Wo auch Patienten mit Demenz das Sagen haben - demenzjournal.com
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Mit Demenz im Spital

Wo auch Patienten mit Demenz das Sagen haben

«Die Menschen müssen wissen, was ich mache. Das braucht Zeit», sagt Markus Minder. Uli Reinhardt, Mut Magazin

Im Spital Affoltern bei Zürich geniessen ältere Menschen mit Demenz besonders viel Aufmerksamkeit. Das Rezept des Klinikchefs Markus Minder: Spezialisten verschiedener Fachrichtung kooperieren bei den Behandlungen und lassen die Patienten an ihrer Arbeit teilhaben.

Von Frank Brunner, Mut Magazin

Ein sonniger Nachmittag in Affoltern bei Zürich. Normalerweise sitzt Markus Minder um diese Tageszeit in Konferenzen. Doch vor seinem nächsten Termin will er einen Mann besuchen, der allmählich in eine Welt verschwindet, in die ihm keiner folgen kann. 

Markus Minder, Facharzt für Geriatrie und Palliativmedizin, 49 Jahre, gross und schlank, leitet die Abteilung. Geriatrie heisst so viel wie Altersheilkunde, ihre Patienten sind meist älter als 65 Jahre. 40 Prozent aller Menschen, die im Rentenalter stationär behandelt werden, weisen kognitive Störungen auf. 

Fast jeder Fünfte von ihnen leidet an Demenz. Ein Krankenhausaufenthalt ist für diese Menschen der pure Stress. Es ist für sie schwierig bis unmöglich, sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden. Sie verstehen vielleicht nicht, warum sie da sind, können keine Auskunft über ihre Beschwerden geben und einem Aufklärungsgespräch nicht folgen. 

In einer guten Geriatrie wie im Spital Affoltern behalten Ärzte und Pflegende nicht nur organische Krankheiten im Auge, sondern auch Demenz und ihre Begleiterkrankungen. Physiotherapeuten sorgen beispielsweise dafür, dass sich das Risiko zu stürzen minimiert, Ernährungsberater und Ergotherapeuten stehen bereit, dem mentalen und körperlichen Abbau vorzubeugen, der durch langes Liegen droht. 

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Für einen Chefarzt wirkt Markus Minder ungewöhnlich unprätentiös. Schon vor seinem Studium arbeitete er vier Monate in einem Pflegezentrum. Später, als Assistenzarzt, faszinierte ihn die Arbeit mit älteren Patienten. Der Schweizer Palliativpionier Roland Kunz wurde sein Mentor. 

Palliative Therapie ist eine medizinische Behandlung, die nicht auf das Heilen der Krankheit abzielt, sondern darauf, die Schmerzen zu lindern. Gemeinsam etablierten sie die Palliativmedizin in Affoltern.

«Ich bekomme viel Dankbarkeit zurück»

Es sei nicht deprimierend, ständig die Endlichkeit des Lebens vor Augen zu haben, erklärt Markus Minder. «Sicher ist es nicht einfach, Menschen mit schweren Krankheiten zu begleiten, ob mit oder ohne Demenz, gleichzeitig bekomme ich viel Dankbarkeit von Patienten und Angehörigen zurück und das ist sehr erfüllend.» 

Auf der Palliativstation werde auch viel gelacht, betont Markus Minder. «Zudem macht es mir Freude, nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit Pflegern und Physiotherapeuten zusammenzuarbeiten.» Minders Ziel ist ein restaurierter Altbau am Rande des Klinikgeländes. Dort liegt das Kompetenzzentrum Palliative Care für Menschen mit unheilbaren Krankheiten. Die Abteilung gehört zum Zentrum für Altersmedizin. 

Geriater untersucht alle Patienten über 70

Auf der Station klopft er an die Tür von Herbert Lüthi* und tritt ins Zimmer. Der 84-Jährige lächelt, als er den Chefarzt erkennt. Seit vier Tagen ist er hier, nachdem er sich bei einem Sturz mehrere Knochen gebrochen hatte. 

In anderen Kliniken hätte man ihn in die Chirurgie gelegt, doch in Affoltern ist einiges anders. Alle Patienten, die älter als 70 sind, werden hier auch von einem Facharzt für Geriatrie untersucht. Bei Herbert Lüthi diagnostizierten die Ärzte neben den Frakturen auch eine Demenz. Deshalb ist er jetzt in der Palliativabteilung. 

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Nur zur OP verlegten ihn die Ärzte in die Chirurgie. «Menschen mit Demenz sind in der ungewohnten Umgebung eines Krankenhauses so gestresst, überfordert, verwirrt und mitunter aggressiv, dass sie manchmal in der Psychiatrie landen, wo sie nicht hingehören. Denn dort sind Ärzte und Pflegende mit den organischen Problemen überfordert und schicken die Menschen wieder in die ursprüngliche Abteilung zurück.»

Der normale Klinikalltag sei für sie eine Katastrophe, sagt Markus Minder. «Manche fassen sich nach Operationen an ihre Wunden, was zu Infektionen führen kann, oder sie stehen auf und stürzen erneut.» 

Auch die Ehefrau bekommt eine Therapie

«Wie geht es Ihnen?», fragt Markus Minder, zieht einen Stuhl ans Bett und setzt sich. «Alles gut», sagt Herbert Lüthi leise. «Ich habe gestern mit Ihrer Frau gesprochen.» Lüthi schweigt. «Wir müssen festlegen, wie es für Sie beide zu Hause weitergeht.» Lüthi nickt. «Ihre Frau ist ja auch etwas wacklig auf den Beinen, wir kümmern uns, dass sie ebenfalls eine Therapie bekommt.» 

«Gut», sagt Lüthi. Minder erklärt dem alten Herrn langsam und ruhig, welche Untersuchungen ihn in den kommenden Tagen erwarten. Dann verabschiedet er sich. «Die Menschen müssen wissen, was ich mache und das braucht Zeit.» Herbert Lüthis Demenz ist noch im Anfangsstadium

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Für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium existiert in Affoltern eine besondere Einrichtung, die Minder auch an diesem Nachmittag besucht. Seine akutgeriatrische Spezialstation hat zwar nur sechs Betten, dafür ein Team aus Altersmedizinern, Psychiatern, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sozial- und Ernährungsberatern. Das ist aussergewöhnlich und vorbildlich. 

Zwei Wochen lang betreuen sie in der Regel Patienten nach Operationen, Herzinfarkten oder Stürzen. Sind Knochenbrüche für Ältere schon schlimm genug, kommen bei Demenz oft weitere Leiden dazu, die sich teilweise gegenseitig beeinflussen: Neben Eiweissmangel und Gedächtnisverlust, Sprachproblemen und Depression besteht oft auch die Gefahr, dass der verwirrte Schützling ausreisst. 

Eine Spritze kann viel Stress auslösen

Damit Leben auch am Ende lebenswert bleibt, braucht es Spezialisten und sehr viel Zuwendung. Die beginnt schon bei einfachen Prozeduren wie Blutentnahmen. «Demenzkranke Patienten verstehen oft nicht, warum jemand mit einer Nadel auf sie zukommt, sie wehren sich – ein Riesenstress für alle Beteiligten.» 

Die Patientin Vreni Stettler* nebenan verweigerte zwei Tage lang die Blutentnahme. In anderen Kliniken halten Pfleger in solchen Fällen Patienten auch mal gewaltsam fest. «Das machen wir nicht», sagt Ulrike Darsow, leitendende Oberärztin der Spezialstation. «Bei uns versuchten Ärzte und Pfleger Frau Stettler immer wieder von der Notwendigkeit zu überzeugen.» 

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Mal sei es eine Pflegerin, dann ein Pfleger, denn manche Patienten reagieren positiver auf Männer, andere auf Frauen. Reden, abwarten, reden, abwarten. Und am dritten Nachmittag akzeptierte Vreni Stettler plötzlich den Piks. «Es braucht viel Geduld, um ohne Zwang ans Ziel zu kommen», sagt Ulrike Darsow. 

Im Aufenthaltsraum begrüsst Minder drei ältere Damen, die an einem Tisch sitzen. Alle leiden unter schwerer Demenz. Der Bereich, der an die gemütliche Wohnküche einer WG und weniger an ein Spital erinnert, ist zentraler Teil des Pflegekonzepts. «Wir wollen, dass möglichst alle Patienten den Tag in Gesellschaft verbringen oder wenigstens zusammen essen», erklärt Ulrike Darsow.

Weniger sedierende Medikamente

Eine Pflegeschülerin zeigt einer von ihnen Fotos aus dem Familienalbum. Konzentriert betrachtet die Frau das Bild, sagt kein Wort, aber plötzlich lächelt sie. «Es geht darum, positive Erinnerungen zu wecken, anzuregen, über die Bilder nachzudenken», erklärt Ulrike Darsow. 

Die Menschen seien hier viel entspannter als auf einer normalen Station. «Das merken wir schon daran, dass wir deutlich weniger sedierende Medikamente benötigen.» 


* Die Namen der Patienten sind geändert.

Dieser Artikel erschien im Herbst 2022 im Mut – Magazin für Lösungen. Wir bedanken uns bei der Redaktion für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.