kummer und die Lautstärke der Frau Löhr noch erhöhte. «Da bin ich dann doch etwas laut geworden», berichtete Dolder. Jetzt sei es aber genug, habe er gesagt. «Wir sind hier doch nicht im Kindergarten!»
Die klare Ansage half, die drei Frauen beruhigten sich und hatten den Zwist im nächsten Augenblick vergessen…» (S. 60f.)