Der Gedanke der palliativen Arbeit ist nicht neu. Lebensqualität vor Lebensverlängerung um jeden Preis, lautet das Credo. Dass dies derzeit so gross thematisiert ist, hängt damit zusammen, dass wir die Konsequenzen, die mit einem immer höheren Lebensalter einhergehen, anders spüren als noch vor zehn Jahren. Jetzt gehts ans Eingemachte. Gesellschaftliche Verteilkämpfe werden an solchen Themen sichtbar.
Gleichzeitig stehen wir vor einem grossen Problem in der Medizin: Wir könnten viel mehr tun, als wir vielleicht tun sollten. Ist subjektive Lebensqualität einer Lebensverlängerung um jeden Preis vorzuziehen?
Palliative Care bedeutet, mehrdimensional zu denken, mehr als das medizinisch Machbare anzubieten. Es bedeutet, interdisziplinär zu handeln, Hierarchien zu hinterfragen und den Menschen in seiner Komplexität zu erfassen. Palliative Care bedeutet auch, eine palliative Haltung in einer Institution zu entwickeln.
Die meisten von uns möchten, wenn sie einmal pflegebedürftig und krank sind, kein unnötiges Leiden. Wir möchten nicht mittels Schläuchen und Maschinen am Leben bleiben. Mir ist niemand bekannt, der sagt, er möchte auch bei schwerster Erkrankung im Alter und bei Demenz, dass man alles Machbare tut.
Skurrile Erscheinungsformen
Wie also kann eine palliative Haltung bei Menschen mit Demenz in einem Pflegeheim aussehen? Wie kann eine spirituelle Haltung mit einer palliativen Haltung in Einklang gebracht werden? Als vor Jahren das Thema «Spiritualität» im Heim aktuell wurde, wollten plötzlich viele Institutionen spirituell werden.
Qualitätsmanagement ist ungeeignet
Erst durch eine palliative Haltung lässt sich eine palliativ orientierte Organisation entwickeln. Qualitätsmanagement-Systeme sind dafür nicht geeignet. Es braucht Menschen mit Überzeugungen und der Fähigkeit, anderen Menschen nahe zu sein, ohne sie zu erdrücken. Dazu braucht es Wissen und die Fähigkeit, mit diesem Wissen im Alltag den Menschen zu dienen. Es braucht Vertrauen zu den Pflegenden, Angehörigen und Patienten. Es braucht ein Leitbild, das aufzeigt, wie die Institution sich der Thematik annimmt, wie Mitarbeitende einbezogen werden, wie die Rolle von Angehörigen gesehen wird.
Dies führte oft zu skurrilen Erscheinungsformen. Da wurde von Atheisten vorgebetet, da wurden Kerzen angezündet und so weiter. Man wollte Rezepte und Listen, die es zum Abarbeiten gab. Wenn man 70 Prozent davon erfüllt hat, ist man spirituell.
Es gibt kein Rezeptbuch, weder zu Spiritualität noch zu Palliative Care. Bei Palliative Care ist es aber einfacher, Kriterien zu benennen, die eine palliative Haltung ausmachen.
Was die Palliativbewegung in den vergangenen Jahren mit viel Engagement aufgebaut hat, wurde auch wegen der Diskussionen um den assistierten Suizid stärker wahrgenommen. Zwei Pole wurden definiert: hier palliativ, dort Selbsttötung mit oder ohne Sterbehilfeorganisation.
Bei Demenz ist der assistierte Suizid aus verschiedenen Gründen kaum machbar. Dafür wird dem palliativen Weg viel mehr Gewicht beigemessen.
Die Entwicklung einer palliativen Haltung geht weiter in der Auseinandersetzung mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn von Leid, von Schmerz und Krankheit.
Was macht ein gutes Leben aus? Was ein gutes Sterben? Darauf kann ich keine allgemein gültige Antwort geben. Ich kann aber sagen, wie ich leben und wie ich nicht sterben will. Es gibt kein Prinzip, das unumstösslich sein muss. Es gibt immer nur Einzelfälle, und die werden als solche behandelt.
Wie lange ist ein Mensch mit Demenz autonom und wer trifft für ihn die Entscheidungen? Diesen Fragen muss sich eine Institution stellen. Es sei aber noch eine zweite Fragestellung erlaubt: Was kann ein Palliativ-Patient, der an Demenz erkrankt ist, einem Heim «bieten»?
Wenn wir unsere Arbeit als partnerschaftliches Wirken mit dem Erkrankten sehen, dann bietet er mir ja unendlich viel an. So viel Ehrlichkeit auf einem Fleck, so viel Echtheit, so viel Reduktion auf das, was es tatsächlich noch braucht. So viel Beziehung, wenn es nur noch Beziehung braucht.
Was das Heim bieten kann
Palliative Care beginnt für die Institution spätestens mit dem Eintritt ins Heim. Der Heimeintritt ist als solcher Ausdruck einer palliativen Situation: chronisch, unheilbar, tödlich. Was können wir also bieten?
- Beziehung: Wir sind echt und partnerschaftlich, wir sind interessiert am Menschen, an seiner Person.
- Stressfreiheit: Wir schaffen ein Umfeld, das entstresst, das flexibel ist, nicht überfordert, geduldig und nicht bewertend ist.
- Mensch: Wir sind reife Persönlichkeiten, wir reflektieren und haben das Bewusstsein, dass alles Fachliche dazu dient, das Menschliche gut zu tun.
- Kompetenz: Wir kennen die verschiedenen Werkzeuge und können sie im Alltag anwenden.
- Verantwortung: Wir sind sicher und verantwortungsbewusst in unserem Handeln.
- Ethik: Bei schwierigen Situationen kennen wir den Weg zur ethischen Entscheidungsfindung und wenden ihn auch an.
- Distanz und Nähe: Nicht alle Menschen wünschen diese oft übergriffig wirkenden Umarmungen. Im palliativen Alltag ist das sichtbare Loslassen ein durchaus möglicher Weg.
- Keine offenen Rechnungen: Das ist die grosse Chance, die wir im Heim haben. Wir haben keine gemeinsame Geschichte, wir haben nur das Jetzt und den zu erwartenden Tod. Wir müssen nichts beweisen, wir können uns dem Andern einfach zur Verfügung stellen. Dies ermöglicht eine friedvolle Atmosphäre.
- Schmerzen: Wir tun alles dafür, Schmerzen zu erkennen und zu reduzieren.
- Spiritueller Beistand: Wir schaffen einen Raum, in dem Gedanken, Gefühle und Spiritualität Platz haben.
- Wohltuende Routine: In der Begleitung von Schwerkranken, nicht zwingend Sterbenden, ist die wohltuende Routine einer der Garanten für Geborgenheit. Die Pflegeperson ist in der eigenen Mitte, und dies ist spürbar.
- Gemeinschaft: Das Einzelzimmer ist bei Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Stadium meist nicht geeignet. Dem Bewohner G emeinschaft zu bieten, bedeutet auch, das Bett in der Stube, im Korridor oder im Speisesaal zu platzieren. Rapporte finden nicht im Stationszimmer, sondern beim Bewohner statt.
Diese Aufzählung ist unvollständig, sie soll jedoch helfen, bewusst zu machen, wie viel wir tun können. Pflegende wissen meist sehr gut, was man tun sollte, aber die derzeitige Entwicklung ruft nach «Skill and Grademix», nach QM-Systemen. Optimierung ist vielen Institutionen wichtiger.
Eine palliative Haltung wird erst möglich, wenn sie von oben gefördert wird. Und da ist die Führung gefragt, da erkennt man rasch die Drückeberger, die sich hinter Schlagwörtern wie «kein Geld, wir machen eh schon alles» verschanzen.
Was kann ein Heim nicht bieten?
- Den Frieden mit allen (Angehörigen): Der Friede, so sehr wie wir ihn dem Betroffenen wünschen, ist nicht möglich, wenn schwelende Konflikte nicht gelöst wurden. Mit ihm das aushalten, das jedoch können wir.
- In Frieden gehen: Es gibt Menschen, deren Schicksal ist es, mit Fragen sterben zu müssen. Es gibt Fragen, die das Sterben schwieriger machen. Antworten auf diese Fragen stehen uns meist nicht zu. Wir können ihm beistehen, ihn begleiten, und, wenn es vielleicht gelingen kann, das Gefühl von Frieden aufkommen zu lassen in diesem Menschen, dann ist es gut, wenn es nicht gelingt, hat niemand etwas falsch gemacht.
Lassen Sie mich zum Schluss Leo Tolstoj zitieren (aus «Der Tod des Iwan Iljitsch»):
Iwan sagte zum Arzt: «Sie wissen doch selbst, dass Sie mir nicht helfen können. Lassen Sie mich also in Ruhe.» «Wir können die Leiden wenigstens erleichtern», sagte der Doktor. «Auch das können Sie nicht. Lassen Sie mich in Ruhe!» Furchtbarer als die körperlichen Schmerzen waren die seelischen. In dieser Nacht war Iwan der Gedanke gekommen, er hätte so gelebt, wie er nicht hätte leben sollen.
Tolstoj zeigt uns hier: Das Sterben beginnt mit der Geburt und ist Teil unseres Lebens. Am besten leben wir so, dass wir sterben können im Bewusstsein, dass wir so gelebt haben, wie wir hätten leben sollen.