Von Felicitas Witte

alzheimer.ch: Herr Zwergal, Sie leiten das Deutsche Schwindelzentrum in München. Warum braucht es ein nationales Schwindelzentrum?

Andreas Zwergal: Die Ursachen von Schwindel können in verschiedenen Organen stecken, etwa im Innenohr, im Gehirn oder im Herzen. Das Symptom fällt damit häufig zwischen herkömmliche Fächergrenzen. Die Folge ist eine eklatante Fehlversorgung. Viele Patienten haben eine Odyssee an Arztbesuchen hinter sich.

In einem interdisziplinären Schwindelzentrum arbeiten Ärzte verschiedener Fächer, also Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Neurologie und Psychiatrie, zusammen mit Therapeuten an der korrekten Einordnung von Schwindelursachen und der optimalen Therapie. Die meisten Schwindelerkrankungen können dabei effektiv behandelt werden. Darüber hinaus kann man an einem nationalen Schwindelzentrum auf besondere Situationen eingehen, etwa Schwindelerkrankungen bei Kindern oder Schwindel bei neurodegenerativen Krankheiten.

Zur Person

Dr. Andreas Zwergal ist Facharzt für Neurologie und leitet das Deutsche Schwindel- und Gleichgewichtszentrum am Klinikum der Universität München. Er koordiniert ein Europäisches Forschungsnetzwerk zum Thema Schwindel namens DIZZYNET. Er forscht über die Ursachen von Schwindel und über neue Therapieverfahren bei Gleichgewichts- und Gangstörungen.

Meine Freundin, knapp 50, hat Angst. Ihr wurde jetzt zweimal abends im Bett urplötzlich schwindelig. Alles drehte sich um sie, sie musste sich am Bett festkrallen. Nach kurzer Zeit war der Spuk vorbei. Ihre Mutter ist an einem Hirntumor gestorben, eines der ersten Symptome war Schwindel gewesen. Ist die Sorge berechtigt?

Die meisten Patienten mit Schwindel sind in einem absoluten Ausnahmezustand. Das Gefühl, komplett den Boden unter den Füssen zu verlieren, muss furchtbar sein. Ich kann Ihre Freundin aber beruhigen:  Höchstwahrscheinlich hat sie einen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel.

Paroxys… Was?

Einen gutartigen, anfallsartigen Lagerungsschwindel. Hierbei gelangen ein paar Steinchen von den so genannten Otolithenorganen im Innenohr in die Bogengänge und bringen die Gleichgewichts-Sinneszellen durcheinander.

Warum sind Sie sich so sicher?

«Häufiges ist häufig, seltenes ist selten», sagen wir Ärzte. Es ist die häufigste Schwindelform, abgesehen davon sind die Symptome Ihrer Freundin ziemlich eindeutig. Für die Diagnose müsste man gezielter fragen: Kommt der Schwindel immer dann, wenn sie sich hinlegt oder im Liegen umdreht? Sind die Attacken kürzer als eine Minute und wenn sie den Kopf ruhig hält, passiert nichts? Das spricht alles für einen Lagerungsschwindel.

Andreas Zwergal.Bild PD

Geht der wieder weg?

Behandeln lässt sich der Schwindel sehr einfach: Der Arzt dreht den Kopf Ihrer Freundin nach rechts und legt sie auf ihre linke Körperseite. Nach einer Minute bringt er den Körper mit Schwung um 180 Grad auf die andere Seite, ohne die Kopfposition zu verändern und richtet die Freundin danach wieder auf.

So bringt der Kollege die Steinchen aus dem Bogengang hinaus an eine ungefährliche Position. Ihre Freundin sollte danach das Lagerungsmanöver dreimal täglich zu Hause selbst zu machen, falls doch noch ein Steinchen im Bogengang ist. So lange, bis sie keinen Schwindel mehr auslösen kann.

Es gibt Leute, denen ist öfter mal so schwindelig, dass sie sich gar nicht mehr vor die Tür trauen aus Angst, draussen umzukippen.

Ja, solche Patienten sehe ich auch immer wieder. Es lohnt sich aber, Schwindel abzuklären. Denn meistens können wir ihn gut behandeln.

Wie kommen Sie auf die Diagnose?

Eine wichtige Information ist, wie lange der Schwindel dauert. Meiner 40-jährigen Patientin neulich war fast täglich mehrere Stunden schwindelig. Sie sagte, es fühle sich an wie auf einem schwankenden Boot. Kurz danach bekam sie immer starke Kopfschmerzen und konnte helles Licht nicht ertragen.

Auch hier sind die Symptome so typisch, dass keine apparativen Untersuchungen notwendig waren. Die Frau hatte eine Migräne des Gleichgewichtsorgans. Mit einem Migränemedikament lässt der Schwindel nach.

Was ist, wenn ein Schwindel nur Bruchteile von Sekunden dauert?

Tritt er dazu noch Dutzende Male pro Tag auf, könnte es an einer so genannten Vestibularisparoxysmie liegen.

Sie Ärzte immer mit Ihren Fremdwörtern. Was ist das nun für eine paroxys…?

Vestibularis ist der Gleichgewichtsnerv und paroxysmal bedeutet auch hier, dass es regelmässig immer wieder auftritt. Eine winzige Arterie drückt mit jedem Pulsschlag auf den Gleichgewichtsnerv. Das irritiert ihn, und er reagiert mit Schwindel. Der Schwindel verschwindet mit einem Epilepsie-Medikament in sehr geringer Dosis.

Entsteht Schwindel immer im Kopf?

Nein, die Ursachen können prinzipiell überall im Körper stecken. Vor allem bei älteren Menschen. Hat man neben dem Schwindel plötzlich starke Kopf- oder Nackenschmerzen, sieht doppelt, sind Arme oder Beine gelähmt oder kann man nicht mehr sprechen, sollte man sofort in eine Klinik.

Die Bogengänge des Innenohrs steuern unseren Gleichgewichtssinn.Bild PD

Denn diese Symptome weisen auf einen Schlaganfall. Nicht nur der Sauerstoffmangel bei einem Schlaganfall kann das Gleichgewichtssystem schädigen, ebenso ein Tumor oder eine Infektion. Auch wenn es einen öfter schwindelt, wenn man zum Bus eilt oder sich anstrengt, ist ein umgehender Arztbesuch anzuraten. Schwindel bei Anstrengung ist typisch für eine verengte Aortenklappe, bei der das Gehirn und damit das Gleichgewichtsorgan nicht mehr ausreichend durchblutet wird.

Wie behandelt man das?

Die Kollegen ersetzen die verengte Klappe mit einem Herzkatheter oder in einer Operation, und der Schwindel verschwindet. Schwindelt es einen so sehr, dass man sich festhalten muss oder gar stürzt, könnte ein sogenannter AV-Block dahinterstecken, bei dem die elektrische Überleitung von den Vorhöfen zu den Herzkammern gestört ist. Behandelt wird der Block mit einem Schrittmacher.

Eine junge Pflegefachfrau klagte neulich, ihr sei öfter schwindelig. Es drehe sich aber nichts, sondern ihr werde schwummrig vor Augen.

Bei jungen Damen liegt es meist am niedrigen Blutdruck und ist harmlos. Das Gehirn wird vorübergehend nicht so gut durchblutet. Ich empfehle regelmässigen Sport, genügend trinken und ab und zu eine salzige Bouillon. Einmal stellte sich aber eine junge Frau mit Schwindel vor, bei der die Blutdruckwerte völlig normal waren. Sie spüre Atemnot bei den Schwindelanfällen, ihr Herz schlage ganz schnell und sie habe Angst, eine Hirnkrankheit zu haben. Ich habe mich dann länger mit ihr unterhalten.

Die Frau achtete zwanghaft auf jedes kleine Gleichgewichtsproblem und interpretierte das als Zeichen einer Hirnkrankheit. Dieser Gedanke verstärkte ihre Angst, und ihr wurde schwindelig. Ich riet ihr dann, einen Psychiater aufzusuchen. Eine kognitive Verhaltenstherapie half ihr, das Schwindelproblem in den Griff zu bekommen.

Wenn man Schlittschuhlaufen war oder eine Bootsfahrt macht und wieder festen Boden unter den Füssen hat, schwankt man öfter noch etwas nach. Woran liegt das?

Das Gleichgewichtsorgan muss sich erst wieder «neu eichen» – das ist völlig normal. Bei manchen dauert der Schwankschwindel jedoch an, das nennen wir «de Débarquement-Syndrom». «Débarquement» heisst auf Französisch «Landung». Bei den Betroffenen funktioniert das Zusammenspiel von Seh- und Gleichgewichtssinn nicht mehr richtig – das löst Schwindel aus.

Wie wird man den Schwindel los?

Nicht so leicht. Mit physiotherapeutischem Schwindeltraining kann man versuchen, das Gehirn wieder «umzuprogrammmieren». Das Training hilft aber leider nicht sofort, man braucht Geduld und Durchhaltevermögen.

Offenbar litt schon Martin Luther unter Schwindel. Er schrieb von Schwindelattacken, Brausen und Klingen im Ohr und war überzeugt: Da muss der Teufel im Spiel sein. Was hatte Luther?

Vermutlich ein höchst irdisches Problem: Einen Morbus Menière. Hierbei staut sich aus ungeklärten Gründen die Flüssigkeit im Innenohr, es kommt zu einem Überdruck und zu Messfehlern bei den Gleichgewichts-Sensoren. Medikamente können die Schwindelsymptome lindern. Obwohl es diese zu Luthers Zeiten noch nicht gab, scheint ihn dies in seinem Streben nach Reformation nicht gehindert zu haben.

Ist Demenz-Patienten öfter schwindelig als anderen Menschen?

Ja. Wir sehen immer wieder Patienten in der Schwindelambulanz, die über ein diffuses Benommenheits- und Schwindelgefühl klagen, ohne dass sich eine eindeutige Störung der Gleichgewichtskontrolle zeigt. Gelegentlich liegt die Ursache dann in einer beginnenden Demenz. Grössere Studien zeigen, dass bis zu jeder zweite Patient mit Demenz über Schwindel klagt.   

Woran liegt das?

Das wissen wir noch nicht genau. Bei Alzheimer-Patienten finden wir häufiger Defizite im Gleichgewichtsorgan als bei gleichaltrigen Gesunden. Auf der anderen Seite zeigen auch Patienten mit einer beidseitigen Störung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr einen schnelleren Abbau der kognitiven Fähigkeiten. Es stellt sich also die Frage, was ist Henne und was ist Ei.

Wie meinen Sie das?

Es könnte einerseits sein, dass eine Störung des Gleichgewichtssinns – etwa bei der bilateralen Vestibulopathie im Alter – das Risiko für eine Demenz erhöht. Bei dieser Krankheit gehen altersbedingt die Gleichgewichts-Sinneszellen im Innenohr zugrunde, ähnlich wie bei der Altersschwerhörigkeit.

Dafür spricht, dass Gleichgewichtssignale für die Funktion bestimmter Hirnregionen – wie dem Hippocampus – wichtig sind. Diese Regionen sind auch bei der Alzheimer-Demenz betroffen. Anders herum könnten auch die Abbauprozesse im Gehirn von Alzheimer-Patienten den Schwindel auslösen, da die Wahrnehmung des Raumes dadurch gestört wird. 

Gibt es eine Möglichkeit, Gleichgewichtssystem und Gedächtnis gleichzeitig zu trainieren?

Regelmässige körperliche Bewegung hält das Gleichgewichtssystem jung und beugt einer Demenz vor. Gut ist Tanzen, Yoga oder Tai Chi: Damit schützt man sich vor Stürzen und hält auch sein Hirn länger fit.