Paul Kaufmann (Name von der Redaktion geändert) schätzt Harmonie und Geborgenheit. «Schön – das ist sehr schön – danke!», sagt er versonnen lächelnd, wenn die Betreuerin eine CD mit Sonaten von Johann Sebastian Bach laufen lässt. Gerne lässt sich Kaufmann von ihm vertrauten Menschen in den Arm nehmen. Auch anderen Genüssen wendet er sich gerne zu. Zum Beispiel Süssigkeiten, schönen Bildern oder seinem frisch gemachten Bett.
Paul Kaufmann ist Diabetiker, hat eine Mischform von Alzheimer und vaskulärer Demenz und Bluthochdruck. Er hat einen ängstlichen Charakter, kaum mehr Orientierung, kann sich nicht anziehen und waschen. Er ist urin- und stuhlinkontinent. Er braucht medizinische Versorgung, Pflege und Orientierungshilfen. Doch dagegen wehrt er sich oft.
Kaufmann erlebte als Kind den zweiten Weltkrieg hautnah. Er wuchs in Dresden auf, seine Eltern waren religiös und streng. Die siebenköpfige Familie lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Der Vater musste an die Front, und die Mutter kämpfte um die Existenz der Familie. Übernachtungen in Bunkern, Flucht vor den Bombardierungen der Alliierten, das bange Warten auf die Mutter, die Gräueltaten der Nazis, die Wirren der Nachkriegszeit: All dies hat Wunden hinterlassen.
Bevor sich 1961 die junge DDR einmauerte, kam er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in die Schweiz. Er erhielt eine Kaderstelle in der Administration eines Industriekonzerns. Nach 15 Jahren zerbrach das Familienglück. Kaufmann besuchte zwar seine Töchter regelmässig, litt aber stark unter der Trennung. Mitte der 1970er-Jahre fand er eine neue Partnerin, die er zehn Jahre später heiratete. Bis zu seiner Erkrankung erlebte Kaufmann eine erfüllte und glückliche Zeit mit Ausflügen, Reisen, Engagements in Vereinen und einer Arbeit, die er mochte. Erfüllung fand er auch in der Musik: Er spielte Akkordeon und Orgel, besass eine beträchtliche Sammlung von Klassik-Platten und -CDs.
Als er vor einem knappen Jahr in die Sonnweid kam, verfluchte er seine Frau, weil sie ihn hergebracht hatte. Anfangs stand er oft beim (mit einem Code gesicherten) Tor und wartete auf eine Gelegenheit zum Entwischen. Versuche, mit Hilfe eines Stuhles den einen Meter hohen Zaun zu überqueren, misslangen. Kaufmann will nicht mitkommen, wenn ihn die Betreuenden aus einer anderen Abteilung abholen oder ihn zu Tisch begleiten möchten.
Er weigert sich, Medikamente zu schlucken. Unbändig ist sein Widerstand gegen die Intimpflege und das Wechseln der Einlagen. Dagegen wehrt er sich oft mit Schreien, Tritten, Schlägen und Kopfstössen. Einigen Betreuenden hat er schmerzhafte Prellungen und Blutergüsse zugefügt.
Er braucht ein individuelles Pflegekonzept
Die Betreuenden könnten auf alle Handlungen verzichten, gegen die sich Paul Kaufmann wehrt. Oder sie könnten ihm, unterstützt durch starke Medikamente und harte Führung, die «übliche Pflege verabreichen». Weder das eine noch das andere ist ethisch vertretbar.
Gemeinsam mit Angehörigen, Ärzten und der Ethikgruppe suchen die Betreuenden deshalb nach Kaufmanns individuellem Weg: Wie viel Pflege und Betreuung braucht er? Worauf kann verzichtet werden? In einem zweiten Schritt geht es darum, mögliche Eskalationen auf ein Minimum zu reduzieren. Die Methodik der Betreuung und Pflege ist Kaufmanns Vorlieben und Abneigungen anzupassen.
Die Demenz hat Paul Kaufmanns Wut und Aggression demgegenüber, was er nicht will, verstärkt. Kognitive Defizite und Inkontinenz führen ihn oft in Situationen, die negative Gefühle verursachen. Seine Zuneigung zu allem, was harmonisch und schön ist, dürfte biografisch bedingt sein. Bis heute ist er ein ängstlicher Mensch geblieben und sehnt sich nach Nestwärme.
Seine Defizite machen ihn verzweifelt und wütend
Die beginnende Demenz zeigte sich, als Paul Kaufmann unter Stress verzweifelt und aggressiv wurde. Geräte, die nicht so funktionierten, wie er es sich vorstellte, machten ihn wütend. Später verlor er die Orientierung und musste mehrmals von der Polizei nach Hause gebracht werden. Kaufmann jenes Umfeld zu schaffen, in dem er möglichst wenig mit seinen Defiziten konfrontiert wird, ist für die Betreuenden eine grosse Herausforderung.
Verkotete Einlagen müssen gewechselt werden. Die Betreuenden dürfen damit aber auch einmal ein paar Momente warten, bis Paul Kaufmann «in der richtigen Stimmung» ist. Er weiss, wozu eine WC-Schüssel da ist. Wenn er eine sieht, reagiert er verständnisvoller auf das Ausziehen der Hosen. Da er sich in engen Räumen unwohl fühlt, erfolgt die Pflege in einer grösseren Toilette, manchmal auch in seinem Zimmer.
«Mir kommt es manchmal vor, als ob Herr Kaufmann einen Stimmungsschalter hat», sagt eine Betreuende. «Bevor ich ihn pflege, beobachte ich jeweils, in welcher Stellung sich der Schalter befindet. Meist erkenne ich an Gesichtsausdruck, Atmung und Körperspannung, ob er die Pflege zulässt oder ablehnt.» Die Betreuenden handeln ruhig und langsam. Trotzdem kommt es manchmal so weit, dass Kaufmann sich erbittert wehrt. In diesem Fall braucht es mehrere Betreuende, die ihn festhalten. Die Betreuenden protokollieren solche Interventionen und melden sie der Pflegedienstleitung.
Er trägt leichte und einfach auszuziehende Kleider
Dieses Monitoring gibt der Leitung Anhaltspunkte zu Belastungen in der Pflege und lässt sie die Grenzen der Betreuung in der Sonnweid immer wieder überdenken. Kaufmann mag es überhaupt nicht, wenn er ausgezogen wird. Er trägt deshalb leichte und komfortable Kleider, in denen er auch schlafen kann. Einen Schlafanzug braucht er nicht.
In Absprache mit den Angehörigen und der Ethikgruppe wird Paul Kaufmann – abgesehen vom Wechseln der Einlagen – einmal täglich gepflegt und gewaschen. Aus Rücksicht auf seine Schamgefühle duscht oder badet er nur einmal wöchentlich. Die Betreuenden animieren ihn dazu, sich selbst einzuseifen, damit er alleine unter der Dusche sein kann. Sie haben festgestellt, dass Kaufmann abends anhänglicher und sanfter – und damit auch empfänglicher für die Körperpflege ist.
Als ehemaliger Administrator schreibt und zählt Paul Kaufmann gerne. Manchmal nimmt er an den Stationssitzungen teil und führt dabei ein eigenes Protokoll. Er reagiert positiv auf klassische Musik. Die meisten anderen Aktivierungen lehnt er ab. Er wird daher nicht genötigt, daran teilzunehmen. Kaufmann hat gute Bewegungsressourcen. Aber er braucht Inputs.
Wenn die Betreuenden das Gefühl haben, dass Kaufmann müde ist vom langen Gehen, führen sie ihn zum Sofa und setzen sich. Meist tut er es ihnen nach. Spaziergänge durch die Gänge und den Garten macht er gerne in Gesellschaft. Dabei passen sich die Betreuenden seinem Tempo und seinen Schritten an. Wenn er stehen bleibt, versuchen sie nicht, ihn weiterzuführen.
Austausch an Teamrapporten, Fallbesprechungen und Coaching
Regelmässig bespricht das Betreuungsteam der Sonnweid belastende Situationen und gute Momente in der Betreuung und Pflege von Paul Kaufmann. Verschiedene Betreuende absolvieren den Kurs «Aggressionsmanagement». Kenntnisse zur Lebensgeschichte helfen, das Verständnis zu vertiefen, geben aber nicht immer Hinweise für das Verhalten in der Demenz. Zum Beispiel liebte Kaufmann früher Saunagänge, zeigt nun aber starke Schamgefühle.
In Fallbesprechungen erarbeitet das Team Lösungsstrategien für den Umgang. Erfahrungen mit verbaler Aggression und Tätlichkeiten sind verletzend für die Pflegenden, auch wenn sie in der Krankheit die Ursachen dafür finden. Hier können Einzelsupervisionen oder Coachings helfen, die eigenen Gefühle einzuordnen und persönliche Strategien zu finden, mit Verletzungen umzugehen.
Paul Kaufmann hält sich gerne in grossen und hellen Räumen auf. Er sucht zwar die Gesellschaft anderer Menschen, verträgt aber weder Hektik noch Unruhe. TV-Nachrichten aus Kriegsgebieten oder Actionfilme würden ihn verängstigen. Wenn die Stimmung unter den Mitbewohnern angespannt ist, führen ihn die Betreuenden in einen anderen Raum.
Kaufmann reagiert positiv auf Berührungen und basale Stimulationen von ihm vertrauten Betreuenden. Er mag es, wenn die Betreuenden mit ihm auf einem Sofa sitzen und ihm etwas erzählen. Auch die Kuschelwirkung der an seinen Körper geschmiegten (nordischen) Bettdecke hat er sehr gerne. Auf stützende Aromen wie Rose, Neroli, Patschuli oder Johanniskraut reagiert er positiv. Nach einem halben Jahr in der Sonnweid wurden die Verweigerungen weniger schlimm, weil er den Betreuenden zu vertrauen begann.
Er isst, wann er will und geht, wohin er will
Paul Kaufmann mag keine einengenden Strukturen und Beschränkungen. Er isst, wann er will und geht, wohin er will. Geschlossene Türen und starre Tagesstrukturen verärgern ihn. Wenn er nicht am gemeinsamen Essen teilnehmen will, lässt man ihn später essen.
In den Gängen der Sonnweid stehen «Zufallsteller» mit Häppchen, von denen er sich jederzeit bedienen kann. In Absprache mit den Angehörigen nötigt man ihn auch nicht, gesund zu essen. Wenn sich Kaufmann in einer anderen Abteilung wohl fühlt, lässt man ihn dort und begleitet ihn zurück, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.
Paul Kaufmann verweigert die Einnahme von Medikamenten. Deshalb werden sie dem Essen beigemischt. Er bekommt Medikamente zur Stützung der kognitiven Fähigkeiten und gegen den Bluthochdruck. Wenn er sich gewalttätig und verzweifelt gegen die Pflege wehrt, bekommt er ein Beruhigungsmittel. Eine gute Zusammenarbeit mit dem Psychiater erleichtert dabei das Finden der geeigneten Medikation und Dosierung. Sporadisch werden Kaufmann Einläufe verabreicht gegen seine Verstopfung. Davor werden ihm manchmal Beruhigungsmittel gegeben.